Jürgen Berndt-Lüders

Das Interview

 Als ich mich eben an die Schlange der Supermarkt-Kasse stellen wollte, fiel mein Blick auf das Weinregal. Wer weiß, was mich daran reizte, jedenfalls blieb ich stehen und nahm eine Flasche heraus. Das Etikett sagte mir gar nichts, aber ich packte den Wein in den Einkaufswagen.
 
„Das ist der teuerste, den wir haben“, meinte die Kassiererin und zog sie über den Scanner. „Achtundvierzig sechzig. Einen auserlesenen Geschmack haben Sie.“
 
Ich zahlte, schüttelte den Kopf über mich und machte mich auf den Heimweg.
 
Als ich die Tür aufschloss, bemerkte ich sofort die Anwesenheit einer Frau. Meine Wohnung roch einfach anders, die Luft bewegte sich und ein Schauer von Ewigkeit überlief mich. Da saß sie auch schon in meinem Lieblingssessel. Sie streckte die Hand aus.
 
„Wer sind Sie denn?“, fragte ich die zeitlos schöne Frau mit den geschwungenen Augenbrauen und dem herzförmigen Mund.
 
„Geben Sie mal den Wein“, sagte sie und schnippste mit den Fingern. Verwundert reichte ich die Flasche rüber. Sie betrachtete das Etikett, nickte, öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr zwei teuer aussehende Wein-Kristallgläser. Sie zog mit den Fingern am Korken und goss ein.
 
„Woher wissen Sie...“
 
Sie unterbrach. „Bei einem Gläschen Wein plaudert es sich doch viel besser“, behauptete sie. „Na dann, auf Ihr Wohl.“ Sie prostete mir zu.
 
Verblüfft setzte ich mich und nahm mein Glas. „Wenn ich jetzt wissen dürfte...“
 
Wieder ließ sie mich nicht ausreden. „Sie wurden für ein Interview ausgewählt.“ Sie nahm einen Schluck, und irgendwie fühlte ich mich veranlasst, auch einen zu nehmen.
 
„Weshalb denn? Und von wem wurde ich ausgewählt?“
 
Ich nahm noch einen Schluck. Der Wein bekam  mir ausgezeichnet. War ja auch der teuerste gewesen.
 
„Nun, Sie sind der Billionste“, sagte sie. „Wir brauchen Ihre Meinung.“
 
Ich staunte. „Der Billionste? Wir sind doch insgesamt nur knapp siebeneinhalb Milliarden.“
 
„Später“, sagte sie. „Wir brauchen Ihre Meinung zu den Menschen.“
 
„Meine Meinung zu den Menschen? Warum ausgerechnet meine?“
 
„Weil wir immer Stichproben ziehen. Wir hatten den Millionsten, den Milliardsten und jetzt Sie, den Billionsten.“
 
Sie trank noch einen Schluck, und ihr Blick forderte mich auf, auszutrinken und nachzuschenken. Ich trank aus, schenkte nach, aber die Flasche wurde nicht leerer.
 
„Meine Meinung über die Menschen? Da muss ich erst mal nachdenken.“
 
„Denken Sie in Ruhe nach. Ich komme wieder.“
 
Es zischte, es rauschte, und ich stand wieder vor der Tür, schloss auf, meine Wohnung roch wie immer und ich packte meine Einkäufe auf den Küchentisch.
 
Weshalb hatte ich nur den Wein gekauft? Ich trank doch so gut wie nie Alkohol...
 
Die Erinnerung an das Geschehene war weg, einfach weg. Ich stellte den Wein auf den Küchentisch und packte meine Einkäufe in den Kühlschrank.
 
Mein Blick fiel auf die Tageszeitung. Die Schlagzeile sagte etwas über die Meinung der meisten Bürger über die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens in die EU aus. Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur so menschenfeindlich sein und diese Leute fast ausschließlich für Sozialparasiten halten? Ich war ursprünglich auch nicht von hier und war schließlich auch kein Parasit.
 
An die Menschen an sich dachte ich also, ohne dass mir bewusst wurde, dass mich die Interviewerin an meinem  Wohnzimmertisch genau zu diesem Thema um meine Meinung gebeten hatte. Ich erinnerte mich im Moment nicht einmal daran, dass sie überhaupt bei mir gewesen war.
 
Die Menschen sind merkwürdige Wesen, dachte ich. Jeder ist eine Welt für sich. Es gibt jeweils die eigene Person und die anderen. Man selber hat recht, und dann gibt es welche, die ebenso denken wie man selbst, und die haben auch recht. Allen Anderen sollte man mit Vorsicht begegnen.
 
Ich bin der einzige, der nicht so ist, dachte ich. Toll, dass ich anders bin.
 
Ich nahm die Zeitung und zog mich damit in das Wohnzimmer zurück. Auf meinem Lieblingssessel saß diese Frau, an die ich mich jetzt wieder erinnerte.
 
„Haben Sie nachgedacht?“, fragte sie.
 
Ich lachte. „Ich denke immer nach“, sagte ich.
 
„Ich meine über die Menschen. Würden Sie bitte den Wein holen?“
 
Ich holte den Wein. Der Korken war bereits gezogen, aber die Flasche war wieder voll. Sie schenkte ein und prostete mir zu.
 
„Warum trinken Sie diesen Wein so gern?“ fragte ich.
 
„In Vino Veritas, im Wein steckt Wahrheit, das sagte schon der Millionste, den ich interviewt habe. Das war ein Römer, und seitdem stelle ich den Probanden, die ich interviewen will, eine Flasche ins Weinregal, damit sie mir die Wahrheit sagen.“
 
„Ach, Ihretwegen habe ich den gekauft. Ich habe mich schon gewundert, weshalb ich Wein kaufe.“
 
„Und was halten Sie nun von den Menschen?“
 
Ich überlegte. Was hatte ich eben gedacht, als ich die Überschrift der Zeitung gelesen hatte?
 
„Es gibt mich und es gibt andere Menschen“, sagte ich. „Viele denken und handeln wie ich, das sind die guten, mit denen ich umgehen möchte. Und dann gibt es die anderen, die anders denken.“
 
Wir tranken noch ein Glas des guten Weines, aber der wurde immer noch nicht weniger.
 
„Das hat der Millionste und der Milliardste auch geantwortet“, stellte sie fest. „Und Sie als der Billionste sagen das auch. Dann haben wir uns verplant.“
 
„Wer ist ‚wir’, fragte ich zum zweiten Male.
 
Bei ihrem ersten Besuch hatte ich das auch schon gefragt. Diesmal antwortete sie mir.
 
„Wir, das sind die Planer des Universums, der Galaxien, der Sterne mit ihren Planeten und jedes einzelnen Atoms.“
 
„Also Gott?“
 
Ihre Augen schauten in die Ferne. „Gott, Allah, die Evolution, das ist doch egal. Wir prüfen in regelmäßigen Abständen, ob sich unsere Planung verwirklicht hat.“
 
„Und was hatten Sie geplant?“
 
Sie stand auf und stöpselte die Flasche zu. „Ihnen das zu erläutern ist nicht Gegenstand meiner Aufgabe. Ich habe Ihre Antwort und das reicht mir.“
 
„Und welche Konsequenzen hat Ihre Erkenntnis für uns Menschen, dass Sie sich verplant haben?“
 
„Wenn ich Ihnen das sagen würde, könnten Sie und andere Menschen die Umsetzung unserer Beschlüsse manipulieren, und das wollen wir natürlich nicht.“
 
Jetzt wurde mir Einiges klar. „Und deshalb konnte ich mich auch nicht an unser erstes Gespräch erinnern. Ich hätte die falschen Schlussfolgerungen gezogen und Ihnen nicht meine wirkliche Meinung über die Menschen gesagt.“
 
„Nein, Sie hätten gedacht, dass ich Ihnen etwas verkaufen will.“
 
„Stimmt“, stellte ich fest. „Es gibt die Guten, die so sind wie ich, und wir Guten wollen den anderen, nicht so guten unser Gutes verkaufen, und die uns natürlich auch, was wir nicht wollen.“
 
„Ganz genau. Ich glaube, dass Sie lernfähig sind. Vielleicht interviewe ich Sie noch einmal als den Billiardsten.“
 
Sie wollte gehen. Ich stellte mich vor die Tür. „Haltstop“, rief ich. „Erst sagen Sie mir, wie Sie das errechnen. Es gab den Millionsten, den Milliardsten, ich bin der Billionste...“
 
Sie sah mich mitleidig an. „Sie können doch rechnen. Wieviele Menschen leben auf der Erde? Wieviele haben früher gelebt und wie viele werden später leben?“
 
„Achso“, rief ich langgedehnt. „Und alle müssen sterben. Ich bin also das billionste, menschliche Individuum, das sterben wird.“
 
„Ja, und vielleicht auch das billiardste. Bis später mal.“
 
Ich schüttete den Wein in den Ausguss. So lange würde der sich nicht halten. Und ich begann zu rechnen. Ich rechne immer noch...
 

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