Als sich Nachbarn noch miteinander vertrugen und nicht wegen Kleinigkeiten zerstritten und die Schädel einschlugen, muss das zu einer Zeit gewesen sein, an die sich heute niemand mehr erinnert. Ja, selbst Historiker, danach befragt, finden in ihren Chroniken keine Hinweise auf eine solche Epoche. Aber es muss sie gegeben haben, denn hört man den Alten zu, dann war es früher besser. Aber früher war ja alles besser, und so weiss man eben nichts Verlässliches darüber.
Man könnte sich dem Thema empirisch nähern, also Erfahrungen und Beobachtungen von Menschen zusammentragen. Aber auch das brächte keine gesicherten Erkenntnisse, denn wir könnten die überlieferten Berichte nicht überprüfen. Und vor allem wüssten wir nicht, zu welcher Gruppe die Erzähler gehörten. Sie müssten das Ereignis als Neutrale beobachtet haben, sonst hülfe es nichts. Keinesfalls dürften sie selbst je in einen Streit mit einem Nachbarn verwickelt gewesen sein.
Da haben wir das Dilemma! Eine Überlieferung soll jedoch exemplarisch verdeutlichen, was gemeint ist.
Der Herr Medizinalrat Bremer , wie ihn die Leute im Dorf respektvoll nannten, wurde wieder einmal eines Sonntags, früh am Morgen, aus dem Schlaf gerissen. Es waren nicht die vermaledeiten Glocken des sechs Uhr Läutens gewesen, denn diese würden ihr Unwesen erst in einer guten Stunde beginnen. Es war der markerschütternde Schrei eines Federviehs, das zum Hof des Beinhartingers gehörte. Zu allem Überfluss schrie es nicht nur einmal. Es könnte sogar sein, dass es mehrere dieser Ungetüme am Hof gab.
Jetzt reicht es, stöhnte der Medizinalrat, stand auf, und notierte alles gewissenhaft auf einen Bogen Papier. Seine Frau indessen schien nichts davon mitbekommen zu haben, denn tiefe Atemzüge kündeten von einem festen Schlaf. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass der werte Herr Gemahl das Licht angeknipst hatte. Auch aus dem Zimmer der Tochter und dem des Sohnes war kein Laut zu vernehmen. Der Medizinalrat wusste nicht, was ihn mehr erboste. Das Geschrei des Viehs oder die Unbekümmertheit seiner Familie. Hatte er nicht einen Anspruch auf etwas Anteilnahme? Aber, so war es halt. Sie lebten ein schönes Leben und er musste stets alles Ungemach aus der Welt schaffen.
An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Also zog er sich an und stapfte hinüber zum Hof. Was er hier wollte, war ihm nicht so ganz klar, aber es würde sich ergeben. Im Kuhstall war schon Betrieb, und er sah, wie der Beinhartinger mit einer großen Gabel die Standflächen der Kühe ausmistete. Vorsichtig schritt der Medizinalrat auf den Beinhartinger zu. Ja, guten Morgen Herr Medizinalrat, sind’s aber schon früh auf den Beinen. Woll’ns vielleicht gar mithelfen? Ein Blick auf das Schuhwerk des frühen Besuchers beantwortete diese Frage von selbst.
Der Medizinalrat empfand die Äußerungen Beinhartingers als reine Provokation. Aber er riss sich zusammen und überging dessen Anmerkung. Ich bin hier, sagte er, weil bei diesem Lärm kein Mensch schlafen kann, und ich Sie deshalb bitten muss, Vorsorge zu treffen, dass Ihre Hähne die Leute nicht zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett reissen. Der Beinhartinger schaute verdutzt und sagte nach einer Weile: Ich kann dem Vieh ja schlecht die Schnäbel zubinden, nicht wahr? Und bei uns hier auf dem Land, da haben die Hähne schon geschrien, da waren Sie noch gar nicht auf der Welt. Und so wird es auch immerzu bleiben.
Das wird es nicht, da können Sie Gift darauf nehmen. Der Medizinalrat war ob der Äußerung Beinhartingers erbost. Was erlaubte sich dieser Mensch, dacht er, und sann nach Sanktionen. Diese Respektlosigkeit konnte nicht ohne Folgen bleiben.
Der Tag ging so dahin, als Beinhartinger nachmittags gegen vier Uhr die Scheune betrat, um Futter für die Hühner zu holen, das er dort aufbewahrte. Sein Schritt stockte. Jemand hatte auf die Futtertonnen mit einem Filzstift riesige Totenköpfe gemalt und darunter geschrieben: Tod dem Federvieh!
Das konnte nur einer gewesen sein, schoss es Beinhartinger durch den Kopf – der Medizinalrat! Na warte, brummte er.
Und so kam es, dass der Medizinalrat am nächsten Morgen seinen Wagen nicht starten konnte. Nach langen Mühen fand er die Ursache für das Versagen heraus. Jemand hatte rohe Kartoffeln in den Auspuff gestopft. Selbstverständlich kam nur einer infrage, der es gewesen sein konnte – der Beinhartinger. Das wirst du mir büßen, murmelte der Medizinalrat.
Abends, nach getaner Arbeit, gönnte sich der Beinhartinger gerne noch ein Bier. Es schmeckte ihm und verlieh zudem eine angenehme Bettschwere. Der Schnappverschluss der Flasche schnalzte zurück, und Beinhartinger wunderte sich noch, warum er dieses Mal nicht das typische, helle Pflop vernahm. Gedankenverloren setzte er die Flasche an den Mund, nahm bedächtig einen Schluck und spie das Gebräu im nächsten Moment von sich. Ekelhaft! Eine Mischung aus Bier und Rizinusöl hatte sich in seinem Mund breit gemacht. Pfui Teufel! Schnell nahm Beinhartinger eine neue Flasche zur Hand. Das gleiche Ergebnis! Alle Flaschen im Träger bargen das gleiche, üble Gesöff. Der Medizinalrat!, schoss es ihm durch den Kopf.
Das Mass war voll! Beinhartinger ging in die Stube, öffnete den Schrank mit seinen Waffen und entnahm ihm eine doppelläufige Schrotflinte. Er legte zwei Patronen in die Läufe, spannte die Hähne und stapfte hinüber zum Haus des Medizinalrates. Nach langem, festem Klopfen ging das Licht an und Schritte schlurften heran. Die Türe öffnete sich, und der Medizinalrat, schon im Schlafanzug mit einem Morgenmantel darüber, stand im hellen Schein der Dielenlampe. Da, des säufst jetzt, und zwar alles!, sagte der Beinhartinger, und drückte dem verdutzten Medizinalrat eine Flasche des scheusslichen Gesöffs in die Hand. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hob er dabei die Flinte an.
Sind Sie verrückt!, rief der Medizinalrat, mich mit einer Waffe zu bedrohen! Das wird ein Nachspiel haben! Red net, sauf!, befahl Beinhartinger. Die Flinte zeigte jetzt unmissverständlich auf den Medizinalrat, sodass diesem nichts andere übrig blieb, als den Inhalt der Flasche hinunterzuwürgen. Das werden Sie bereuen, sagte er noch, bevor er würgend auf die Toilette enteilte. Hät’st as net g’mischt, hät’st as net saufen brauchen!, rief ihm Beinhartinger noch hinterher, bevor er zufrieden zurück ging auf seinem Hof.
Am nächsten Morgen herrschte eine ungewöhnliche Ruhe. Nichts schien sich zu bewegen. Dem Beinhartinger kam das komisch vor, und er schaute nach dem Rechten. Da sah er es. Vor seinem Haus, gleich am Obstbaum, hingen sie, fein säuberlich aufgereiht – ein Hahn und drei seiner Hennen, dann wieder ein Hahn und noch einmal drei seiner Hennen.
Wutentbrannt riss der Beinhartinger die Schrotflinte aus dem Schrank und stürmte hinüber zum Medizinalrat, aber es war keiner da. Na warte, du kommst mir gerade recht!, du Preiß, du reigschmeckter!” Mit einem schweren Schlag des Gewehrkolbens öffnete er die Türe zum Haus, dann hörte man es ein paar Mal fürchterlich rumsen, gerade so, als habe Beihartinger seine Flinte abgefeuert, nachgeladen, und wieder abgedrückt.
Als der Medizinalrat später am Nachmittag zurückkehrte, sah er die Bescherung. Die schöne Standuhr, ein Erbstück, war jetzt ein von unzähligen Schrotkugeln durchsiebter Trümmerhaufen. Die Ehebetten, ein Desaster. Die fürchterliche Gewalt des Schrots hatte hatte auch hier ganze Arbeit verrichtet. Die Küche! Nichts mehr zu gebrauchen. Aus den Schrotlöchern im Kühlschrank sickerte Wasser. Und dann noch die Stube! Eine dunkle Höhle, einstmals ein Fernsehgerät einer teuren Marke, starrte dem Medizinalrat entgegen. Schrot, überall Schrot!, stammelte er. Der Mann ist verrückt!
Zwei Stunden später hatte die Polizei den Beinhartinger vom Hof abgeholt. In der Scheune indessen tummelten sich zwei Burschen und hielten sich die Bäuche vor lachen. Siehst du, ich hatte recht, du musst nur ein wenig nachhelfen, dann bringen sie sich gegenseitig um! Nicht zu fassen, sagte der andere, des hät’ ich niemals gedacht: an Filzstift, ein paar Kartoffeln, ein wenig Rizinus ins Bier, und a paar g’schlachte Hendl am Baum, mehr braucht’s gar net dazu.
Vor Gericht hatte sich dann alles aufgeklärt, ohne der Täter habhaft zu werden. Der Medizinalrat war weggezogen, und den Beinhartinger hatte es nicht besonders betrübt. Des ham’s davon, de Preiß’n, weil’s überall ihre Nasen einistecka miaß’n!, war alles, was ihm dazu einfiel.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2013.
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