Mike Bußmann

Der Geist der Zeit

 

Der Geist der Zeit


Verdammt! Ich hätte nicht gedacht das die Jungs so schnell sind. Wie es scheint, haben die da oben doch noch genug Steuergelder übrig um mich abzuservieren. Ich glaube, ja, vor vier Monaten erst waren sie hier, um die endgültige Trasse auszumessen und abzustecken. Für die neue Umgehungsstraße, wissen Sie? Ich meine Umgehungsstraßen sind schon etwas Nützliches und im Moment wohl der totale Renner bei den Straßenplanern. Seit die Grünen so massiv Front machen gegen den Ausbau des Autobahnnetzes werden die Steuergelder halt in lokale Projekte, also Umgehungsstraßen gepumpt. Nicht schlimm soweit. Aber wissen Sie, wenn man selbst betroffen ist, und nicht als Bewohner der Innenstadt die entlastet werden soll, sondern wenn diese schöne neue Umgehungsstraße quasi genau durch Haus und Garten verlaufen soll und mit ihrem sehr großzügigen Planungscharakter mit vier Spuren, eher wenig bis gar keinen Platz zum Ausweichen läßt, dann ist das schon eine verdammte Scheiße. Für mich.
Wenn man das ganze Leben an einem Ort zugebracht hat, der einem im laufe der Jahre so vertraut geworden ist, dann geht einem das Geräusch der Planierraupen und Bulldozer bis in`s Mark. Moment, Entschuldigung bitte, ich meine nicht das Geräusch, nein, dafür sind sie noch zu weit weg, es sind die Vibrationen der schweren Maschienen die ich spüre. Zuerst waren sie ganz schwach, aber sie werden immer stärker. Darum vermute ich, nein ich weiß es, sie werden hier her kommen, zu mir. Ja, dafür habe ich ein Gespür. Ich kann es in meinem Innersten spüren. Das konnte ich schon als ich noch ganz jung war und im Laufe der Jahre wurde diese Sensorik immer feiner. Diese Fähigkeit läßt mir sogar die Möglichkeit zu unterscheiden ob da jetzt ein kleiner schnittiger Sportflitzer mit offenem Verdeck und einem  jungen lachenden Pärchen über den (jetzt noch) alten Wirtschaftsweg braust, oder ob der Bauer aus dem Nachbardorf mit seinem stinkenden Asbach-Uralt-Benz vom Markt zurück in die Stadt zottelt.
Tja, ich bin zwar alt und einige Zeitgenossen würden auch sagen ein wenig schrumpelig, aber ich bin nicht senil und schon gar nicht gefühllos, wie viele Leute behaupten. Ich bin stur, das gebe ich zu, aber ich habe einen Standpunkt eingenommen, den ich nicht aufgeben kann, und auch nicht aufgeben will! Das liegt so in meiner Natur denke ich. So bin ich eben mal. Und ich bin krank. Das hat sich auch so im laufe der Jahre ergeben. Es ist eine schleichende Krankheit. Altersbedingt haben die Spezialisten gemeint, die mich damals untersucht haben. Ich kann mich an den Namen der Krankheit nicht mehr erinnern, ist ja auch egal, unwichtig. Ich weiß nur das sie relativ häufig vorkommt im Alter und das sie einen ganz langsam von innen her auffrißt. Ich merke schon seit Jahren wie ich immer ein wenig schwächer werde. Die Wiederstandskraft läßt merklich nach. Ganz besonders nach der Operation. Da haben sie mich aufgeschnitten, ein paar kranke Innereien rausgeholt und dann wieder zugemacht. Das war unangenehm.
Aber richtig unangenehm war die Sache im Sommer 1980. Ein Autounfall. Ich stand an diesem warmen Sommermorgen im Garten, eigentlich wie immer und erfreute mich der frischen Luft, dem blauen Himmel und der Aussicht auf weitere laue Sommernächte. Ich sah den Kindern zu die im Garten Räuber und Gendarm spielten, oder war es Cowboy gegen Indianer, ich weiß es nicht mehr. Ich stand einfach nur so da und war rundherum zufrieden.
Plötzlich setzten diese Vibrationen ein. Ein Auto. Ein sehr schnelles Auto. Nein! Zwei sehr schnelle Autos! Auf dem alten Wirtschaftsweg. Die schienen ein Rennen zu veranstalten. Zehn Sekunden später hörten die Kinder später hörten die Kinder auf zu spielen und liefen zum Gartenzaun um zu sehen, was da so ein Höllenspektakel machte. In diesem Augenblick kamen die zwei Wagen aus dem Wald geschossen. Sie zogen eine dichte Staubfahne hinter sich her. Der Weg führt vom Wald aus direkt auf den Garten zu, macht einen scharfen Knick nach links und verläuft dann am Haus vorbei schnurgerade ins nächste Dorf. Ich dachte noch, so ein Leichtsinn, der hintere Fahrer kann doch eigentlich gar nichts sehen, so nah wie der hinter dem Ersten klebte. Dann passierte alles sehr schnell. Der vordere Wagen bremste scharf, schlingerte durch die Kurve und knallte frontal gegen den neuen Hydranten, der erst letztes Jahr, nachdem der Feuerlöschteich hinter dem Haus endgültig trocken fiel, installiert worden war. Der rote Gußzylinder flog durch die Gartenpforte, durchschlug das Stubenfenster und verwandelte den Fernseher in einen wertlosen Haufen aus Kunststoff und Glas. Der Fahrer riß das Steuer nach links und das Auto verpisste sich in das Sonnenblumenfeld auf der anderen Straßenseite. Der zweite Wagen hatte weniger Glück. Er fuhr einfach geradeaus, schoß durch den Zaun, zwischen zwei schreienden Kindern durch ohne sie zu berühren genau auf mich zu. Ich wollte weg, fort! Fliehen! Aber ich konnte nicht. Ich war wie angewurzelt. Wie das Kaninchen vor der Schlange. Der Fahrer konnte sich nicht entscheiden ob, und wenn ja, wohin er ausweichen sollte. Dann hat er mich erwischt. Er war nicht mehr so schnell und so blieb es bei einigen oberflächlichen Verletzungen. Ein paar Macken und Hautverluste, nichts wirklich gravierendes. Ich bin trotz meines Alters und meiner Krankheit noch eine robuste Natur und stark gebaut. Aber mal ehrlich, lassen Sie sich gerne von einem Auto anfahren? Man hat sich damals richtig fürsorglich um mich gekümmert aber die Narben sind geblieben.
Nicht das ich übertriebenen Wert auf mein Äußeres legen würde, oder gelegt habe, nein, da gibt es bestimmt schönere Zeitgenossen als mich, aber wenn man so viel draussen ist und so viel erlebt hat wie ich, dann nagt der Zahn der Zeit schon ganz erheblich am äußeren Erscheinungsbild. Ich bin stolz darauf, daß ich noch einigermaßen gut dastehe. Ich bin stolz auf meine Falten und Narben in meiner Haut.
Apropos Narben. Habe ich schon erwähnt wie ich zu dieser Narbe an der Seite gekommen bin? Nicht? Na gut, wenn es Sie interessiert kann ich Ihnen das ja mal erzählen. Wir haben noch etwas Zeit bis die Abbruchkolonne hier ist.
Es war im März 1945, also kurz vor Ende des Krieges. Der war bis dahin ereignislos an diesem so friedlichen Stückchen Erde vorbeigetobt, wenn man mal von den endlosen Bomberketten der Alliierten absieht, die fast täglich von Westen kommend ihre weißen Kondensstreifen in den kalten Winterhimmel malten. In der Nacht hatte sich ein versprengter deutscher Soldat, ich glaube es war ein Leutnant, auf dem Dachboden eingenistet. Mir machte das nichts aus. Ich hielt nicht viel vom Krieg. Mir war er scheißegal. Ich ertrug ihn mit stotischer Ruhe und ich hielt mich raus. So habe ich es mein Leben lang gemacht und bin immer gut damit gefahren. Sollten sich diese Idioten doch die Köpfe einschlagen für nichts und wieder nichts. So lange sie mich dabei in Ruhe ließen sollten sie sich doch ruhig mit ihren Panzern überrollen oder mit ihren Bomben zerfetzen, oder sich gegenseitig mit dem Messer aufschlitzen. Ich bin und war immer Selbstversorger hier. Keine Verpflichtungen gegenüber anderen. Also gab es auch noch nie einen Grund etwas von mir zu verlangen. Bei mir gab es auch nie etwas zu holen. Wozu sich also aufregen? Am nächsten Morgen zog eine amerikanische Infanterieeinheit am Haus vorbei und anstatt sich zu verkriechen und die Schnauze zu halten, mußte dieser Dummkopf Held spielen. Er schlich sich aus dem Haus und legte sich im alten Brunnen auf die Lauer. Genauer gesagt er stand auf den Eisensprossen im Inneren des Brunnens. Als die Kolonne am Garten vorbeizog schoß er sechs mal mit seiner Pistole. So ein Schwachsinn. Die Amis schoßen zurück. Zwei mal. Der eine Schuß traf den Leutnant genau zwischen die Augen. Er stürzte ohne Proteste die acht Meter bis zum Brunnenboden um ein letztes Bad zu nehmen. Er wurde erst zwei Wochen später geborgen und beerdigt. Die Amis hatten besseres zu tun als einen toten feindlichen Heckenschützen aus einem Brunnenschacht zu holen. Die mußten doch noch einen Krieg gewinnen. Ach so. Beinahe hätte ich es vergessen. Die zweite Kugel. Also, um genau zu sein, es war die Erste die mich traf und die Zweite, die dem deutschen Soldaten das Hirn rauspustete. In solchen Sachen bin ich penibel genau. Die Zweite, also ich meine die Erste traf mich hier in der Seite und blieb stecken. Und da steckt sie auch heute noch. Sie ist zwar im Laufe der Jahre ein wenig gewandert, aber nicht viel. Sie hat mich nicht getötet, merkt man ja, denn sonst könnte ich Ihnen das alles hier nicht erzählen. Sie ist ein bleibendes Andenken an den Krieg und irgendwie bin ich sogar ein wenig stolz darauf. Da ich mich damals nicht gewehrt habe, ich hatte ja auch garnichts um mich zu verteidigen, haben mich die Amerikaner nicht weiter beachtet. Ich meine, die mußten noch einen Krieg gewinnen. Haben sie ja dann auch noch geschafft.
Der Winter nach Kriegsende, also 45/46, da werden Sie mir zustimmen, vor allen Dingen die Älteren unter Ihnen die ihn selbst erlebt und überlebt haben, war einer der schlimmsten dieser Jahre. Es sind eine ganze Menge Leute krepiert damals. Erfroren, verhungert oder vor lauter Erschöpfung einfach umgefallen und nicht wieder aufgestanden. Mich hätte es auch fast erwischt. Eigene Dummheit. Wenn ich mich ein wenig mehr auf meinen Instinkt verlassen und ein wenig mehr auf die Zeichen der Natur um mich herum geachtet hätte, wäre es sicher nicht so schlimm geworden. Die Eichhörnchen haben gebunkert wie verrückt und die Feldhasen da draußen hatten keine Jungen mehr, dafür aber ein sehr dickes Fell bekommen.
Es war gleich die erste kalte Nacht mit den wahnsinnig tiefen Temperaturen die mich so überrascht hatte. Ein Schneesturm aus dem Osten der es in sich hatte. Der Wind fegte die Schneeflocken waagerecht durch die Luft und der Gartenzaun war innerhalb einer Stunde im Schnee versunken. Die Temperaturen sanken so schnell und so heftig das sich innerhalb eines Tages im Brunnen eine Zehn Zentimeter dicke Eisschicht bildete. Ich war noch nicht fertig mit meinen Vorbereitungen auf den Winter. Deshalb habe ich mir in dieser Nacht einige Erfrierungen zugezogen. Allesamt nicht tötlich, aber es war schon hart an der Grenze. Aus Fehlern kann man lernen und es ist mir danach nie wieder passiert. Ich passe jetzt immer ganz genau auf und wappne mich gegen die kalte Jahreszeit, mache die Schotten rechtzeitig dicht und warte ab bis der Frühling den ganzen weißen Spuk wieder vertreibt.
Also mal ehrlich, ich mag den Winter nicht. Ich fühle mich dann immer so steif und unbeweglich und alles sieht so aus, als wenn ein riesiges Leichentuch alles bedekt. Der Schnee dämpft die Geräusche. Keine Vögel die zwitschern, keine Bienen die summen. Alles still. Dumpf. Die Natur schläft. Was mir aber am meisten fehlt sind die Farben. Alles in weiß in weiß, nein danke, das ist nicht nach meinem Geschmack.
Der Frühling ist da doch ganz anders. Alles frisch. Viele Geräusche, bunte Farben und die Säfte fließen wieder, wenn Sie wissen was ich meine. Man fühlt sich als wenn man Bäume ausreißen könnte. Man fühlt sich einfach wieder - ja, lebendig.
Im Sommer ist es zwar nie so schlimm wie im Winter, aber wenn wir hier so eine Inversionswetterlage haben, und die haben wir hier sehr oft, dann kann es auch recht übel werden. So wie letztes Jahr. Sieben Wochen lang kein Tropfen Regen. Brütende Hitze von morgens bis abends. Abgestandene, verstaubte Luft, die einem das Atmen schwer macht. Der Rasen vor dem Haus war ganz braun und sogar die Blätter hatten angefangen zu welken. Das ganze Land hat gestöhnt unter der Hitze, und im Nachbardorf hat sich ein Heuschober von selbst enzündet; sagt man. Die Rauchsäule die senkrecht in den dunstigen Himmel stieg weil kein Furz Wind ging, war bis hier her zu sehen. Also ehrlich, in dem Moment hatte ich auch ein bischen Angst, daß das auch hier passieren könnte. Weiss man`s? Einmal hatte ich es ja schon mal erlebt. Da wäre das Haus fast abgebrannt. Ich glaube es war 1931. Auch so ein verdammt heißer Sommer. Eine Hitzewelle nach der anderen. Und dann, alle hatten schon aufgeatmet als sich die dunklen Regenwolken am Horizont zeigten, entwickelte sich diese schwarze Front, die aussah wie ein Berg von schwarzem Blumenkohl, zu einem ausgewachsenen Sommergewitter.
Ich stand vor dem Haus und beobachtete dieses grandiose, spektakuläre Naturschauspiel. Über mir ein blauer Himmel und im Westen, wie mit einem Lineal gezogen, diese schwarze tosende Masse der Elemente die schnell näher kam. Blitze zuckten kreuz und quer und ich konnte fühlen wie die Luft sich mit Elektrizität auflud. Die leichte Brise, die schon den ganzen Tag aus Westen geweht hatte, war eingeschlafen. Und dann, im wahrsten Sinne des Wortes, aus heiterem Himmel ging es los. Die erste Böe hätte mich fast umgeworfen. Der Regen ergoß sich wie aus tausenden Feuerwehrschläuchen. Der Himmel hatte seine Schleusentore geöffnet. Blitze überall! Hochspannung! Summende Luft! Ein Höllenlärm ringsherum! Phantastisch! Ich war wie hypnotisiert. Ein prickelndes Gefühl beschlich mich. Bis ich realisiert hatte, daß ein Blitz in den Dachstuhl des Hauses eingeschlagen hatte, traf der nächste mich. Eine ungeheure Hitze ist das, daß kann ich Ihnen verraten. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich glaube sogar ich habe gedampft, aber das weiß ich nicht mehr so genau.
Als die Feuerwehr mit den damals noch recht beschränkten Mitteln zum Löschen eintraf, hatte der heftige Regen ihre Arbeit schon erledigt. Die Männer standen ungläubig vor dem Haus, jetzt ohne Dach, aber sonst noch ganz in Ordnung und wunderten sich das ich überlebt hatte. Mich wunderte das übrigens auch, denn Blitzschläge sind normalerweise etwas, was man nicht so leicht überlebt.
Sei`s drum. Sie glauben jetzt sicher ich wäre ein Glückspilz oder so etwas, weil ich all diese Sachen überlebt habe. Nun, ich glaube Sie haben recht. Ich hatte wirklich schon unverschämtes Glück in meinem Leben. Aber ich denke, daß dieses Glück mich heute verläßt.
Die Bulldozer müßten jetzt im Wald sein. Gibt mir noch ein bischen Zeit bevor ich weg muß. Ich meine, mein Leben hier war schon ganz schön lang, aber trotzdem würde ich gerne noch ein paar Jährchen dranhängen. Die Krankheit die ich in mir trage ist nicht aufzuhalten, das weiß ich, und doch, so zwei, drei, vielleicht auch fünf Jahre würde ich bestimmt noch durchhalten. Glauben Sie mir, wenn man weiß das es zu Ende geht, wird jede Sekunde kostbar. Man lebt irgendwie intensiver, kostet alles aus, lechtzt nach jedem Augenblick. Jede Handlung, jedes Gefühl, jeder Gedanke könnte der Letzte sein. Und wenn mich meine Gefühle jetzt so überwältigen ist das ein Teil davon, gerade jetzt im Herbst, wenn die Tage kürzer werden und wenn man melancholischer wird. Die Vögel, die einen den Sommer über mit ihrem Gezwitscher so nett unterhalten haben, ziehen fort in den Süden. Man hegt vielleicht den Wunsch mitzuziehen, aber man muß dableiben. Man bleibt da, weil man das immer schon so gemacht hat, weil man schon immer dageblieben ist. Die Natur zeigt sich noch mal von ihrer schönsten, von ihrer buntesten Seite.
Ja! Der Herbst ist meine liebste Jahreszeit. Die Hitze des Sommers ist vorbei und die Kälte des Winters ist noch nicht in Sicht. Irgendwie kann man den ganzen überflüßigen Ballast des Jahres abwerfen um sich auf die große weiße Vereinheitlichung vorzubereiten. Aber jetzt muß ich mich auf etwas anderes vorbereiten, denn die Kolonne kommt gerade aus dem Wald und dann geht`s wohl los. Wissen Sie, ich war ein Leben lang alleine, und es hat mir nie etwas ausgemacht. Ich gebe zu, ich habe diesen Status Quo als Einzelgänger auch genossen, aber jetzt, wo das Haus leer und der Garten verwaist ist, jetzt wo es dem Ende zugeht, wäre ich doch nicht gerne alleine.
Verdammt! Es ist doch zum auswachsen! Warum konnten die diese Trasse nicht ein paar Meter verlegen. Wäre doch sicher keine große Sache gewesen, aber die wußten ja auch garnichts von meiner Ablehnung, weil ich doch auch keinen Einspruch erhoben habe. Warum denn auch? Auf einen todgeweihten Alten Rücksicht nehmen ist in der heutigen Zeit etwas, was sich keiner mehr leisten kann und auch wohl nicht leisten will.
Ich könnte Ihnen jetzt beschreiben wie eine Abbruchbirne ein Haus pulverisiert. Aber ich erspare mir das, denn es tut weh das zu beobachten. Bei jedem Schlag bebt der Boden unter mir. Die Schaufelbagger graben tiefe Furchen durch den Garten und die großen Kipplaster für den Schutt hüllen mich mit ihren Abgasen ein. Aber ich halte durch, bis zum bitteren Ende. Glauben Sie jetzt bitte nicht das wäre eine Art von Masochismus, es ist...Fakt.
Die vielen Jahre die ich hier gelebt habe, diese schier endlose Abfolge von Jahreszeiten, die Höhen und Tiefen, die Katsstrophen und die schönen Tage, all das hat mir dieses Fleckchen Erde zur Heimat werden lassen. Ich bin hier tief verwurzelt und man wird mich nur mit Gewalt von hier fortbringen, wenn überhaupt. Mich wehren? Nein! Entweder sie haben Respekt vor dem Alter oder nicht. Entweder ich überzeuge sie durch meine Präsenz, oder ich habe verloren. Mal sehen. Die Nacht verspricht angenehm lau zu werden, denn obwohl die Sonne schon tief steht, ist es noch sehr warm.
Das muß man den Leuten lassen, die verstehen ihr Handwerk.
Zielgerichtet und effektiv. Das Haus ist weg. Verschwunden. Ausradiert.
Glauben Sie an eine Existenz nach dem Tod? Ich bin mir nicht sicher, aber ich würde es begrüßen. In einer anderen Form wohlmöglich. Vielleicht als...
Oh Gott nein! Was wollen die denn damit? Ich lach mir `nen Ast ab. Nein meine Herren, da müßt ihr schon was besseres auffahren. Das ist doch lächerlich! Hey Leute, ich habe Stürme überlebt und eine Kugel geschluckt. Ich habe einen Blitzschlag weggesteckt und wurde von einem Auto gerammt. Ich bin fast erfroren und währe beinahe verdurstet. Aber kommt mir nicht mit sowas! Ich bin zwar alt und krank, schwächlich und hohl, und nächste Woche, wenn es noch jemanden interessiert, werde ich meinen sechshundertsten Geburtstag feiern. Aber mit so etwas braucht ihr doch nun wirklich nicht zu kommen. Ich meine, sechshundert ist doch noch kein Alter für eine Eiche, nein wirklich nicht! Da ist man doch quasi erst in den "besten Jahren!"
Oh verdammt! Die Säge ist zwar klein aber sehr scharf. Alt aber gut. Ich glaube sogar es ist das gleiche Modell wie bei meiner Operation damals. Jetzt fängt es an zu schmerzen. Ohhh! Neiiin! Ich will noch nicht sterben! Ich hab noch so viel zu erzählen! Interessiert das denn niemanden mehr? Von damals als ich....Ahhhhh!
Die Menschen sind grausam! Sie zerstückeln mich. Sie sind herzlos. ICH habe ein Herz! Doch, ja, wirklich! Hier unten. Am Stamm. Das hat vor ettlichen Jahren mal ein verliebtes Pärchen da hineingeschnitzt. M&H! Mit einem Pfeil durch. Ich hab` sie gewähren lassen so verliebt wie die waren, hätte es......Oooohhhh! Gleich ist es so weit. Gleich sind sie durch! Eine Minute noch, höchstens.
Ja! Ja! Ja! Ich glaube an eine Existenz nach dem Tod! Als Brückenpfeiler oder als Dachbalken vielleicht, da hätte ich auch meine Ruhe. Das wäre schön. Oder als... nein, mit meinem hohlen, zerfressenen Stamm geht das sicher nicht. Aber bitte nicht... Ohhhhh tut das weehh... Bitte nicht... als... Furnier... das wäre doch wirklich... zu... deprimierend... für... mich.
Jetzt!
Es ist soweit!
Zum ersten mal!
Ich bewege mich!
Ich falle.
Ich fliege!
Bitte... kein Furnier!
Bitte! Denkt an mich, wenn ihr den nächsten Baum fä.....


© Mike Bußmann

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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