Tilly Boesche-Zacharow

DIE WELT DES MOSHE TRUBNER

Der kleine Laden, der sich im Erdgeschoß des einzigen rot verputzten  Hauses der ganzen Josefstraße am Fuß des Carmel in Haifa, Israel etabliert hat, gehört MOSHE. Er ist der hier werkelnde Buchbinder und außerdem mein Freund. Beides gehört zusammen. Über die Welt der Bücher haben wir uns gefunden. Die Gesamtfläche des Minilädchens beträgt  großzügig geschätzt –  knappe 25 Quadratmeter.
Auf diesem Mini-Areal breitet sich eine ganze Welt aus. Die klapprig  wirkenden Regale, alle vier Wände umspannend - bis auf ein winzig ausgespartes Eingangstürchen, durch das sich etwas stattlichere Menschen nur quer hindurch zu quetschen vermögen -  tragen gleich Atlas die Last von ganz Terra X. Alte und noch viel ältere Bücher, hier sympathisch ungeordnet, dünsten eigenartige Gerüche aus, als sei ihr geschriebener Inhalt getränkt mit Ölen, Leimen und eingeschlossen von Stoff, Leder- und Pappeinbänden. Sie wirken wie Mumien. Sämtliche Genres verschiedener Literatursparten lehnen sich aneinander und stützen sich gegenseitig, gleich, welcher Sprache oder Ausstattung zugehörig.
Wissenschaft, Kunst, Unterhaltung, Belehrung - alles bietet sich vorurteilslos dem neugierig weit aufgerissenen Auge eines solchen Anblickes unvorbereitet Eintretenden.
 Englisch, russisch, deutsch, hebräisch, auch das französische Idiom ist vorhanden. Die Präsenz einer gewaltlosen Konkurrenz ist ohne Absicht. Fast gleichmäßig geschunden und zerfleddert bieten die Bände ihren Inhalt förmlich stolz - und vom eigenen Wert überzeugt - selbst kalten, mitleidlosen und darum als naiv erkannten Ignoranten, die - von leisem Grauen geschüttelt - vorbeidefilieren und  doch ohne die geringste Ahnung all der verborgenen  und doch so nahegelegenen Schätze zwischen jeweils zwei Deckeln sind.
Die Scharen der in den letzten Jahrzehnten ins Land eingeströmten ´oläh hadasch´ (Neueinwanderern), haben noch mitunter eigene Bibliotheksbestände mitzubringen vermocht. Mit der fortschreitenden Integration, bei der die Landessprache eine große Rolle spielt, ebben Aufrechterhaltung und Qualitätsansprüche ehemaliger Tradition  ab; die Vergangenheit gibt  mit den aussterbenden Generationen ihren Absolutanspruch  auf, gleitet in Gegenwart und Zukunft hinein. Vater hat noch die ehemalige Sprache gesprochen, seine Kinder mischen das neue Idiom hinein, und  was die ganz Alten sungen, verstehn schon nicht mehr die ganz Jungen. Großväterchen liegt auf dem letzten Acker, seine Bücher (keiner kann sie mehr lesen!) auf der Straße, die tägliche Müllabfuhr voll Stoizismus erwartend.
Aber manchmal stockt vorher noch  einem Spaziergänger, Touristen oder noch lebenden Jecke der Schritt. Mein Sohn war sein junges  Leben lang unerschöpflich im keuchenden Herangeschleppe solch großartiger Fundstücke. Seit es ihn nicht mehr gibt, habe ich zwei Antriebsmomente, es ihm gleichzutun. Einmal meine eigene Liebe zu Büchern, zum anderen schubst mich mein Avi mitunter an: „Ima, guck mal, da ist wieder was aus irgendeiner Wohnung rausgeflogen. Ist das nicht….?“
Oh ja, meist ist es das!!! Wie kann ich das aber nun  liegen lassen, damit es  auf die Verbrennungsanlage wartet? Ist nicht genug Rauch aufgestiegen? Und - wo man Bücher verbrennt…!!!
Ganz sacht klaube ich das oder sogar die zerfledderten Bücher aus Müll und Unrat heraus, suche schon vom Wind verwehte Seiten zusammen, stopfe sie - gleich aus dem Nest der Zaunkönige herausgefallene Vögelchen – behutsam in mein deutsches Leinentäschchen.   
So ließ Moshe sich von mir finden, als ich auf der Suche nach einer Bucharztpraxis war.
Was ich aus uralten Archiven und Antiquariaten, mitunter in Müllhaufen auf der Straße aufstöbere und mehr oder weniger zerfetzt nach Hause schleppe, weil es mir dieser oder jener Autor angetan hat, wird von mir daraufhin eingehend beäugt, ob ich vielleicht selber noch einiges von dem Desaster hinkriege oder ob ich mich doch lieber gleich dem professionellen Bücherdoktor anvertrauen soll.
Seit über zehn Jahren besteht nun schon diese anfangs rein „geschäftliche“, inzwischen  freundschaftlich gewachsene Verbindung zwischen Moshe und mir, einer Büchernärrin. Als ich das zweitemal bei ihm auftauchte, beladen mit Buchpaketen, die traurig genug wirkten, um  normalerweise schon zum Ausschuss bestimmt zu sein, lachten mir seine großen, braunen Augen unter dem schwarzen Lockenschopf mit ersten Silberfäden entgegen.
„Schön, dich wiederzusehen. Warst lange nicht da. Hab manchmal an dich gedacht. Geht´s dir gut? Zeig her, was  hast du  mitgebracht?!“
Ich antworte: „War ein halbes Jahr in Deutschland. Hatte  große Sehnsucht nach Haifa. Schön, wieder hier zu sein. Guck mal, ich bring dir Arbeit. Es ist viel dran zu tun, aber du schaffst das schon,  ich bin mir sicher. Du wirst diese armen, geschundenen Bücherlumpazis samariterhaft aufbereiten. Dann werden sie die Schmuckstücke meiner Bibliothek sein.“
Seine Hände befühlen die zerfetzten Blätter auf insgeheim erhoffte Stabilität. Dabei spüren die sich blähenden Nüstern seiner nicht unbeachtlichen Nase den eigenartigen Hauch schon längst trocken verrieselten Bücherleims wissbegierig auf.
Er grinst breit, ich höre ihn sprechen.  „Dann wollen wir mal die Schönheitsoperationen an unseren VIP´s  vornehmen.“
Die demolierten Patienten bleiben auf der Beautyfarm bei Doc Moshe und werden gut betreut, bis ich sie wieder  -  rund zwei Wochen später -  abholen kann. Sie alle scheinen einem Jungbrunnen entstiegen zu sein und schmiegen sich zärtlich in meine Hände. Der zauberkundige Moshe hat ihnen das Leben gerettet und mir neue literarische Freuden verschafft. Getauchte, geklebte, verspachtelte Seiten, aufgeputschte Bilder, Dichter sprechen mit gekräftigten Worten zu mir. Wie er das macht? Keine Ahnung, ich freue mich nur, beglückt ob des großartigen Resultates. Er ist ein Zauberer für die kranken Bücher.
Nun soll man sich nicht etwa vorstellen, die Gespräche zwischen Moshe und mir trügen sich einfach so zu, wie hier beschrieben. Meinen Buchbinder schwemmte die große russische Aliya-Welle Anfang der neunziger Jahre im vorigen Jahrhundert nach Erez Israel. Seine Muttersprache ist Russisch, aber da es ihm um eine schnelle und gute Qualifikation seiner Einbürgerung ging, lernte er das moderne Iwrith. Damit und mit den Rudimenten des  in der Vergangenheit daheim gebräuchlichen Jiddisch gelang ihm ein recht guter Start. Dabei beließ er es auch, in linguistischer Hinsicht.
Und -  ich verstehe Russisch  ebenso gut wie Famagustanisch, und mit den drei hebräischen Vokabeln (- ich weiß, ich weiß….., aber ich bin kein Sprachtalent und gerade hier in Israel wurde mir klar, dass es viele solcher Subjekte wie mich gibt!) kann ich mich gerade durchschlagen, was  den Alltag anbelangt (ähnlich mir aus dem eigenen  Einwandererland Germany gut bekannt: „Du haben Milch? - Ich wollen  deutsche Zeitung! - Du mir helfen?“), doch niemals eine gepflegte Unterhaltung führen, geschweige denn meine akuten Anliegen akkurat verdeutlichen, um mir infolgedessen eine technisch einwandfreie Ausführung  des Auftrages selbst zu gewährleisten.
Aber ich habe gelernt, dass man mit manchen Menschen auch anders kommunizieren kann. Ich habe schließlich Augen, die sehen, dass Mosche sich über meine Rückkehr freut. Er strahlt, streckt mir die Hände entgegen. Er hebt bei der Frage nach meinem Wohlergehen die buschigen Brauen. Dann nimmt er mir das Bücherpaket ab und sieht den Inhalt durch, grunzt ein bisschen,  brummt, streichelt den Einband, lacht, als er ein Bild entdeckt und sagt -  mir sehr verständlich - : „Ahhh – Ta-go-re!“
Ich sage lächelnd: „Mutter, der schöne Prinz kommt vorbei…!“
Moshe nickt einverstanden, und ich bin sicher,  er weiß genau, wovon ich rede.
Mein Gehör nimmt nur seine Stimme auf. Ihr Tonfall unterstreicht, was seine Mimik, seine Gestik zusätzlich auf den Weg zu mir bringt. Wozu sonst hat der Mensch das Mienenspiel bekommen, das zum Spiegelbild der Gedanken wird, ohne überhaupt akustisch  werden zu müssen? Es kommt nur auf den richtigen Einsatz an. Der ganze Körper vermag das auszudrücken.
Zusammengeschlagene Hände üben von alters her ihre Wirkung aus. Sie vermitteln Überraschung, Schrecken, Unvorhergesehenes, stellen Fragen, fordern Antwort. Wie wunderbar, Partner zu finden, die sich auf diese Verständigungsart verstehen.
Während eines meiner Flüge von Tel Aviv nach Europa saß ich mit einem Schwarm russischer, Israel einen Besuch abstattender Reisender zusammen. Ich verstand kein einziges Wort und kannte doch nach 3 stündigem Beisammensein die ganze Lebensgeschichte meines Nachbarn, wusste von einer  Frau, seinen drei Kindern,  über seine häusliche Umgebung und bekam sogar Einblick in seine Gefühlswelt. Zwischen uns flatterten die wild und recht kindlich bemalten Zettelchen mit Herzchen, Häuschen, Blumen, Strichmännchen und allgemein bekannten Symbolen hin und her. Es gab keine Grenzen und keine Barrieren zwischen zwei Menschen aus völlig verschiedenen Teilen der Welt.
In Moshe ist mir wieder so ein Mensch begegnet. Wir sehen uns gemeinsam Bücher an, bestaunen Bilder, geben Zustimmung oder bekunden Abwehr durch Kopfschütteln bzw. –nicken. Durch vorgeschobene Handflächen von sich fort weist  man etwas von sich, die Hand auf das Herz drückend, zeigt man seine Anrührung, sein Entzücken, große Sympathie. Wir sprechen oft beide nicht die Sprache, in der wir ein Buch ansehen, befinden uns also in ähnlicher Position zum Objekt unseres gemeinsamen Interesses und haben – vielleicht gerade dadurch – besondere Möglichkeiten, uns miteinander auszutauschen, ob man dafür oder doch eher kritisch eingestellt bleibt. Es bieten sich mehr positive als negative Gegebenheiten. Man vermag sich nicht im letzten Detail um etwas zu streiten, wenn es von beiden Seiten nur angepeilt, doch nicht bis ins Letzte erfasst werden kann. Die vorhandenen Möglichkeiten zwingen einem eine gewisse Sparsamkeit der Emotionen auf, die so häufig  aufgebauscht durch immer neue Worte und immer neue Verirrungen zum Negativen führen und Zwist, ja, sogar Feindschaft hervorzurufen imstande sind. Wie oft ergibt sich gerade bei den die gleiche Sprache sprechenden Menschen keine Verständigung!
Die großen Versammlungen, gerade Treffen um den runden Tisch sind das beste Beispiel dafür, wie wenig gemeinsame Nenner sich häufig trotz aller Bereitschaft finden lassen, wenn man sich z.B. an einem „Gedankenstrich“ - mitunter völlig überflüssig -  entzünden kann und stundenlange Diskussionen entbrennen lässt, bis sie in Handgreiflichkeiten übergehen, um letztendlich in kriegerische Feindseligkeit auszuarten und alles davonrennt, ohne dass sich ein positives Ergebnis gezeitigt hätte. Nach außen hin wird es dann lax deklariert als „leider keine befriedigende Übereinstimmung gefunden“.
Wie ist es möglich, sich trotz der gleichen Sprache nicht zu verstehen?
Zuviel reden schadet ebenso viel, wie die völlige Abwehr eines Gespräches. Aber wer nach Worten, bestimmten Attributen des Begreiflichmachens sucht, bedient sich dadurch der Zeit zum Nachdenken und erhält Möglichkeiten, beim anderen – im wahrsten Sinn des Wortes – irgendwie doch positiv anzukommen.
Und – wo man ankommt, ist man an einem Ziel; an einem Ziel gefällt es einem mitunter so sehr, dass man gern und lange dort bleibt.
So liebe ich es, bei meinem Freund Moshe einzukehren, in dem einzigen farbigen Haus in der Josefstreet, wo auf 25 qm die große weite Welt es sich in ein paar wurmstichigen Regalen gemütlich gemacht hat und außerordentlich gut miteinander auskommt und harmoniert.
Ja, nur  - Bücher sind schweigende Objekte!  Im Gegensatz zum geschwätzigen Menschen! Darum werde ich jetzt auch ganz still!!!
                                                                                      <><><>
                                                                     
am 4. Juni 2010 in Haifa, Israel : Report
                                                                                                
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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