So manchen Abend hat Christian von Aden damit verbracht, auf dem Balkon zu sitzen, um die vorbeiziehenden Gondeln zu beobachten. Er erfreute sich am Anblick Verliebter, die in ihrem Tun eindeutig zu erkennen gaben, was sie sich bedeuten. Er fand es spannend, wenn mit Waren vollbeladende Gondeln gelenkig taktierten, ohne auch nur ein Teil ihrer Ladung zu verlieren. Auf manchen Gondeln ging es recht laut zu. Ausgelassene Touristen taten überschäumend fröhlich und füllten die laue Luft mit selten wohlklingendem Gesang. Nur wenige Gondoliera manövrieren ihre Gondeln ohne Fahrgäste über den Canale Grande. Schon bei nächster Gelegenheit fanden sich Fahrgäste, die die unterschiedlichsten Ziele hatten.
Wenn es Abend wurde, und die Sonne an Strahlkraft verloren hatte, begann der Zauber der Lagunenstadt. Dämmerung ließ die Stadt besonders reizvoll erscheinen. Wo immer möglich, entzündeten sich Lichtquellen, die sich zum Teil im Wasser der Lagunen spiegelten. Selbst die Gondeln, die jetzt illuminiert durch die Kanäle fuhren, zogen Lichtstreifen hinter sich und ließen glauben, dass Venedig ein einziges Meer von Lichtern ist.
Das Wasser der Kanäle war in in ständiger Bewegung. Gleichmäßig schlugen die Wellen gegen die Uferbefestigungen. Jede Welle versuchte sich gegenseitig, an Höhe zu überbieten. Und doch verloren alle, denn kaum an der Ufermauer angeschlagen, lösten sie sich wieder auf, um für die nachfolgenden Wellen Platz zu machen.
Längst gehören für Christian von Aden die Tage in Venedig der Vergangenheit an. Und doch sind sie jederzeit abrufbar. Neulich las er in einem Buch das Wort „Heimkehrhunger“. Der Text, den er las, hatte so gar nichts mit Italien und Venedig zu tun, und dennoch verbannt er dieses Wort mit Venedig. Ja, er hatte Heimkehrhunger nach seinem Venedig. Jetzt, im November, wo es um ihn herum kalt, grau und düster war, sehnte er sich nach Paste und Wein und spürte in seiner Nase den Duft von Orangenblüten. Er hörte italienische Musik und träumte sich auf die Rialtobrücke und auf den Markusplatz.
Christian von Aden befällt eine nicht gewollte Traurigkeit und gleichzeitig eine ungebändigte Sehnsucht nach seinem Venedig. Er weiß, dass er wieder hinfahren wird. Er wird wieder auf dem Balkon sitzen und all dem Treiben zusehen, das ihm so gut tut. Er weiß, dass er seinen Heimkehrhunger stillen wird. Nicht heute, nicht morgen, aber bald.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.10.2013.
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