Andreas Rüdig

Eine Kohlegeschichte

Häuser bestehen aus Stein, die Fenster aus Glas. Naja, die meisten Häuser zumindest. Manche Häuser bestehen auch aus Beton, Marmor, Stahl oder komplett aus Glas. Baumhäuser sind aus Holz und Blätter gemacht. Und für Höhlen werden überhaupt keine Baumaterialien verwendet.
 
Mein Haus ist besonders. Es ist komplett aus Kohle gebaut. Wände, Möbel, einfach alles besteht  nur aus Kohle. Wie das geht, fragen Sie? „Ganz einfach,“ kann ich da nur antworten. „Ich wohne in einem stillgelegten Bergbaustollen.“
 
Er ist schon seit einigen Jahren verlassen, müssen Sie wissen. Und die Besitzerfirma des unterirdischen Stollens fürchtete damals Bergbau-Schäden in Form von Bodenabsenkungen. Was also tun? Den Stollen mit Haus- und Industriemüll füllen ging nicht; dafür ist er zu groß und riesig. Auch für Kunstausstellungen, Musikaufführungen und ähnliche Massenveranstaltungen ist der Stollen denkbar ungeeignet – wer möchte als Besucher schon so tief in den Untergrund hinein?

Ich war damals gerade mit meinem Architekturstudium fertig und auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung und geeigneten Büroräumen. Sie sollten billig sein, zentral gelegen, vor allem aber ruhig. Kein Verkehrslärm, keine schreienden Kinder. Ich brauche diese Ruhe, um konzentriert arbeiten zu können.
 
„Hast du schon gehört? Die KFBG sucht einen neuen Nutzer für ihre Stollen.“ - „Wer bitte ist die KFBG“ begehrte ich zu wissen. „Na, die Kohle-Förderungs- und Bearbeitungsgesellschaft,“ gab mein Freund Konstantin staunend zur Antwort. „Hast du noch nie von ihr gehört?“

Nein, das hatte ich wirklich nicht. Warum er gerade mich anspreche, wollte ich von Konstantin wissen. „Na, überlege doch mal. Du bist Architekt und momentan noch ohne Auftrag. Ruf doch mal an. Vielleicht kannst du dir ja hier deine ersten Sporen verdienen.“
 
Hat doch was für sich, diese Idee, ober nicht? Also nahm ich Kontakt zur KFBG auf. Und schaute mir den Stollen an. Und machte mir Gedanken über neue Nutzungsmöglichkeiten. Und bekam tatsächlich den Auftrag, sie zu realisieren.

Was hatte ich geplant? Wollen Sie das wirklich wissen? Ja? Dann werde ich es Ihnen erzählen. Ich hatte eine kleine Stadt dort geplant. Ja, ja, ich weiß, das Wort „Stadt“ hört sich so pathetisch an. Vielleicht und möglicherweise wäre das Wort „Künstlerkolonie“ doch besser.
 
Für mich hat es immer Sinn gemacht, eine solche Künstlerkolonie dort unten zu planen. Sind die Künstler und Kreativen unter sich, können sie ungestört arbeiten. Niemand lenkt sie ab. Alkohol? Drogen? Frauengeschichten? Schwierig, so alleine. Aus lauter Langeweile macht man sich an die Arbeit. Musiker werden in einer Gegend untergebracht, wo sie sich nur gegenseitig – wenn überhaupt – stören können.
 
Die Versorgung mit Lebensmitteln, Strom, Wasser, Telefon und was man sonst noch so zum Leben braucht, bleibt gesichert. Die Fördertürme werden ja nicht abgebaut; nach einer Renovierungsphase sind sie wieder voll funktionsfähig. Und sollten die in Stollen lebenden Künstler wirklich mal Sehnsucht nach dem Sonnenschein haben, können sie auf diesem Wege nach oben kommen.

Die Sicherheit ist kein Problem. Die Künstlerkolonie kann auf das Sicherheitssystem des Bergwerkes zurückgreifen. Genauso wie der Förderturm wird es noch renoviert und repariert; sind die Kreativen erst einmal eingezogen, wird es ständig überprüft und in Stand gehalten.
 
Künstler sind ein abergläubisches Volk. Ihnen ist leicht Angst einzujagen. Kommen schwarze Katzen (was bei dem vielen Kohlenstaub nicht ungewöhnlich wäre) von rechts, ist für sie der Tag gelaufen – sie sind dann überzeugt, daß an diesem Tag ein Unglück passieren wird. Ein Musiker hat mich sogar gefragt, ob ich ihm für diesen Fall nicht einen Glücksring besorgen kann.
 
Warum ich das alles erzähle? Ganz einfach. Nun, wie gesagt, Künstler sind abergläubisch. Sie haben natürlich mitbekommen, daß es Haus- und Berggeister gibt. Lustige und nützliche. Übellaunige, mißmutige und gemeine. Und natürlich die heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute. Sie wird auch uns Stollenbewohnern beistehen und Schaden von uns abwenden. Hoffe ich zumindest. Bei Frauen kann man sich ja nie sicher sein...
 
Kobolde sind Haus- und Naturgeister. Der Kobold ist ein Hausgeist, der das Haus schützt. Die Gemeinheit an ihm: Er neckt die Bewohner gerne. Eine Sache ist ihm allerdings wesensfremd: Der richtet nie Schaden an. In der Mythologie gehören die Kobolde zur sogenannten „niederen Mythologie“. Sie gehören dazu zu den Elfen. Der Klabautermann als „Kobold des Schiffes“ gehört genauso zu den Elfen. Nixen, Zwerge, Wichtel, Waldmännlein und Landwichte sind elbische Naturgeister. Möchte man ihnen opfern, stellt man ihnen eine Schale Milch über Nacht bereit.
 
Ach, warum belästige ich Sie mit so viel wissenschaftlicher Theorie? Fahren wir einfach fort in meiner Geschichte.
 
Mein Kobold heißt Willi. Wie er aussieht, wollen Sie wissen? Er ist klein, reicht mir gerade mal bis zum Bauchnabel. Er hat Arme, Beine, einen Rumpf und einen Kopf, genau wie wir Menschen. Seine Augen sind völlig weiß. „Ich brauche sie nur noch selten,“ berichtet er. „Hier unten ist ja ständig dunkel. Da hat sich bei uns Kobolden eine Art Infrarotsystem in unseren Augen gebildet und die frühere Pupille ergänzt.“ Seine Ohren sind riesengroß, am oberen Teil des Kopfes befindlich und frei beweglich. „Kohle leitet hervorragend Schall,“ hat mir mal Willi erzählt. „Ich habe ein bewegliches akustisches Ortungssystem.“
 
Wie er denn zu einem Kohlenstollenbewohner geworden sei, habe ich ihn eines Tages gefragt. „Ich lebe schon seit dem Karbonzeitalter hier,“ hat er da gesagt. „Eines Tages spielte ich mit meiner Schwester verstecken. Sie war gerade dran mit dem Suchen. Da bin ich auf einen Baum geklettert und wollte mich dort verstecken. Auf einmal hat dann der Boden gewackelt und der Baum ist umgefallen. Ich bin natürlich mit dem Baum umgefallen. Auf den Boden bin ich gestürzt, ins Wasser geplumpst und über den glitschigen Untergrund in ein Loch desselben geschlittert. Auf diese Art bin ich in einer Bodenspalte gelandet, aus der ich aus eigener Kraft nicht mehr herausgekommen bin.“ Moment mal – wenn das alles in der Karbonzeit passiert ist – wie alt ist Willi dann? „Alt. Sehr alt. Viel zu alt,“ antwortet er. Offensichtlich weiß er es selbst nicht. Aber nun weiter in der Geschichte. Wovon her er sich dann ernährt, wenn Willi nicht mehr an die Erdoberfläche kommen konnte? „Ja, weißt du, es war ja gerade die Zeit, in der die Kohle entstanden ist. Es sind ja nicht nur Äste und Baumstämme und Kobolde in das Loch im Boden gefallen. Oft genug waren es auch Obst und Gemüse. Davon konnten wir uns dann ernähren.“ Wir? Wer ist „wir“? „Habe ich das nicht erzählt?“ Nein, hast du nicht. „Es gab da unten noch andere Kobolde. Ich bin ihnen auf der Suche nach einem Ausgang begegnet.
 
Das Gold der Kohlen
Unter sieben Sohlen
Tief mußt du steigen, willst du es holen
Zum Schleppen brauchst du viele Fohlen
 
 
Komm mit, Chef, ich zeige dir das Paradies unter Erden.
 
Ich horchte nur kurz auf, als ich Willi das sagen hörte. Entgegen allen Gepflogenheiten und hierarchischen Gewohnheiten folgte ich ihm auch. Ich war neugierig auf das, was er mir zeigen wollte. Natürlich zeigte er mir die Gartenanlagen und Blumenfelder, die Seelandschaften und Tropfsteinhöhlen. „Wir müssen aber unter die nächste Sohle, wenn du die wahren Schätze sehen möchtest,“ meine Willi am Ende der Führung. Und ob ich das wollte. Also drückte mir Willi die Leiter in die Hand, führte mich zum nächsten Loch im Boden und hieß mich, dort hinunterzusteigen.
 
Schon nach wenigen Metern Klettern erreichte ich eine neue Kammer. Daß die Kohle „schwarzes Gold“ genannt wird, war mir ja bekannt. Hier aber funkelte, glitzerte und strahlte es nur so, daß es mich blendete. Bernstein gab es hier, Gold, Silber, Edelsteine und Edelmetalle in Hülle und Fülle. Willi mußte mir meine Begeisterung angesehen haben. „Gefällt es dir,“ fragte er mich schüchtern. „Ja,“ konnte ich nur hauchen. „Dann sei es dein. Es gehört jetzt dir,“ antwortete Willi in fast schon erleichtertem Tonfall. „Ich wußte nämlich nicht, was ich mit dem ganzen Plunder anfangen sollte.“ Willi war wirklich so naiv, er tat nicht nur so. „Wenn ich auf dich aufpassen kann, Cheffe, dann habe ich alles, was ich brauche.“ Behauptete Willi jedenfalls, als ich ihn daraufhin ansprach. Ob wohl auch die anderen in der Künstlerkolonie diesen Schatz finden, womöglich plündern können, wollte ich dann noch wissen. „Theoretisch schon. Dagobert kennt die Höhle nämlich auch. Und Dagobert ist sehr geschwätzig.“ Und die Künstler wissen noch nichts von diesem Schatz? „Nein, bestimmt nicht. Dann wäre der doch bestimmt schon geplündert, oder?“ Also soll er meiner sein, meiner ganz allein. Und Willi, dieser Tölpel, wird mir dabei helfen … wozu ist er denn Kobold? … Es ist doch die Aufgabe und Pflicht von Kobolden, uns Menschen zu necken, nicht wahr?
 
(Szenenwechsel, in der Agentur für Singspielherstellung)
 
Hört mal her, Leute, mir ist da eine Idee gekommen. Ich habe gestern eine Revue im Fernsehen gesehen. Herbert Jahnke-Knebel und Gerburg Affe haben eine Revue, eine Hommage auf die Trinkhalle, auf die Bühne gezaubert. Wir werden so etwas ähnliches machen. Bei uns wird allerdings der Förderturm im Vordergrund stehen.
 
(ein Probenrau, im Hintergrund ist ein angedeutetes Fördergerüst aus Holz und Pappe zu sehen)
 
(Mann, singend)
 
Wenn ich hier auf Halde steh´
Und den Sonnenaufgang seh´
Denk ich an meine Frau
Und ich weiß genau
Und mir ist klar
Wie schön das alles war.
 
                                          (Hintergrundchor) Wie schön, wie schön.
 
(im Sprechgesang)
 
Dieser Kerl von Obersteiger
Ist ein großer Schweiger
Ich weiß es ganz genau
Er nahm mir meine Frau
 
 
(Szenewechsel, wieder bei mir)
 
Es hört sich furchtbar an, wie Ezechiel, Nahum, Habakuk und all´ die anderen da oben auf der Bühne singen, nicht wahr? Ich muß das verhindern. Sag mal Willi, was machen wir da?
 
Als ob ich das wüßte. Wozu wir Kobolde alles gut sein sollen. Wir können unsere eigenen Menschen besser erschrecken als andere Leute…
 
                                                                           ..na, dann verschenke ich dich eben; dann erschreckst du die Chaoten-Truppe und tust auf diese Art und Weise eben uns beiden einen Gefallen.
 
              Nein, bloß das nicht. Du bist ein guter Chef, der beste Gebieter von allen. Ich werde mir schon was einfallen lassen, um nur nicht verschenkt zu werden.
 
Leise rieselt der Schnee. Ach nein, so heißt ja das Weihnachtslied. Hier rieselt es grobkörniger, hart, fest und vor allem schwarz. Das ist kein sanfter Schnee; das ist Kohlenstaub. Schabt da jemand mit einer groben Kohlenraspel an der Decke? Aua. Das war ein Kohlenstück. Und da flog gerade ein Brikett an meinem Ohr vorbei. War ich wirklich so schlecht? Nein, ich glaube nicht. Aber egal. Hier ist es zu gefährlich für mich. Ich werde jetzt die Flucht ergreifen.
 
Es gibt Sandburgen und Schneemänner. Ich baue Skulpturen aus Koks und Kohle…
 
Holz, Eisen (für die Beschläge) und gelegentlich Glas. Ob es wohl auch möglich ist, Möbel und Antiquitäten aus Kohle herzustellen? Eventuell sogar Geschirr?
 
Kann man Kohle für Cola verwenden? … Ja, man kann. Es schmeckt sogar sehr gut und bekömmlich.
 
Willi hat gute Arbeit geleistet. Diese Pseudo-Künstler sind verschwunden.
 
(ein Kommentar in der örtlichen Tageszeitung) Ist das Wohnen, das verlotterte Künstlerleben unter Tage gescheitert? Diesen Eindruck muß man gewinnen, wenn man auf unsere Künstlerkolonie vor Ort einen genaueren Blick wirft. Vor einem Jahr zog sie in den verlassenen Bergwerksstollen unter Tage ein.
 
„Dort gibt es Gespenster,“ behauptet Gernot, der Punksänger. „Angeblich hat mein schriller Gesang einen Steinschlag ausgelöst. Hätte ich überall Haare gehabt, wäre meine Kopfhaut nicht so verunstaltet worden, behauptet mein Arzt. Alles Quatsch. Da hat jemand nachgeholfen.“
 
Es gebe verborgene Spalten, Gänge und Räume, ergänzt Hadomar, der Aktionskünstler. Er sei selbst in ein Loch gefallen, das es zuvor nicht an dieser Stelle im Boden gegeben habe. „Das muß jemand in Sekundenschnelle gegraben haben, ohne daß ich es bemerkte.“
 
Suchtrupps konnten aber keine Unregelmäßigkeiten feststellen. Alles ist da, was es laut Plan sein soll. Auch von Kobolden und anderen Sagengestalten war nichts zu finden. Da muß unseren Künstlern wohl die reichlich vorhandene Phantasie durchgegangen sein.
 
(Ich, in Gedanken, beim Lesen des Textes) Hihihi. Diese Tölpel! Diese Idioten! Nichts haben sie gefunden! Willi hat gute Arbeit geleistet. Er hat meine Schätze rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Leider muß ich jetzt auf ihn verzichten. Er will sich von seinem Bergwerksstollen partout nicht trennen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.11.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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