Hans K. Reiter

Bayerisches - (2) Dorfleben

Das Leben auf dem Dorf ist im Vergleich zu dem in der Stadt in vielerlei Hinsicht anders, und trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit. Ein Fremder in der Stadt fällt niemandem auf, im Dorf dagegen schon, aber keiner will etwas mit ihm zu tun haben.  Und so ist die Gemeinsamkeit eben geprägt von dem Umstand, dass sich niemand um den Fremden kümmert, weder da noch dort. Obwohl dies zwar generell gelten mag, kann es doch vorkommen, dass marginale Unterschiede ein völlig anderes Bild ergeben.

An einem Mittwoch im August eines sonnendurchfluteten Sommers hätte ein aufmerksamer Beobachter sehen können, wie so manche Gardine an den Fenstern zurückgeschoben wurde, um den Blick auf das Ungewöhnliche frei zu geben. Der Wagen einer Spedition war in die Hauptstraße eingefahren, um am Dorfplatz rechts ins Mühlengasserl abzubiegen. Der Begriff Gasserl bezeichnete sehr präzise, was gemeint war. Ein Weg, weniger groß als eine Gasse, führte an der ehemaligen Dorfmühle vorbei zu einem dahinter gelegenen Haus. So sehr sich der Fahrer auch abmühte, gelang es ihm nicht, seinen Laster in das Gasserl zu bugsieren. Ein derbes Wort entschlüpfte seinen Lippen, aber es half nichts, er würde sein Ziel nicht ansteuern können.

Jetzt hamma den Salot, sagte er mürrisch zu den beiden Männern neben ihm. Jetzat kemma den ganzn Mist hinterschleppa! Ja mei, sagte einer der beiden, des konn scho a moi vorkemma. Do konnst nix macha! Also blockierten sie für den Rest des Tages einen Teil des Dorfplatzes und schleppten Umzugskartons und Möbelstücke zum rückwärtigen Haus. Jemand zog ein, Fremde im Dorf! In Windeseile machte diese Neuigkeit die Runde. Und zwar, wie auf dem Dorfe üblich, in einer Weise, dass ein Außenstehender nicht gewusst hätte, wie es funktionierte. Niemand, der deshalb durchs Dorf gelaufen wäre oder über die Straße gerufen hätte.  Aber alle wussten Bescheid.

Am Abend sah man dann einen Mann mit seiner Frau und zwei Kindern, ein Junge und ein Mädchen, etwa zehn und zwölf Jahre alt, zum Krug laufen, der direkt am Dorfplatz gelegenen Wirtschaft. Der Wirt hinter der Theke blickte nur kurz auf, grunzte so etwas wie ein Griass Gott, und kümmerte sich nicht weiter um die Gäste. Die Bedienung war da schon um einiges freundlicher und bedeutete den Neuankömmlingen an einem Tisch, auf den sie zeigte, Platz zu nehmen. Es kennst eich do hisetzn, hatte sie gesagt. Und da saßen sie nun, die Täubners. Der Vater hatte sich am hiesigen Gymnasium als Hausmeister beworben, und sie hatten ihn genommen.

Als nach den Ferien im September der Schulbetrieb anfing, hatte Täubner ein paar Tage vorher ebenfalls mit der Arbeit begonnen. Alles war zu überprüfen und einige kleinere Sachen auch zu reparieren oder ein Scharnier mit einem Tropfen Öl wieder gangbar zu machen.

Ausgelassen strömten die Schüler ins Gebäude. Die Ferien waren manchen zu kurz erschienen, anderen wiederum sogar eintönig. Es kam ganz darauf an, ob sie am Hof mitarbeiten mussten oder herumtollen konnten. Das Gymnasium in Dingharting war das einzige im Kreis und deshalb für Viele die Alternative zur Stadt.

Den Täubner und die Seinen behandelten die Menschen weder unhöflich noch ablehnend. Sie behandelten sie gar nicht. Die Täubners kamen sich vor, wie Fremdkörper. Ein Grüss Gott war schon alles, was den Leuten zu entlocken war, und niemand ließ sich auf ein Gespräch ein. Sie waren halt da, aber sie gehörten nicht dazu: Zuagroaste eben. Es gab noch ein paar andere von dieser Spezies Mensch. Aus der Stadt Zugezogene, weil es ihnen dort entweder zu teuer war oder, was auch vorkam, das Landleben gefiel. Bei den Täubners kam noch erschwerend hinzu, dass sie sprachlich erkennbar nicht aus bayerischen Gefilden stammten. Es wurde gemunkelt, sie kämen aus Düsseldorf oder jedenfalls von irgendwo her, wo man nach der Schrift sprach.

Wird schon werden, sagte Vater Täubner zu seinen Lieben, es braucht halt seine Zeit. Die Kinder, wovon das Mädchen ebenfalls in das hiesige Gymnasium ging, und der Bub in die Grundschule am Ort, hatten in dieser Hinsicht keine Probleme. Sie waren aufgeweckt und sprachen zur Freude der Lehrer in klaren Sätzen, ohne ständig ganze Wortsilben zu verschlucken. Aber Spielgefährten hatten sie bei genauem Hinsehen auch keine. Wird schon werden, gebrauchte der Vater auch hier seine beliebte Redewendung.

Eines Tages, um zehn Uhr, zur großen Pause, geschah es! Die Finkenzeller Resi beugte sich aus dem Dachfenster im dritten Stock, warum weiss niemand, und schwups, bekam sie Übergewicht und stürzte hinaus. Ein entsetzter Aufschrei von Schülern, die vom Hof aus zufällig nach oben geblickt hatten. Dann starrten sie alle hinauf. Die Lehrer, wie die Schüler. Unfähig, sich zu rühren, folgten sie dem Schauspiel. Einer rief schliesslich: Wir müssen etwas tun! Aber keiner rührte sich. Ruafts d’Feierwehr, schrie ein anderer, aber niemand rief sie. Der Rektor eilte hinzu und fragte: Hat schon jemand etwas unternommen? Schüler und Lehrer sahen ihn verständnislos an und starrten weiter hinauf zum Dach.

Ich kann nimmer!, schrie die Resi verzweifelt, und versuchte mit letzter Kraft, sich an einer Dachschindel festzuklammern.  Jetzt, was war das? Ein Mann schwang sich hinaus auf’s Dach, just durch das selbe Fenster,  aus dem die Resi kurz zuvor hinaus gestürzt war. Da Hausmoasta!, rief einer und man konnte tatsächlich sehen, wie der Täubner erst schräg, zum Fenster hin geneigt, aufrecht stehend, dann in die Hocke gehend, nach der Hand des Mädchens griff. Mucksmäuschen still war es jetzt unten auf dem Hof. Den Leuten stockte schier der Atem. Des gibt’s doch net, hörte man einen der Lehrer zischen, dann war wieder Stille.

Keine Angst, Mädchen, sagte Täubner, der ihren Namen noch nicht kannte. Ich greife jetzt dein Handgelenk und ziehe dich zu mir her, und du versuchst, mit den Füssen anzuschieben, als wolltest krabbeln. Hast mich verstanden? Ganz ruhig hatte der Täubner gesprochen, überhaupt nicht aufgeregt, als wäre es das Normalste von der Welt, was er hier tat.

Resi machte alles genau so, wie Täubner es gesagt hatte. Langsam kam sie ihm näher, dann plötzlich, zum Entsetzen der Gaffer auf dem Hof, rutschten ihre Füße weg. Jetzt würde sie stürzen, unweigerlich hinunter fallen auf den Hof. Schüler und Lehrer schrie’n auf, gingen instinktiv zur Seite, damit sie vom Aufprall des Körpers verschont blieben. Aber nichts geschah!

Mit festem Griff hatte Täubner, nach hinten auf das Dach gelehnt, Resis Sturz abgefangen. Jetzt stand sie zitternd neben ihm. Täubner zog sie hoch zum Fensterrahmen, sagte ihr, sie solle sich daran festhalten, umfasste ihre Hüfte, und mit einem Stupser beförderte er Resi zurück ins Zimmer.

Unten klatschten und schrie’n sie alle durcheinander. Was für ein tollkühner Mann dieser Hausmeister doch war. Die Finkenzellers, wohlhabende Leute vom Ort, bedankten sich überschwänglich bei den Täubers und luden sie nach Hause ein. Ein Fest wurde gefeiert und der Hausmeister musste immer wieder erzählen, wie er das geschafft hatte.Wissen Sie, ich bin Bergsteiger, und beim Klettern kommt es oft darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren, erklärte Täubner einem Reporter der Regionalzeitung, und fügte noch an: Das war doch technisch, oder bergsteigerisch gesehen, nichts Besonderes. 

Die Leute im Dorf sahen das anders. Der Hausmeister war fortan IHR Held, und alle wollten sie jetzt gut Freund mit ihm und seiner Familie sein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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