Karmen Buletinac

Ein Teil von mir

Ich sitze im Auto und mein Körper zittert. Ich bin nicht fähig loszufahren, bin nicht fähig mich zu bewegen. Noch vor ein paar Minuten stand ich dir gegenüber, Aug in Aug mit einem Fremden. Wie kann es sein dass du mir so fremd bist? Wie oft habe ich mir diesen Moment herbeigesehnt, wie oft habe ich mir ausgemalt wie es wohl sein würde, wenn ich dich das erste Mal treffe. Was würde ich sagen? Was würdest du sagen? Würden wir uns in die Arme fallen? Wäre alles vergeben und vergessen? Es hätte der schönste Tag meines Lebens werden können, hätte – denn du hast es zerstört – du hast mir den Boden unter den Füßen weggerissen, wieder einmal!

24 Jahre ohne den eigenen Vater, das ist für ein Kind verdammt hart. Es gibt nun mal Situationen im Leben wo man einen Vater brauchen könnte. Wo man ihn sich wünschen würde. Ich hatte nie einen, denn du hast dich gegen mich entschieden. Zu jung, zu unreif, viel zu viel Verantwortung… all das wolltest du damals nicht. Aber hast du dich jemals gefragt was ich gewollt habe, oder was ich mir gewünscht habe? So verleugnet zu werden ist wie ein Schlag ins Gesicht. Die Neuigkeit aber, dass du schon zwei Jahre nach mir eine Familie gegründet hast, hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Wie kann man ein Kind verstoßen und das nächste lieben? Hast du dich jemals gefragt wie es mir geht und ob ich zurecht komme? Wohl kaum.

Mein ersten Schritte, mein erster Tag im Kindergarten, Schule, im Tanzverein … wo warst du? Wo war der Vater den ich so vermisst habe, all die Jahre? Ich habe mir tagein- tagaus die Frage gestellt ob es an mir liegt. Doch was kann ein kleines Kind schon dafür? Die Entscheidung lag ganz bei dir und du hast mir den Rücken gekehrt. Nächtelang wach gelegen, geweint, Gedanken hin, Gedanken her.. keine Antworten gefunden aber der Wunsch dich kennen zu lernen war immer da und mit dem Alter stieg er. Die Neugierde auf den anderen Teil von mir wurde immer größer und er ließ sich nicht unterdrücken.

Monatelang recherchiert und dann hielt ich sie in Händen, deine Adresse. Völlig losgelöst ins Auto gestiegen, stundenlang gefahren bis ich hier vor deinem Haus stand. Mein Herz raste, meine Hände schwitzen, Euphorie und Angst vermischten sich. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag hören. Jetzt oder nie.

Seit zehn Minuten stehe ich vor deiner Tür und traue mich nicht anzuläuten. Ich bin wie gelähmt, ich habe Angst. Was wirst du wohl sagen? Wirst du mich herzlich empfangen? Ja, das wirst du bestimmt, ich bin doch dein Kind! Die Angst weicht und die Freude überwiegt. Noch nie war ich so entschlossen. Ja, ich werde klopfen, du wirst aufmachen und wir werden uns in die Arme fallen. Wir werden stundenlang Gespräche führen und vielleicht werden wir sogar miteinander lachen oder miteinander weinen… Das jahrelange Warten, die jahrelange Sehnsucht hat nun ein Ende.

Ein gut gebauter Mann öffnet mir die Tür, sein Blick ist streng und er mustert mich von oben bis unten. Mir bleibt die Spucke weg. Da bist du! Mein Vater! Ich versuche zaghaft zu lächeln und strecke dir die Hand hin. Du schaust verunsichert. Wer ich bin? Oh…der Moment der Wahrheit!!

Tochter? Seine? Er schaut sich hektisch um und macht einen Schritt auf mich zu um die Tür hinter sich zu schließen. Er ist nicht alleine in der Wohnung denn von innen höre ich Stimmen. Noch einmal mustert er mich. Er scheint verärgert zu sein dass ich hier aufgetaucht bin. Er fängt zu schreien an, was mir bloß einfällt, er möchte mit seiner Vergangenheit nicht konfrontiert werden, er möchte nicht dass seine Familie davon erfährt, das würde alles verändern für ihn. Er fährt sich durch die Haare – sieht irritiert aus. Ich stehe nur wie angewurzelt da und die Tränen laufen mir über die Wangen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Nein, bitte dreht die Zeit zurück, der Film läuft schief! Er sollte mich doch umarmen, er sollte sich doch entschuldigen, sich freuen, ich bin hier die Leidtragende nicht er…

Ein kleiner Junge öffnet die Wohnungstür und ruft nach seinem Vater… mein Bruder! Meine Gefühle spielen verrückt. Am liebsten würde ich auf der Stelle laut losheulen. Ich habe das Gefühl ohnmächtig zu werden, doch ich versuche mich zu beherrschen. Er nimmt den kleinen Jungen auf den Arm. Der Kleine beäugt mich skeptisch und fragt wer ich bin.

Niemand, denke ich mir. Ich bin niemand! Auf einmal taucht hinter ihm eine große hübsche Frau auf, seine Frau! Mein Vater dreht sich zu mir und sagt „Danke, aber wir sind an Ihrer Zeitung nicht interessiert, kommen Sie gut nach Hause, Auf Wiedersehen“

 

Aufwiedersehen! Nein, es wird kein Wiedersehen geben, das ist mir nun klar. Noch immer sitze ich hier vor deinem Haus im Auto und bin nicht fähig loszufahren. Da oben in der Wohnung bist du nun, mit deiner neuen Familie. Eine glückliche Familie wie es schien und ich bin nicht willkommen, ich bin die Vergangenheit mit der du nicht konfrontiert werden möchtest.

Die Tränen lassen sich nicht zügeln. Ich bin nicht Herr über sie! Nicht über meinen Körper und auch nicht über meine Gedanken. Und auch wenn ich für dich Niemand bin, wirst du für mich immer ein Teil von mir sein.

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