Alfred Hermanni

Bekifft in Deutschland - Amok

 

von Alfred Hermanni 18.11.2013 Alle Rechte vorbehalten

 

Ich hatte es doch schon vorher gewusst. Trotzdem öffnete ich den Kühlschrank. Der Anblick strahlend weiß gähnender Leere, zwang mich nun doch noch aktiv zu werden. Nun gut, was ich einkaufen musste war die eine Sache, die nötigen Mittel dafür aufzutreiben die andere. Die gähnende Leere meines Kühlschrankes beruhte auf der Abwesenheit jeglichen Zahlungsmittels in meiner Geldbörse. Gähnende Leere weit und breit.

Ich hatte nicht viel Möglichkeiten, bis zum Treffen mit Hassan, meinem Lieferanten für bestes marokkanisches Dope, waren es noch zwei Tage. Hassan, das war auch so ein Flocke. Als ich ihn kennenlernte, behauptete er Marokkaner zu sein. Irgendwann mal saßen wir unter Freunden zusammen, als der Weltmeister auftauchte. Wolfgang hieß er und war als Der Weltmeister in der Szene bekannt. Er konnte alles, wusste alles besser und war sowieso der einzige der den Durchblick hatte. Jedenfalls war er derjenige, der Hassan durch ein paar gezielte Fragen eingestehen ließ, dass er kein Marokkaner sei, sondern Algerier, aber an der Grenze zu Marokko geboren wurde. Was sich aber trotzdem später als nicht wahr erweisen sollte. Hassan war nämlich, nach letztem Stand der Dinge, Tunesier. Aber Hassan war es auch, der mir immer sagte: „Udo, du kannst zwar dealen, aber mach irgendeinen Job, irgendwas, sonst wirst du irgendwann als Berufsdealer eingeknastet.“

Recht hatte er ja, aber damals hatte ich mit meinen Bewerbungen einfach kein Glück. Stütze vom Amt bezog ich auch nicht, also musste ich irgendwie Geld auftreiben. Mit kleinen Deals hielt ich mich halbwegs über Wasser. Aber je mehr Zeit verging, um so alltäglicher wurde die Dealerei und irgendwann ist es fast so als ob man arbeitet. Nur mit der leisen Angst, dass sich irgendwann eine Hand auf meine Schulter legt und ich höre: „Sie sind verhaftet!“

Davon blieb ich aber bis jetzt verschont und wollte es auch bleiben.

Für heute allerdings sollte das meine geringste Sorge sein.

Denn ich wusste noch nicht was auf mich zukommen sollte.

 

*

 

Leider kann man heute im Supermarkt nicht mehr anschreiben lassen; klauen war erst recht keine Option. Also blieb mir nichts anderes, als ein Stück von meinem Brösel abzugeben. Immerhin war es eine gute Sorte, bestes marokkanisches Haschisch aus Ketama, der Hochburg des Hanfanbaus in Marokko.

Vom letzten Deal hatte ich noch eine halbe Platte, zirka fünfzig Gramm die ich eigentlich abbunkern wollte. Für schlechte Zeiten.

Jetzt war wohl eine schlechte Zeit, aber das sie so schnell kam ...

Ich wohnte damals in einer üblen Gegend. Direkt vor meinen Haustür trafen sich die Junkies, Säufer, Nutten und deren Freier, Penner und das ganze Kroppzeug was der Moloch einer Großstadt nur ausspeien konnte.

Bevor ich meine Wohnung bezog, traf sich die deviante Gesellschaft in einem nahe gelegenen, kleinen Stadtpark.

Aber irgendwann beschloss die Stadt den Park zu „säubern“ und schickte Horden von Bullen los, um die Abweichler woanders ansässig werden zu lassen.

Die Folge war, dass nun der kleine Platz vor meiner Haustür der neue Treffpunkt wurde.

Der lokale Kioskbesitzer freute sich diebisch. Der Bierkonsum stieg unaufhörlich, mit entsprechender Lautstärke bis spät in die Nacht.

Das Lebensmittelgeschäft (dessen Name ich hier nicht erwähne) allerdings, war dieser plötzlich auftretenden, geballten Ladung krimineller Energie nicht gewachsen.

Der Diebstahl von Alkohol, hauptsächlich billiger Wodka (warum gerade der Preiswerte, weiß ich auch nicht) stieg ins Uferlose. Ein Jahr später wurde der Laden geschlossen.

Blöd für mich, weil ich jetzt zehn Minuten laufen musste.

Blöd auch deshalb, weil das, was da noch kommen sollte, von mir nicht erlebt worden wäre, wenn der Laden noch da gewesen wäre. Ja, ich weiß. Hätte, hätte, Fahrradkette.

 

*

 

Es war nicht schwer zehn Gramm an den Mann zu bringen, nur das scheiß Risiko hier auf der Szene aufzufallen passte mir gar nicht. Es war eigentlich nicht mein Stil, kleine Mengen auf der Straße zu verkaufen.

Warum ich als Dealer kein Geld hatte? Ich lebte davon und die Gewinne sind lange nicht so groß wie sie in den Medien und schlechten Kinofilmen dargestellt werden, es reichte eben gerade zum Leben. Wenn es gut lief konnte ich an einem Kilo Dope vielleicht 750.- DM verdienen, das heißt, ich musste zwei Kilo pro Monat umsetzen. Hoch gerechnet also fast einen halben Zentner im Jahr. Das würde ohne Probleme fünf Jahre Knast einbringen, wenn man es nachweisen konnte. Und das alles nur, um gerade eben durch zu kommen.

Der letzte Deal hatte leider nicht soviel eingebracht wie ich erhofft hatte und nun fehlte mir das Geld für die nächsten paar Tage.

Aber das war nun egal, ich hatte über hundert Mark, davon konnte man schon einiges einkaufen.

Nach dem unangenehmen Straßendeal ging ich noch einmal in meine

Wohnung und baute mir einen Joint.

Während ich ihn genüsslich aufrauchte, überlegte ich mir was ich mir auf

den Einkaufzettel schreibe, denn bekifft in den Laden gehen und

wahllos einkaufen führt nur dazu, dass ich den Korb voller Süßigkeiten,

Schmackofatz und andere Leckerchen habe.

Nachdem ich alles aufgeschrieben hatte zog ich noch einmal

an meinem kleinen Joint und ging los.

 

 

*

 

Nach zehn Minuten erreichte ich den Laden, nahm mir einen Korb und ging hinein. Ein paar Minuten später war der Korb fast voll, mit allen möglichen Schokoladen, Weingummi und Lakritzen, das wirklich Wichtige hatte ich natürlich nicht eingepackt. Also noch mal von vorn, Leckerchen raus, echte Lebensmittel rein und ab zur Kasse.

Heute waren nur zirka zehn bis elf andere Kunden vor mir an der Kasse. Bekifft ist diese Wartezeit extrem langweilig und scheint gar kein Ende zu nehmen. Nach dem Bezahlen fiel mir auf, dass ich vergessen hatte Kaffee und Milch mitzunehmen, normal wenn man angetörnt ist.

Also noch mal rein und dasselbe Spiel an der Kasse, mit wieder fast einem Dutzend Kunden vor mir, wieder gelangweilt dort warten und endlich war ich an der Reihe meine Sachen zu bezahlen.

Jetzt brauchte ich nur noch nach Hause zu gehen. Ich freute mich schon auf ein Tässchen Kaffee und ein Stück lecker Apfelkuchen. Die Taschen mit den Lebensmitteln zogen schwer an meinen Armen, es war recht warm draußen und der Weg nach Hause schien kein Ende zu nehmen.

Vor mir sah ich schon die Szenekneipe „Gypsy“, das heißt die Hälfte des Weges war geschafft, nur noch fünf Minuten bis nach Hause. Völlig in Gedanken ging ich an der Kneipe vorbei als ein lauter Knall mich erschreckte.

Ich drehte mich um und der wahre Schrecken begann.

 

 

*

 

Ich erblickte das zu einer Grimasse verzogene Gesicht eines türkischen Mannes, seine erhobene Hand hielt einen schweren Revolver und bewegte sich in meine Richtung.

Obwohl er mehrere Meter entfernt war, kam mir die Pistolenmündung riesig groß vor. Wie in Zeitlupe sah ich wie er anlegte, den Finger krümmte und eine orange grelle Feuerlohe aus dem großen, schwarzen Loch des Revolverlaufes hinaus explodierte.

Das war’s, Ende, Aus, Game over, dachte ich aber der tödliche Einschlag blieb aus.

Ein gurgelndes Geräusch schräg hinter mir ließ mich den Kopf wenden und ich sah einen jungen, knapp zwanzig Jahre alten Türken, der die Augen nach oben verdrehte und langsam in sich zusammensank. Ein Schwall Blut schoss aus seinem Hals, als der nächste Schuss ihn in die Brust traf, obwohl er schon am Boden lag.

Ich stand wie zur Salzsäule erstarrt, hörte den nächsten Schuss und sah einen anderen, ebenfalls noch jungen Türken der versuchte wegzulaufen. Wieder ein Schuss und seine Jacke hatte plötzlich ein rot gefärbtes Loch im Rücken. Er lief mit runter hängenden Armen noch ein paar Meter und brach zusammen. Er war schon tot bevor er die letzten paar Schritte machen konnte. Der Fluchtreflex hatte das bewirkt, so wie ein Huhn dem man den Kopf abhackt, noch weiterfliegen kann. Da lag er nun und der Killer knallte ihm noch eine Kugel in den Kopf.

 

*

 

Der Wahnsinn nahm kein Ende, denn ich sah wie dieser Amokläufer die Trommel seines Revolvers leerte und ein eine neue Ladung einlegte.

Wie kann er nur so ruhig dastehen und in aller Ruhe mit diesem Wahnsinn, diesem Schrecken weitermachen? dachte ich.

Er legte wieder an, zielte wieder in meine Richtung, drückte ab und wieder blieb der befürchtete Einschlag aus. Stattdessen schrie sich links hinter mir ein anderer Mann buchstäblich die Seele aus dem Leib.

Er war in den Bauch getroffen worden und presste seine blutigen Hände auf die Wunde, konnte allerdings den Blutstrom aus seiner Bauchhöhle nicht aufhalten und brach in die Knie.

Mittlerweile hatte mich der eisige Schrecken voll im Griff. Ich war nur noch Beobachter, Statist, zu keiner Reaktion mehr fähig. Diese Mischung aus Tetrahydrocannabinol, Adrenalin und all den anderen Wirkstoffen unserer Körperchemie, ließ mir den Grat zwischen

Wahnsinn und Realität winzig klein erscheinen.

Trotzdem ging es weiter. Der nächste Treffer und ein anderer Mann stürzte nieder und hielt sich den Oberschenkel.

Wimmernd lag er am Boden und versuchte mit seinen Händen die Wunde zu schließen. Blutig rot färbten sich seine Finger. Auf der anderen Straßenseite sah ich eine junge Frau mit mehreren Kindern hinter einem Auto in Deckung gehen.

Die großen, vor Angst geweiteten Augen der Kinder hatten dieses infernalische Szenario des Schreckens wahrgenommen, doch auch sie hielt die Angst gefangen, denn kein Laut kam über ihre Lippen.

Von anderswo hörte ich panische Schreie, das Kreischen von Frauen. Wie durch Watte gedämpft drangen die Laute in mein Ohr.

Noch immer stand ich am Straßenrand und konnte mich nicht rühren.

Nun wusste ich, was es bedeutete stoned zu sein. Wie versteinert, zur Bewegungslosigkeit verdammt nahm ich wahr, wie der verrückte Türke langsam auf mich zu kam und mir in die Augen blickte. Er grinste mich an und sagte nur drei Worte: „Hast Du Problem?“.

Dann ging er an mir vorbei und ich sah ihn nie wieder.

 

Kurz darauf war auch schon die Polizei mit mehreren Fahrzeugen und zwei Rettungswagen vor Ort. Ich stahl mich davon, bloß nach Hause, irgendwie den Schrecken verdauen, aber nicht mit einem kleinen Joint...

 

 

ENDE

 

 

Liebe Leser.

Auch diese Geschichte lässt vermuten, dass ich sie mir ausgedacht, aus den Fingern gesogen, an den Haaren herbeigezogen habe, und sie schlicht und einfach nie passiert ist.

Leider Falsch!

Im Juli 2002 kam ich tatsächlich von einem Einkauf, als keine 20 Meter hinter mir ein lauter Knall ertönte, dann noch einer und noch einer und...

ich tatsächlich den jungen, aber toten Türken sah,wie er die letzten Schritte seines jungen Lebens machte und zusammenbrach.

In diesem Inferno starb ein weiter junger Türke, Freund des ersten Opfers. Ein Passant, der zufällig daher ging wurde schwer verletzt, ebenso ein weiterer Mann, der gerade die Fenster der Szenekneipe putzte. Zwei Tote, zwei Schwerverletzte. Grausige Bilanz des Horrors.

Das alles nur wenige Meter hinter mir. Wäre ich nur etwas später erschienen, 10 Sekunden vielleicht, wer weiß, dann wäre ich möglicherweise eines der Opfer geworden.

Der Täter und sein Helfer, der den Fluchtwagen fuhr, wurden noch in derselben Nacht verhaftet. Es war kein Amoklauf, wie ich in der Story dachte.

Es war ein „Ehrenmord“. Fragt mich nicht was daran ehrenvoll sein soll. Schlimm genug, dass die Medien diese Formulierung so gedankenlos übernommen haben. Der junge Mann, das erste Opfer, hatte während eines Urlaubes in der Türkei ein junges Mädchen kennengelernt, lieben gelernt. Aber dieses junge Mädchen war wohl irgendeinem alten Sack versprochen, der sie schon in jungen Jahren gekauft hatte.

Dessen „Ehre“ war der Grund, warum der Dorfälteste den Todesbefehl gab. Aber auch der Dorfälteste wurde, laut Medien, in der Türkei verhaftet.

 

 

 

 

 

 

Wie alle Stories aus der Reihe Bekifft in Deutschland... beruht auch diese auf wahren
Begebenheiten, die ich oder Personen aus meinem Umfeld erlebt haben. Auf dieses
Erlebnis hätte ich aber gern verzichtet. Zu sehen wie Menschen erschossen werden hat
mich sehr bestürzt. Zu sagen wäre noch: Schon bald nach der Tat wurde im Dortmunder
Radiosender darüber berichtet und meine Frau bekam plötzlich ein sehr ungutes Gefühl
als sie auf ihrer Arbeitsstelle davon hörte.
Alfred Hermanni, Anmerkung zur Geschichte

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Dieses Buch ist ein Teil meines Lebens, das ich schrieb, als ich gerade mein zweites Kind verloren hatte. Bis dahin war mir unbegreiflich, warum es gerade immer mich traf, dieses viele Pech und Unglück. Mir alles von der Seele zu schreiben, war eine große Erleichterung für mich, zu vergleichen mit einer Therapie. Es half mir einfach . In dem Moment , als ich alles Erlebte niederschrieb, durchlebte ich zwar alles noch einmal und es schmerzte, doch ich hatte mir alles von der Seele geschrieben und fühlte mich erleichtert. Genau dieses Gefühl, möchte ich an Leser heranbringen, die auch vom Pech verfolgt sind, damit sie sehen, das es trotzdem doch immer weiter geht im Leben. Ebenso möchte ich es an Menschen heranbringen, die nicht soviel Pech im Leben hatten, aber sich gar nicht mit anderen Sorgen von Fremden belasten wollen. Und wenn es nur ein einfaches Gespräch oder ein guter Rat ist, das hilft schon sehr viel.

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