Patrick Rabe

Grenzen

Ich habe in dieser Geschichte versucht, dem Borderline-Syndrom nachzuspüren, einer psychischen Erkrankung, die seit den 1970er Jahren immer häufiger diagnostiziert wird. Alle drei Protagonisten dieser Erzählung leiden an dieser Persönlichkeitsstörung und verkörpern unterschiedliche Spielarten. Die teils krassen Ansichten des Ich-Erzählers sind nicht die Ansichten des Autors. - Patrick Rabe

Kurt Cobain hat die Grenze eingerissen. Die Grenze zur Normalität. Die Grenze zur Plastikmucke der 80er, die Grenze, die ihn selber von seinem eigenen Wahnsinn trennte. Er hat den Exzess gelebt, und er hat gedanklich so viele Barrieren überwunden, dass er bald zu abgeklärt war, um noch Leidenschaft empfinden zu können. Er ist der Prophet meiner Art von Typ, meines Menschenschlags, und wir werden immer mehr. Wir Großstadtkinder, Kinder der Betonwüsten, der mit Graffiti bemalten Wände, wir Kinder des Autolärms, der Hektik, des Mobbings am Arbeitsplatz, wir Kinder aus zerrütteten Familien, wir Kinder der heilen Fassaden, der heruntergeschluckten Tränen, wir Kinder der stillen Gewalt, wir Kinder des Wohlstands, wir verwöhnten Kinder der Zivilisation, wir Kinder ohne Grenzen!
 
Rape me!“, röhrt Cobain, „Do it and do it again!“ Die “In Utero” dreht sich in meinem CD-Spieler. Ich lege die Platte meistens auf, nachdem Elena gegangen ist. Elena. Die Frau ist so warm. So verdammt warm. Als würde unter ihrer Haut Lava fließen. Ich genieße ihre Wärme, ich berausche mich an ihrem Brand, und wenn ich – so wie jetzt – wieder alleine am Schreibtisch sitze, ist mein Körper noch aufgeladen von ihrer Wärme. Elena ist meine Göttin! Die kleine, sexy Göttin, die mir Feuer in meine erstorbenen Glieder haucht, die mich leben lässt. Ich bin süchtig nach ihr. „Ich würde dich mir gerne intravenös spritzen!“, habe ich ihr heute gesagt. Sie hat nur gelacht. Ihr helles, klingelndes Mädchenlachen, das mich töten kann – und wieder auferwecken. Für mich ist Elena der Mittelpunkt meines Lebens. Und was bin ich für sie? „I’m not the only one!“, schreit Cobain leidenschaftlich. Nein, wahrhaftig, ich bin nicht der Einzige. In Elenas Leben. Und ich weiß es. Elena lässt sich gern ficken. Und nicht nur von mir. Sie hat Typen an jedem Finger. Und manch einer meint, er sei der Einzige. Ich bin der Auserwählte, den sie von ihrem Lebenswandel hat wissen lassen. Ich schätze, dass auch ich für sie nur Teil ihres Spieles bin, und das quält mich. Aber ich lasse mich gerne quälen. Sie erzählt mir immer von ihren anderen Lovern. Im Moment hat sie zwei außer mir. Der eine scheint etwas zu ahnen. Sie findet das prickelnd. Sie weiß, was solche Erzählungen bei mir auslösen. Sie weiß, dass ich mich deswegen schneide. Aber egal – sie schneidet sich ja auch. Und manchmal tun wir es gemeinsam, während sie mir ihre Liebesabenteuer erzählt, oder nach dem Sex. Elena ist als Kind missbraucht worden. Von ihrem Stiefvater. Missbrauchte Frauen haben meist nur zwei gängige Wege, mit ihrem Trauma umzugehen. Entweder, sie werden nymphoman, oder sie werden frigide. Elena gehörte klar dem ersten Typus an.
 
Ich langte herüber zum CD-Player und wählte „Heart shaped box“ an. Ich brauchte es jetzt atmosphärisch. Ich nahm einen Schluck aus der Rotweinflasche und zog die Schreibtischschublade auf. Dort lag es, mein langes Pfadfindermesser. Ich nahm es zur Hand und krempelte meine Ärmel hoch. Ich setzte das Messer an. „Hey! Wait! I’ve got a new complaint!“, brach es aus Cobain hervor. Ich schnitt tief in die Haut. Der Schmerz klang gleich mit meinem inneren Brennen, rot und rein floss das Blut ab. Ich stöhnte vor Erleichterung. Ich fühlte mich golden. So, als trete mit meinem Blut auch mein Ich aus meinem Körper und traf endlich, nach langer Gefangenschaft, auf die Außenwelt, von der es augenblicklich geheilt wurde. Ich hatte mal gelesen, dass indianische Schamanen sich die Haut aufritzen, um mit dem Göttlichen in Kontakt zu kommen. Und ich konnte das gut nachvollziehen. Denn um die Unio Mystica, die chymische Hochzeit, die mystische Vereinigung von Himmel und Erde, ging es auch mir. Wenn ich schlitzte, tat ich nicht etwa etwas Krankes! Nein, ich heilte mich dadurch, ich brachte etwas wieder in Ordnung und mich ins Gleichgewicht. Ja, ich war nur rein, ohne die ganzen störenden, verschlackenden Einflüsse, wenn ich mich geschnitten hatte.
 
Vielleicht könnte ich heute noch an meinem neuesten Bild malen. In der Nähe des Fensters habe ich die Leinwand aufgestellt. Das Bild zeigt einen Mann, aus dessen zersprengtem Kopf sich eine große Fledermaus erhebt. Ich nehme noch einen tiefen Schluck aus der Flasche. Nein, ich werde heute nicht mehr malen, ich bin schon zu besoffen. Und wenn ich besoffen bin, fällt mir der präzise Pinselstrich schwer. Und der ist mir sehr wichtig. Aus meiner Werkstatt kommt kein Pfusch! Unter Alkohol kann ich nicht malen, nur unter Koks. „Ah – unter Koks!“, sagen sie jetzt, „Das Weiße also auch noch!“ Ja, verehrte Spießergemeinde: Ich kokse, kiffe, saufe, schmeiße Pappen, die ganze Palette! Stört euch das, ihr Wichser!? In gewisser Hinsicht bin ich Faschist. Autofaschist. Gute Kunst kann nur entstehen, wenn dabei ein Teil von mir draufgeht. Meine Kunstwerke nehmen zu, ich nehme ab, c’est la vie! Und ich brauche diesen Kick, diesen Drogen- und Schaffensrausch, denn außerhalb dieser Zustände bin ich nichts als ein Geist. Dann gibt es mich gar nicht. Dann bin ich ein Neutrum, das jede beliebige Maske aufsetzen kann. Tod und Verderben! Ich brauche jetzt etwas smoothiges. Etwas, was mich beruhigt. Was Gleichklang in meinen Kreislauf bringt. Ich stelle die „Nirvana“ aus und lege die „Blood on the tracks“ von Bob Dylan auf. Ein krasser Wechsel, ja, aber das liebe ich. Eine schöne Platte. Chillig, aber voller Schmerz und Ambivalenzen. Besonders eine Zeile liebe ich: „I kissed good bye the howlin’ beast on the borderline, which separated you from me!“  Vielleicht würde ich das einmal zu Elena sagen. Nein, hoffentlich nie. Denn das hieße ja Trennung.
 
Ich lege den Kopf in die Hände und lausche Dylan. Gestern habe ich mit Vera geschlafen. Ich habe es nicht gewollt, und doch ist es passiert. Vera ist so zerbrechlich, und ich möchte nicht, dass sie zerbricht, wirklich nicht! Ich habe sie gern. Ja, um es in Kinderdeutsch zu sagen: Ich habe sie sehr lieb. Mich erfüllt eine Zärtlichkeit für Vera, die eigentlich platonisch ist, so väterlich. Aber gestern hat es uns doch ins Bett getrieben. Wir haben uns intensiv unterhalten, und plötzlich lagen wir uns in den Armen. Vera betet mich an. Sie stellt mich auf einen wer-weiß-wie hohen Sockel. Sie sieht nur, was sie sehen will. Der begnadete Künstler bin ich für sie, der sanfte Liebhaber, der einfühlsame Zuhörer, der ihre versponnene Innenwelt versteht. Vera glaubt, sie sei ein Engel. Ein gefallener Engel. Ein Gast auf dieser Erde. Ja, ein Engel. Ein Wesen ohne Geschlecht. Vera hat Angst vor Berührungen. Auch sie wurde als Kind missbraucht. Sie ist Typus zwei. Nur von mir würde sie sich berühren lassen. Und ja! – Verdammt! – sie hat sich von mir berühren lassen. Ich habe mit ihr gevögelt, als ob es Elena wäre. Nein, nicht als ob es Elena wäre. Ich habe Vera als Vera geliebt. Als sie selbst, um ihrer selbst willen. Und ich war in unser Liebesspiel versunken, war in ihm verloren, als hätte es schon immer nur sie gegeben. Nachdem ich gekommen war und neben ihr lag, hatte sie sich weggedreht und bitterlich geweint. „Du wirst mir nie gehören!“, hatte sie geschluchzt. Denn natürlich wusste sie von Elena. Ich hatte sie letzte Nacht getötet, emotional getötet. Jetzt zog sie sich zurück in ihre Welt voller Elfen und Geister, die sie rufen konnte, wie es ihr beliebte. Diese Welt der Schatten war alles, was ihr blieb, wenn sie mich, den von ihr idealisierten Gefährten nicht haben konnte. Ja Vera, du bist so zerbrechlich. Ich wollte dich nicht zerbrechen! Verflucht, ich hasse mich!
 
Bob Dylan sang gerade das lapidare „You’re gonna make me lonesome when you go!“ Ich konnte dieses Gedudel nicht mehr ertragen. Es mussten wieder Nirvana sein. Ich legte die „Unplugged in New York“ ein und sprang gleich auf „Where did you sleep last night?“. Mit wem hatte Elena geschlafen, letzte Nacht, als ich Vera zerstörte? Welcher Mistkerl hatte meine Göttin gefickt, die unter seinen Händen zur ordinären Schlampe mutierte?! Ich mochte mir das gar nicht vorstellen. Ich stellte mir lieber etwas anderes vor. Einen Wachtraum, den ich oft hatte. Ich stelle mir vor, dass ich Wasser in die Wanne lasse. Ich gieße wohlriechende Öle dazu. Dann hole ich Elena. Wir ziehen uns aus und steigen in die Wanne. Wir liebkosen uns im warmen Wasser und dann nehme ich das Messer vom Wannenrand und wir schneiden uns. Sie schneidet mich und ich schneide sie. Wir genießen es. Und zum Schluss schneiden wir uns gegenseitig die Pulsadern auf, und das ganze Badewasser färbt sich rot.
 
...where the sun will never shine, I would shiver the whole...night through!”, singt Cobain. Die Pause, die er dabei macht, ist legendär. Und wer das „Unplugged“ im Fernsehen gesehen hat, kennt seinen verzweifelten, irrsinnigen Blick, den er dazu macht. Er war der Prophet meines Menschenschlages. Wir Großstadtkinder, Kinder der Seelenwüsten, wir Überlebende des 20. Jahrhunderts. Das liegt nun hinter uns. Ein Jahrhundert der Revolutionen, der Kriege, der Technisierung, der Entfremdung, der Gleichschaltung. Manche hatten an das neue Millennium so ne Àrt Heilserwartung. Als wenn nun das Reich Gottes anbräche, in dem alles gut werde. Aber vielleicht war die Grenze zwischen dem 20. und dem 21. Jahrhundert die Grenze, die uns vor uns selber schützte. Verdammt, wir haben die Grenze überschritten!

Patrick Rabe, 2005.
 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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