Karmen Buletinac

Bis zum letzten Atemzug

Ich weiß nicht wie lange ich hier schon sitze, eine gefühlte Ewigkeit und doch bin ich nicht im Stande aufzustehen- noch nicht .Denn wenn ich jetzt aufstehe, dann dreht sich die Welt normal weiter. Dann geht der Alltag weiter und dazu bin ich noch nicht bereit. Nein – ich bleibe noch eine Weile hier sitzen. Ein paar Kinder füttern Enten. Sie sind vielleicht zwei- höchstens drei Jahre alt. Es ist schön ihnen zuzusehen. Glückliche Kinderaugen!

Erinnerst du dich noch an unsere Kindheit? Haus an Haus wohnten wir. Seitdem ich denken kann, warst du an meiner Seite. Beste Freundinnen, das wäre untertrieben. Seelenverwandt. Schwestern. Keinen einzigen Tag haben wir ohne einander verbracht. Es gab keine Geheimnisse. Ich kannte dich teilweise besser als mich selbst. Ich wusste genau was du denkst, was du fühlst. Ein Blick in deine Augen und ich wusste was in dir vorging – und umgekehrt. Deine lustige, unbeschwerte Art hat mir jeden Tag so viel positive Energie gegeben. Und egal wo wir auftauchten, wir waren zusammen. Alles Gute an das ich mich erinnere, bringe ich mit dir in Verbindung. Schon mit dreizehn Jahren haben wir uns geschworen immer füreinander da zu sein. Für meine Eltern warst du wie ein eigenes Kind. Tagein, tag aus gemeinsam. Kindergarten, Schule, unser Schulabschluss, Maturareise, Studium.. immer gemeinsam.

Doch dann traf ich eine Entscheidung. Ich musste weg, raus aus dieser Stadt. Neues kennen lernen. Ich hatte den Drang mich neu zu orientieren, hier schien die Zeit still zu stehen. Du hast es nicht verstanden. Du hast geweint und warst wütend, und doch haben wir uns versprochen uns nicht aus den Augen zu verlieren. Freundschaft kennt keine Grenzen, keine Distanz… So hätte es theoretisch laufen sollen. Doch wie das Leben nun mal so spielt, entwickelte sich jede von uns weiter. Ab und zu noch ein Mail, ein Sms, belangloses Zeug. Meine Besuche in der Heimat wurden immer seltener, die Anrufe und Gespräche mit dir immer weniger. Und du hast mir gefehlt, immer, egal was ich tat – du warst allgegenwärtig. Doch scheinbar waren wir beide irgendwann an dem Punkt, wo der Stolz auf beiden Seiten zu groß war, niemand wollte den ersten Schritt machen.

Fünf Jahre Funkstille. Nichts. Kein Lebenszeichen von dir. Bis zu dem besagten Tag. Ich war gerade in der Arbeit. Kopfschmerzen plagten mich schon seit Längerem und plötzlich klingelt mein Handy. Deine Mutter.. Krankenhaus, Lebensgefahr, Zeit ist begrenzt… alles dreht sich. Mir wird binnen Sekunden kotzübel. Ich muss mich an meinem Schreibtisch festhalten, denn ich habe das Gefühl ohnmächtig zu werden. Leukämie! Wie lange schon? Warum hast du nie etwas gesagt? Wie konntest du das alles alleine durchstehen? Ich bin doch deine beste Freundin, deine Schwester. … Schweißausbrüche.. mein Kopf brummt, ich muss nach Hause, muss zu dir!

Mit einem schmerzverzehrten Lächeln begrüßt du mich in deinem Krankenbett. Der Kloß im Hals wird immer größer und ich kann mich nicht beherrschen. Wie ein kleines Kind lasse ich sämtliche Hemmungen fallen und die Tränen kennen kein Halten mehr. Wir fallen uns in die Arme. Du siehst so schwach und zerbrechlich aus, dass ich Angst habe dich zu berühren. So viele Jahre sind vergangen und doch fühlt es sich an als hätte ich dich gestern das letzte Mal gesehen. Was ist nur passiert und wie konnte es so weit kommen? Diese Gedanken lassen mich nicht los. Ich fühle mich miserabel, ich war nicht für dich da. Unser einstiges Versprechen konnte ich nicht halten und nun da es scheinbar schon zu spät ist, versinke ich in Selbstmitleid und Wut – Wut auf dich und Wut auf mich. Wieso waren wir beide so engstirnig? Ich rufe mir Bilder aus Kindertagen hervor. Nichts und niemand konnte uns damals aufhalten. Wir dachten wir seien unsterblich. Und nun sitze ich neben deinem Krankenbett und halte deine Hand, begleite dich auf deinem letzten Weg.

Du hast keine Kraft mehr zu sprechen- aber das musst du nicht. Dein Körper sieht so verändert aus, du wirkst wie ein kleines Kind. Ich würde dir am liebsten die Schmerzen nehmen. Noch einmal mit dir durch die Stadt schlendern, noch einmal mit dir ins Kino, noch einmal diese Gespräche führen, die mich einst so belebten und mir Kraft gaben. Jetzt bin ich diejenige, die dir Kraft geben muss und will auf diesem schweren Weg – auf deinem letzten Weg.

Allmählich finde ich wieder zurück in die Realität. Noch immer auf der Parkbank, die Kinder sind weg. Es ist schon dunkel geworden. Die Zeit schien still zu stehen. Und langsam festen sich auch meine Gedanken wieder. Zwei Tage ist es nun her, seitdem ich deine Hand losgelassen habe. Zwei Tage in denen ich mich wie in Trance bewege und mir immer wieder die gleichen Gedanken durch den Kopf schwirren. Hätten wir die Zeit besser nutzen können? Fünf Jahre unseres Lebens haben wir Nichts voneinander gehört – und dafür gab es im Endeffekt keinen Grund.

„Freundschaft kennt keine Grenzen, keine Weiten, Höhen und Tiefen“, das hast du mir immer wieder gesagt und nun da es schon zu spät ist, bricht es mir das Herz, dass ich nicht früher auf mein Herz gehört habe. Als du gingst, ging ein Teil von mir! Meine beste Freundin, meine Schwester, meine Seelenverwandte!

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