Sieglinde Jörg

Der Lurch und das Mäuschen - Liebe im 21. Jahrhundert

Da stand sie nun vor diesem recht hohen alten Gebäude mit blauen Fensterläden aus Holz, Attrappen, die das alte Gemäuer dekorierten. S-förmig führte die Treppe hinauf zur schweren Holztür. Sie zog an der Glocke und lauschte dem hellen Klang. Ein lurchähnliches, sehr groß gewachsenes Wesen öffnete und ließ sie ein.

Mit Überschreiten der Schwelle entschwand sie der modernen Welt. Marokkanisches Licht empfing sie und ein Hund. Sie folgte dem lurchähnlichen Wesen in die Küche. Dieser Mann war bedrohlich groß und hatte langes Haar. Seine Augen blickten in verschiedene Richtungen. Der Kaffeeautomat ratterte und spuckte dezenten Kaffeeduft aus – ein moderner Alien in marokkanischem Ambiente.

Ihr wurde eine rote Tontasse gereicht, die sogleich ihre Handflächen wärmte. Sie nahm auf einem kleinen Ledersesselchen Platz, ihre langen Finger um die Tasse gewickelt. Ein Ofen verbreitete eine angenehme Wärme. Sie musterten sich heimlich. Man unterhielt sich. Zwei fremde Welten trafen vorsichtig aufeinander. Sie war sehr klein, nicht mager, aber auch nicht dick. Ihre Jeans hatte Löcher, seine Lederhose war rot. Das Mäuschen und der Lurch. Im Hintergrund ein dunkel-zartes Quietschen. Rennmäuschen flitzten in einem Rad. Geschäftiges Treiben im Mäuseaquarium. Der Lurch gefiel ihr – irgendwie. Aber sie hatte auch Angst. Später dann Lust auf der Ledercouch. Warmes, weiches Ambiente und viel Zeit. Leider schaute auch die Echse zu. Eine rot-gelbe Lampe mit Augen. Das Bordell der etwas anderen Art.

So beginnen Beziehungen in der heutigen Zeit. Ein Treffen nach langem und intensivem Emailkontakt, nach anregenden Telefonaten. Der Morgen danach recht nüchtern. Ein Emotionsdefizit. Die schwarz-geschwungenen Kerzenständer schaute beim Frühstücken zu. Sie stellte sich vor, das alles würde lebendig. Die Geckos aus dem marokkanischen Beleuchtungsleder hüpften von der Decke herab und schossen wie kleine Torpedos auf dem Fußboden entlang und krochen in Schuhe. Die Echse machte sich am Laptop zu schaffen. Sie hatte die erotische Nacht gefilmt und lud nun alles auf youtube hoch. Gegen ein Sümmchen würde sie verhandeln, zischelte sie und spuckte dabei kleine Tröpfchen auf den Tisch. Der Lurch riss das Mäuschen aus ihren fantastischen Gedanken. Die Marmelade sei selbst gemacht.

Sie aß sowieso nur Käse – leider musste sie mit Tilsiter vorlieb nehmen, es gab keinen Gouda. Überhaupt erklärte er viel. Er dozierte über Alltägliches. Sie wurde mit Daten und Informationen gefüttert. Sie hätte lieber eine liebevolle Umarmung gehabt. Lieber hätte sie Liebe gespürt und eine neue Nähe. Den Beginn der Geborgenheit. Später kamen die Kinder. Die Tochter hatte eine Freundin mitgebracht. Das Mäuschen wurde durchsichtig. Er hatte nur noch Augen für die junge Schönheit. Natürlich verleugnete er das. In diesem Punkt kann kaum ein Mann lügen. Wir Frauen spüren das. Sie merken, die Erzählerin wird parteiisch. Das soll so nicht sein. Aber wenn zwei Augen, die in verschiedene Richtungen schauen, sich plötzlich auf wundersame Weise einig werden, dann ist das schon bemerkenswert.

Sie verließ diese seltsame Welt und empfing ihn einige Zeit später in ihrer Welt, einer Welt, die auf ganz andere Art exotisch war oder schlichtweg wenig normal. Von außen ein schön anzusehendes Haus mit ansprechenden Holzfensterläden in gelb, mit Blümchen verziert, fast kitschig. Die Haustür modern, doch das trügt. Schon im Flur empfing ihn eine abgenutzte Holztreppe, die sehr knarzte. Dazu ein gelbes Geländer, bemaltes Holz, die Pinselstriche sichtbar. Solche Kleiderhaken, wie er sie hier vorfand, hatte er schon als kleiner Junge im Kindergarten gehasst, grün und dickes Plastik. Schwupps fand er sich in einer kleinen roten Küche wieder. Kaum Platz für seinen riesigen Körper. Es gab keinen Flur. Alle Räume grenzten direkt aneinander, verwinkelt und klein. Das Mäuschen reichte ihm Speisen. Der Lurch aß artig auf. Man vergnügte sich später im Dachzimmerchen, umringt von Hasen und anderem Nagegetier. Sie lebte zurückgezogen. Auch wegen des Hundes. Er mochte keinen Besuch, wurde zu einer kleinen Bestie, sobald fremde Füße sein Reich betraten. Das war ein wenig lästig, mitunter unangenehm. Der Mond schien ungeniert durchs Dachfenster hinein. Der Lurch fragte sich am nächsten Tag, weshalb ihm das Mäuschen ihre Freunde nicht vorstellte und fuhr wieder nach Hause.

So traf man sich hier und da. Eines Abends, sie kam recht spät und auch sehr müde in der Welt der grauen Eminenz Lurch an, da eröffnete er ihr, sie seien eingeladen. Eine Party unweit seines Heims. Vergeblich hatte sie von trauter Zweisamkeit auf der Sofalandschaft geträumt. Er schleifte sie mit. Mit müden Augen begrüßte das Mäuschen in schwarz-blauem Gewand die Gesellschaft. Sie fühlte sich wohl dort, aber kämpfte gegen den Schlaf. Stimmen so laut und so fröhlich, Alkoholenergie. Er fummelte an ihr herum. Sie wurde zornig und unterhielt sich mit dem geheimnisvollen Schweizer in schwarz. Doch sie bemerkte, dass dieser sie belog, nur um ihrzu gefallen. Es wurde spät. Sie schlief auf einer Holzbank ein. Alternative Musik begleitete sie. Ihr träumte, er tröste das schöne Schneewittchen. Ihr träumte auch, sie werde umsorgt von dem netten Dicken. Er hatte Augen so blau wie das Meer. In seinen Armen lag die Geborgenheit, nach der sie sich so sehnte. Langsam erwachte sie. Der Dicke saß da, hatte sie in eine weiche Decke gehüllt und aufgepasst, dass sie nicht vom Bänkchen fiel. Seine hässliche Frau rief nach ihm. Er überhörte sie. Er hatte sich so sehr verliebt. Sie setzte sich auf. Er lächelte lieb. Sie sah so zerzaust aus, wie ein Kind so naiv. Er brachte ihr einen Kaffee und sie unterhielten sich leise. Der Lurch küsste gerade das Schneewittchen, aber das sah sie nicht, weil diese Zuwendung im Nebenraum zu beobachten war. Schneewittchen war ein Vamp. Sie verschlang den Lurch, dass dieser nicht wusste, wie ihm geschah. Indessen das Mäuschen ins blaue Meer eintauchte und ihn völlig vergaß. In den frühen Morgenstunden musste man Abschied nehmen. Das Mäuschen saß mit dem Lurch in ihrem Wagen – der Hund fühlte sich im Schlaf gestört und grunzte wie ein Schwein. Sie kutschierte sich und den Lurch in sein Heim. Man schlief noch ein paar Stündchen, bis die helle Glocke Besuch ankündigte.

Es war der Nachbar, der gern auf einen Kaffee herein sah. Sie umarmte ihn zart. Sie liebte sein Wesen. Man sprach so dies und das, man ironisierte und amüsierte sich über die Welt. Der Lurch ging zum Bäcker und hatte gleich Dienst. So allein trat zwischen dem interessanten Besuch und dem Mäuschen ein Emotiönchen hervor.


Vom Emotiönchen

 

Du hast...

 

Mein Herz gewonnen

Meinen Geist erregt

Mein Innerstes bebt -

Ein Emotiönchen lebt

 

Es sind die zarten Funken

Von Liebe noch nicht trunken

Humor mit schwarzer Lunge

Beißt auf zarter Zunge

 

Weiche Verletzlichkeit

Im Mantel der

Unverschämtheit.

Sind wir bereit?

 

Der Geist so eilt

Die Hand bleibt

unbewegt

Ein Emotiönchen

lebt

 

Du bist...

 

Ein König meiner Seele

Bitte bleibe bei mir -

Bleib auf dieser Erde.

 

Schließlich ging er. Leise überließen sie einander ihrem Leben. Das Mäuschen träumte durch die Morgenstunden. Nebenher machte sie ein wenig den Haushalt, räumte auf und fegte. Draußen ländliche Geräusche. Ein alter Traktor kämpfte sich die Straße hinauf. Ein Hund jagte eine Katze. Sie blickte zum Fenster hinaus. Sie sah auf Griechenland. Griechenland – das war für sie das Haus des Nachbarn. Eine schöne Fassade, innen nie fertig. Seine Seele fand auch selten Ruhe. Er war ein so feiner Mensch. Das Mäuschen ging endlich mit dem Hund spazieren und fuhr dann nach Hause. 

In ihr lebte das Emotiönchen. Es begleitete sie. Es inspirierte sie. Es erfüllte sie mit zarten Herzensregungen. Das Mäuschen und der Lurch telefonierten viel. Da gab es durchaus etwas zu lachen und er brachte sogar die ein oder andere Saite in ihr zum Schwingen, aber da schwang auch Angst mit. Beim Dicken würde sie mehr Liebe erfahren, aber auch mehr Langeweile. Der Nachbar, der ihr das Emotiönchen mit auf den Weg gegeben hatte, liebte längst südländisch. Die emotionslose Zuwendung des Lurchs war es, die sie hielt. Er schien so beständig und so geduldig. Er behielt so gern, was er besaß. Das Mäuschen lebte im Emotionsdefizit des 21. Jahrhunderts. Ihre Träume und die Gefühlsduselei, die sich bisweilen in ihr breit machte, hatte sie noch aus dem vorangegangen Jahrhundert mitgebracht. Es galt, sie abzulegen und sich anzupassen.

 

(Ende)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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