Manfred Bieschke-Behm

Der Hochseilartist

 

Fernando Sartini ist seit vielen Hochseilartist im Zirkus, der den Namen „Zirkus“ trägt. Bereits vor seiner Anstellung konnte sich Fernando Sartini darüber begeistern, dass es einen Zirkus gibt, der „Zirkus“ heißt. Schlicht und einfach „Zirkus“.
 Gerne erinnert sich Fernando Sartini, der mit richtigem Namen Klaus Fürbringer heißt, an seine Begegnungen mit einem Zirkus. Immer wenn ein Zirkus in der Stadt war, zog dieser Klaus magisch an. Er konnte sich für das fahrende Volk - so nannten mache die Zirkusleute - begeistern.
Das große Zelt mit seinen bunten flatternden Fähnchen und den bunten Glühlampengirlanden. Die geheimnisvollen Tierkäfige und vor allen Dingen die bunt bemalten Zirkuswägen hatten es ihn angetan.
Wie gerne hätte er einen Blick in einen solchen Wagen getan und überhaupt, er hätte gerne einmal ausgiebig hinter die Kulissen eines Zirkus geworfen. Leider erfüllte sich sein Kindheitsraum nicht.
Seine Eltern waren der Meinung, dass der Umgang mit einem Zirkus nicht das Richtige für ihn sei und das er die Eltern mit seinem Wunsch nicht länger nerven sollte. Bei aller Ablehnung der Eltern gegenüber einem Zirkus ermöglichten sie im dennoch gelegentlich einen gemeinsamen Zirkusbesuch. Klaus war für alles, was im Zirkus passierte, zu begeistern. Aber vor allen Dingen hat ihm, und das immer wieder aus Neue, der Hochseilartist imponiert.
 Natürlich erzählte Klaus seinen Eltern nicht, dass er nach der Schule heimlich, und so oft wie möglich, eine Kinderartistenschule besuchte. Dort erlernte er die Grundbegriffe des Artistenhandwerks.
Irgendwann konnte Manfred sein Geheimnis nicht mehr geheim halten. Und so geschah es, dass seine Eltern von seinem heimlichen Tun erfuhren. Begeistert waren sie nicht. Dennoch sahen sie ein, dass der Zirkusbetrieb seine Welt zu sein schien, und beugten sich seinem Wunsch Artist zu werden. Klaus konnte sich nun endlich ganz offiziell zu einem Hochseilartisten ausbilden lassen.
Das alles ist lange her.
Längst hatten sich seine Eltern daran gewöhnt, dass ihr Sohn dem fahrenden Volk angehört und nur selten zu Hause ist. Wenn der Zirkus mit dem Namen „Zirkus“ in seiner Heimatstadt gastierte, war das für Klaus und seine Eltern immer etwas ganz Besonderes. Klaus konnte, wenn es die Umstände es zuließen, zu Hause schlafen. Zu Hause in seinem Bett schlafen. Und seit sein Vater tot ist, ist es für seine Mutter etwas ganz besonders den Sohn daheim zu wissen.
 
Die Mutter konnte auch nach all den Jahren noch immer nicht begreifen, weshalb ihr Sohn so dem Zirkusleben verfallen ist. Immer wieder will sie von ihm wissen, was denn so toll und aufregend am Zirkusleben ist.
Jedes Mal erzählt Klaus ihr aufs Neue, dass er es immer wieder aufregend findet, wenn er zum Beispiel morgens durch Löwengebrüll aufgeweckt wird. Oder, wenn er durch das Trompeten eines Elefanten aus seinem selten stattfindenden Mittagsschlaf gerissen wird.
Dass er den Manegenduft liebt und die Kostüme.  Die Musik, die Proben, das Ausprobieren neuer Showeffekte, die Aufregung und die Anspannung vor den Auftritten. Und das er all seine Kolleginnen und Kollegen, die er zum größten Teil wie Geschwister empfindet, mag.
Er liebt seinen gemütlich eingerichteten Wohnwagen, den er seit einem Jahr alleine bewohnt und er mag es immer noch durch die Lande zu ziehen, neue Städte und Menschen kennenzulernen und die Erinnerungen, die mit ihm ziehen.
Wenn er hin und wieder in seiner Heimatstadt gastierte, war es für die Eltern selbstverständlich das sie die eine oder andere Vorführungen beiwohnten. Seit seine Mutter allein lebt, ist es schwierig geworden, was das Besuchen der Vorstellungen betrifft.
Schon seit gut drei Wochen gastiert der Zirkus in seiner Heimatstadt und noch keine einzige Vorstellung hat seine Mutter besucht. Der für sie reservierte Platz bleibt bei jeder Vorstellung leer. Weil Klaus ein bisschen traurig darüber ist, spricht er darüber mit seiner Mutter. Sie versichert ihm, dass ihr fernbleiben nichts mit ihm zu tun hat, sondern mit dem Umstand, dass es den Mann, den Vater nicht mehr gibt und sie sich unter vielen Menschen einsam fühlt. Klaus zeigte Verständnis und glaubt, dass seine Mutter noch Zeit braucht, um zu begreifen, dass das Leben, anders als bisher gewohnt, auch lebenswert sein kann und weitergeht.
Die vierte und letzte Woche des Gastspiels in seiner Heimatstadt geht langsam zu Ende. Klaus hat bei allem Verständnis kaum noch Hoffnung seine Mutter in einer der letzten Vorstellungen zu sehen. Aber jetzt kurz vor seinem Auftritt darf er keine Traurigkeit aufkommen lassen. Klaus muss sich ganz auf seine Vorführung konzentrieren. Er darf sich nicht ablenken. Dazu ist seine Nummer zu gefährlich.
Längst ist Klaus in sein Auftrittskostüm geschlüpft und ist nun Fernando Sartini. Er trägt zu einer blaugrauen körpernahen Hose ein weißes langärmliges Oberteil, das faltenlos in der Hose steckt. Beide Teile sind ganz ohne Schnickschnack. Seine schwarze Fußbekleidung ist, genau wie sein gesamtes Outfit unauffällig. Früher liebte er Pailletten und Flimmer.
Heute mag er es lieber schlicht. Seine Geige, die er während seines Auftritts zum Einsatz bringen wird, passt sich in ihrer Schlichtheit dem Gesamtbild an.
Klaus alias Fernando Sartini steht hinter dem schweren roten mit Goldbordüren reichlich verzierten Vorhang, der nach dem öffnen den Weg zur Mange freigibt. Er wartet konzentriert auf seinen Einsatz.
Noch müht sich der Löwenbändiger seine Tiere dazu zu bewegen sich auf ihre Hinterläufe zu setzen. Danach sollen sie einstudiert brüllen und das Publikum in erstaunen versetzten.
Fernando Sartini weiß genau die Stelle, wo er sich unauffällig seinem Hochseil zu nähern hat. Er weiß, wann er geräuschlos nach oben zum Hochseil klettert und, das, wenn er oben angelangt ist, der Dompteur seine Löwennummer zu Ende bringt. Der Dompteur bringt es durch geschicktes Taktieren fertig, das seine Löwen – einer nach dem anderen - den Schutzkäfig, verlässt.
Gleich, nachdem der letzte der Löwen das Manegenrund verlassen hat, richtet sich der Scheinwerferkegel auf den Hochseilartisten Fernando Sartini. Noch während der Löwenschutzkäfig durch flinke und geübte kräftige Männerhände fast geräuschlos abgebaut wird, betritt Fernando Sartini sein Hochseil. Vorsichtig setzt er einen Fuß vor dem anderen.
Es gelingt ihm so, ohne Balancestange, die gegenüberliegende Seite des Seiles zu erreichen. Erster Applaus setzt ein. Wieder betritt er, begleitet von einem Scheinwerferlichtkegel, das Seil. Diesmal legt Fernando Sartini in der Mitte des Hochseils einen Stopp ein. Die ihn begleitende Musik nimmt an Dramatik zu. Fernando Sartini bereitet sich vor, auf dem Seil einen Spagat zu machen. Der ihn umfassende Lichtkegel vergrößert sich, sodass sein gelungener Spagat in vollem Licht erscheint. Das Publikum setzt abermals zum Applaus an. Das Publikum merkt schnell, dass die Nummer noch nicht zu Ende ist, und stellt den Applaus ein.
Der Hochseilartist entnimmt seiner Hosentasche ein unauffälliges Behältnis und schafft es auf wundersame Weise eine riesengroße Seifenblase zu erzeugen. Die Seifenblase hüllt Fernando Sartini vollständig ein. Nun sind die Zuschauer in ihrer Begeisterung nicht mehr zu halten. Sie rufen „Bravo, Bravo“ und klatschen so laut und anhaltend, wie es nur geht. Längst ist die Seifenblase geplatzt und Fernando Sartini hat seinen Spagat beendet. Sicher bewegt er sich zur Ausgangsposition zurück und nimmt anschließend erneut aufbrandenden Applaus entgegen. Nun soll seine Geige zum Einsatz kommen. Gerade als er die Geige in Position bringt, entdeckt er seine Mutter unter den Zuschauern.
Sein Herz schlägt vor Freude und Aufregung. Er weiß, dass er sich jetzt noch einmal voll auf seine Darbietung konzentrieren muss. Deshalb versucht Fernando Sartini, Gefühle nicht aufkommen zu lassen. Er steckt sich eine große rote Nase ins Gesicht und begibt sich selbstsicher auf das Seil. Fernando Sartini fängt an, seine Geige zum klingen zu bringen.
Er begibt sich bis zur Mitte des Seils. Hier bleibt er stehen und spielt das allgemein bekannte Lied „Oh mein Papa“ aus dem Tonfilm Feuerwerk (1954).
Heute spielt er das Lied nicht als Fernando Sartini, sondern als Klaus. Er spielt nicht für das Publikum. Heute spielt er dieses Lied nur für seine Mutter, die auf ihrem, in der ersten Reihe reservierten Platz sitzt, und gegen feucht werdende Augen kämpft.
Das Geigenspiel wird nach seinem Solo gesanglich unterstützt von einer weiß gekleideten jungen Sängerin, die auf einem weißen Pferd sitzend, und in der Arena gemächlich ihre Runden dreht.
Der letzte Ton ist verklungen. Das Licht im Zelt gedimmt. Ein schwach strahlender Scheinwerfer ist auf die Sängerin gerichtet und ein weiterer begleitet Fernando Sartini bei seinem Abgang vom Hochseil zum Manegengrund. Erst als er neben der Sängerin steht, tobt das Publikum.
Es hat sich von seiner Ergriffenheit befreit und kann nun unüberhörbar seine Begeisterung zum Ausdruck bringen. Gerne nehmen die Künstler den verdienten Applaus entgegen. Fernando Sartini und die weiß gekleidete Sängerin verbeugen sich nach allen Seiten und sollten dann wie immer, gemeinsam mit dem Pferd die Manege verlassen.
Klaus gibt seiner Kollegin zu verstehen, dass er heute nicht mit ihr und dem Pferd die Manege verlassen wird. Die weißgekleidete Sängerin weiß zwar nicht weshalb, geht aber gewohnt sicher mit ihrem Schimmel dem schweren roten Vorhang entgegen. Klaus hingegen weiß, wo seine Mutter sitzt und geht ihr zielstrebig entgegen. Beide fallen sich in die Arme und es bedarf keiner Worte, um zu erkennen, was dieser Augenblick für beide bedeutet.
Der Sohn betritt wieder die Manege. Er legt seine Geige erneut in Position und spielt noch einmal „Oh mein Papa“. Anschließend verschwindet er, ohne sich umzuschauen hinter dem Vorhang.
Dort warten bereits die nächsten Künstler auf ihren Auftritt.
 
Fernando Sartini geht zu seinem Wohnwagen und spürt, dass das Leben oft ein Drahtseilakt ist.
 
 
Oh mein Papa
 
 Papa wie ein Pfeil
 Sprang hinauf auf die Seil.
 Eh la hopp, eh la hopp, eh la hopp!
 Er spreizte die Beine
 Ganz breit auseinand',
 Sprang hoch in die Luft
 Und stand auf der Hand.
 Eh la hopp, eh la hopp, eh la hopp!
 Er lachte: Haha!
 Und machte: Haha
 Ganz sachte Haha
 Und rief: Eh la hopp!
 Eh la hopp! Eh la hopp!
 
 
 Er ritt auf die Seil
 Ganz hoch in die Luft.
 Eh la hopp, eh la hopp, eh la hopp!
 Das konnte er machen
 Zwölf mal ohne Mih!
 Er lachte dazu
 Und fürchtet sich nie!
 Eh la hopp, eh la hopp, eh la hopp!
 
O mein Papa
 War eine wunderbare Clown.
 O mein Papa
 War eine große Kinstler.
 Hoch auf die Seil,
 Wie war er herrlich anzuschau´n!
 O mein Papa
 er war eine schöne Mann!
 
 So, wie er lacht,
 Sein Mund  sein so breit, so rot
 Und seine Aug'
 Wie Diamanten strahlen.
 O mein Papa
 War eine wunderbare Clown.
 O mein Papa
 War eine große Kinstler!
 Hoch auf die Seil,
 Wie war er herrlich anzuschau'n!
 O mein Papa
 er war eine schöne Mann!
 Ein schöner Mann!

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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