Peter Biastoch
Regenimpressionen
Endlich finde ich, seit langem, wieder einmal die Möglichkeit, mich ganz entspannt in meinen Sessel zu setzen, den PC hochzufahren, mir die Tastatur auf die Beine und die Maus auf die Armlehne zu legen und meine Gedanken in Worte zu kleiden.
Die Hände ruhen am unteren Rand des Tastenfeldes und die Finger streichen über die Buchstabenreihen, die geduldig die Befehle entgegennehmen und auf das leere Blatt auf dem Monitor bannen.
Ich lehne mich zurück und versuche mich wieder in die Situation von gestern, zu versetzen, die ich so intensiv erlebt hatte.
Es war Nachmittag, so gegen fünfzehn Uhr. Seit dem Aufwachen am Morgen hatte es schon mehr oder minder stark geregnet. Die routinemäßigen Arbeiten bis dahin waren erledigt, mein zweiter Mann hatte sich verabschiedet, um noch zwei Überstunden abzusetzen und ich hatte noch eine letzte Lieferung allein hinter mich gebracht.
Nun fuhr ich also mit dem VW leer zurück in Richtung Bauhof. Die Ladefläche leer und kein Mensch auf der Plattenstraße, die eigentlich auch nur ein besserer Feldweg ist. Für heute würde es keinen weiteren Auftrag geben und es lockte mich nichts zurück auf den Bauhof, wo lediglich alle auf den Feierabend warten würden. Also lenkte ich den Transporter in die nächste Ausweichtasche und stellte den Motor ab.
Die beiden Wischerblätter hatten gerade noch einmal über die Frontscheibe gestrichen, das Wasser sauber entfernt und sich am unteren Scheibenrand zur Ruhe begeben. Doch noch bevor dies geschehen war, trafen bereits wieder Regentropfen die Fläche der freigewischten Scheibe. Ich sah genauer hin. Auch kleine, bizarr geformte, Kristalle fielen auf die Scheibe. Doch innerhalb von Sekundenbruchteilen, noch ehe ich ihre Form so richtig erkennen konnte, zogen sie sich zu kleinen Wassertöpfchen zusammen.
So nach und nach wurden es immer mehr dieser Wasserperlen. Dann sah ich, wie sich zwei dieser Perlen berührten und augenblicklich miteinander verschmolzen. Nun war daraus ein richtiger Tropfen geworden, der sich, dem Gesetz der Schwerkraft gehorchend, auf den Weg in Richtung unteren Scheibenrand machte. Doch irgendwie erschien es mir, als ob er etwas dagegen hätte, und so verlief seine Bahn nicht geradlinig, sondern er zog eine grazile Zickzackspur. Dabei vereinigte er sich immer wieder und auch immer häufiger mit anderen Töpfchen, die noch nicht den Weg nach unten angetreten hatten.
Dadurch schwoll er an. Er wurde größer und damit auch schneller. Schließlich vereinigte er sich mit dem ersten seiner Art – ebenfalls ein Tropfen, der sich schon der Gravitation gebeugt hatte. Damit gab es kein Halten mehr. Die Spur, die diese, ineinander geflossenen, nun zogen, war geradlinig und nur eine Windböe, die mein Fahrzeug von der Seite traf, brachte noch einmal ein seitliches Ausbrechen dieser Spur mit sich.
Immer mehr solcher Rinnsale überzogen mittlerweile meine Frontscheibe, immer wieder gespeist von ersten Flocken und weiteren Regentropfen, die in dieses filigrane Muster einschlugen. Ich schloss meine Augen und lauschte dem Stakkato des Regens, der auf dem Blechdach meiner Fahrzeugkabine trommelte.
Ein nur scheinbar gleichmäßiges Prasseln umhüllte mich. So ganz allmählich kristallisierten sich Klangfolgen heraus und ich fühlte mich in einen großen Saal versetzt, in dem viele Paare auf den Beginn der Musik warten. Ein imposantes Orchester war zu sehen. Die Musiker stimmten wohl gerade ihre Instrumente. Ich bemerkte die festliche Kleidung der Paare. Die Herren in feinem Zwirn und blütenweißen Hemden. Die Damen – ja wirklich, man kann nicht anders, als das Wort „Damen“ zu verwenden – in barocken, farbenfrohen und farblich exakt abgestimmten Kleidern. (Bin ich Rieu - verseucht?) Dann trat ein ebenfalls stattlich, mit einem Frack bekleideter Mann vor die Musiker und erhob einen Taktstock…
Ich zuckte zusammen und schreckte aus meinem Traum! Mein Nacken war völlig verspannt und schmerzte. Also schwor ich mir – zum wievielten Male eigentlich (?) – nie wieder im Sitzen zu schlafen.
Alle Scheiben waren beschlagen. Also startete ich die Innenraumheizung und lies sie mit ihrem warmen Hauch die Frontscheibe freilegen. Von den Schnittmusterbogen aus Wasseradern, den ich vor meinem Nickerchen gesehen hatte, war nichts mehr übrig. Alles war von einem gleichmäßigen Wasserfilm überzogen, in dem die hinzukommenden, inzwischen dicker und zahlreicher gewordenen, Schneeflocken augenblicklich ihre Form aufgaben und von der Umgebung assimiliert wurden und sich auch die einzelnen Regentropfen verloren…
Doch nein – es gab ein anderes Phänomen. Wie aus dem Nichts bildeten sich hier und dort kleine Wellenfronten, die, nach unten strebend, leichte Bogen ergaben. Mittig am dicksten und damit auch am schnellsten zogen sie ihre seitlichen Ausläufer, wie ein lächelnder Mund, nach oben.
Mit einer einzigen Handbewegung zerstörte ich nun das alles, indem ich den Scheibenwischer in Betrieb nahm, um klare Sicht für die Weiterfahrt zu bekommen – selbst noch ein solches, eben gesehenes, Lächeln auf meinen Lippen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.11.2013.
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