Karmen Buletinac

Was ich einst hatte

Eine idyllische Vorstadt. Ein kleines Häuschen und meine bezaubernde Familie. Das war alles, was ich zum Leben brauchte. Ich habe monatelang mit Freunden, Bekannten und Verwandten geschufftet um uns dieses Eigenheim zu schaffen und ihr wart begeistert. Wir haben uns alle vier dort sehr wohl gefühlt. Meine wunderschöne Frau, mein großer Jan und meine bezaubernde kleine Emily. Und wenn ich heute auf unser Familienfoto schaue, zerreisst es mich beinahe innerlich… denn Nichts davon ist geblieben, nichts außer Kummer, Wut und die Erinnerung an das was einst mal war.

 

Auf den Straßen herrscht pures Chaos. So kurz vor Weihnachten sind die Menschen immer besonders hektisch. Schnell noch die letzten Weihnachtseinkäufe erledigen. Ich bin ihnen nur im Weg. Die einen stoßen mich im Vorbeigehen, die anderen weichen mir aus da sie sich scheinbar ekeln, andere wiederum beäugen mich nur seltsam. Aber ich tue ihnen Nichts, ich tue niemandem etwas. Ich sitze nur hier auf meinem Pappkarton und schaue ins Leere, erinnere mich an vergangene und glückliche Tage und frage mich wie es nur so weit kommen konnte.

 

Ich schließe die Augen und Erinnerungen nehmen Überhand an. Es läuft langsam wie ein Film ab. Direktor einer großen Firma, ein gestandener Mann in der Öffentlichkeit. Viel Geld, eine Familie wie im Bilderbuch. So sah mein Leben noch vor gut sieben Jahren aus. Doch dann, Konkurs, ich fing an zu trinken. Erst nur um den Schmerz und den Frust zu vergessen aber dann immer häufiger. Und es wurde immer mehr, ich geriet in einen Teufelskreis aus dem man nur noch schwer ohne Hilfe raus kam. Doch Hilfe anzunehmen, das konnte und wollte ich nicht. Damals hätte ich es als ein Zeichen von Schwäche gesehen. Heute weiß ich, dass es alles gerettet hätte. Dann würde ich nicht hier alleine in der Kälte sitzen und an euch denken, dann wäre ich bei euch und wir würden die Familie sein, die wir einst waren. Du hast nächtelang wach gelegen und geweint, hast mich angefleht deinetwegen und wegen den Kindern mit dem Trinken aufzuhören. Du hast mich gebeten mir einen neuen Job zu suchen, du wolltest mir helfen, aber Nichts und Niemand konnte mich aus diesem Teufelskreis mehr raus holen, ich hatte einen starren Tunnelblick und alles um mich herum schien in sich zusammen zu  zerbrechen. Ich hatte keine Kraft und Energie irgendetwas anzupacken. Ich war antriebslos. Und du hast mich oft gewarnt, mir gesagt dass du die Kinder nehmen- und mich verlassen wirst. Doch daran glaubte ich damals nicht.

 

Als ich eines Morgens nach einer durchzechten Nacht wiederkam und das Haus leer war da wusste ich es. Aber da war es schon zu spät. Du hast deine Drohungen wahrgemacht. Ihr habt mich verlassen und ich kann es euch nicht einmal übel nehmen. Ich war ein schlechter Ehemann und noch ein viel schlechterer Vater. Unser Leben ging langsam den Bach runter und du hast den Absprung mit den Kindern gerade noch geschafft.

Wochen nach eurem Auszug haben sie mir das Haus weggenommen und ich landete auf der Straße. Nun bin ich hier. Seit sieben langen Jahren und glaub mir, es ist nicht einfach. Es ist alles andere als das. Die Leute verurteilen mich, ohne meine Geschichte zu kennen. Sie empfinden mich als störend, ein Penner, ein Alki… all das bin ich für sie.

Aber meine geliebte Marie, wenn ich dir nur sagen könnte, dass ich schon seit vier Jahren keinen Schluck Alkohol mehr angegriffen habe, was würdest du sagen? Würdest du wie einst, wenn du immer stolz auf mich warst, mein Gesicht in deine Hände nehmen und mich leidenschaftlich küssen, mir durch die Haare fahren und mir dein atemberaubendstes Lächeln schenken? Würdest du?

Es vergeht kein Tag an dem ich euch nicht vermisse. Kein Tag an dem ich nicht an frühere Zeiten denke. Mein lieber Jan, wie du heute wohl aussiehst?! Welche Charakterzüge hast du? Welche Schule besuchst du? Und du mein kleiner Sonnenschein Emily, singst du noch immer so gern? Wer hat dir das Fahrrad fahren beigebracht… das wollte ich doch machen. Und nicht nur das, noch Etliches mehr. Wir hatten Ziele und eine klare Vorstellung von unserer Zukunft doch ich – ja ich alleine habe sie zerstört.

 

Ich bin dir nicht böse dass du mit den Kindern weggegangen bist, das war für euch damals sicher die Beste Entscheidung. Aber ihr fehlt mir so sehr. Mit jedem Atemzug. Und besonders zu dieser Jahreszeit kommt alles wieder hoch.

Für die Menschen bin ich ein Nichts. Ich weiß ich sehe etwas befremdlich aus. Meine Kleidung ist alt und zerrissen, auch meine Schuhe haben Löcher. Meine Haare sind jetzt lang und zottelig. Aber tief in mir, da bin ich noch immer derselbe Mensch. Ein Mensch mit einer Vergangenheit. Ein Mensch mit Reue, der bedauert.. bedauert und bereut was er getan hat. Doch ich kann die Zeit nicht zurück drehen, ich kann euch nicht wieder zurück holen, so sehr ich es mir auch wünschen würde.

 

Und noch immer sitze ich hier auf meinem Pappkarton und beobachte die Menschenmenge. Ein Vater kommt mit seiner Tochter aus einem Spielzeuggeschäft. Ihre Augen leuchten. Wahrscheinlich hat er ihr gerade ein Geschenk gekauft. Die Kleine erinnert mich sehr an meine Emily. Schlagartig wird es mir warm ums Herz und dennoch bekomme ich eine Gänsehaut am ganzen Körper. Meine Hände vibrieren, mein Mund zittert als gäbe es kein morgen mehr und ich schließe die Augen und rufe mir Bilder vergangener Tage hervor. Ich rufe mir eure Gesichter ins Gedächtnis. Nur einmal möchte ich euch nur berühren, noch einmal vor euch stehen und euch küssen, euch durch die Haare fahren, euch umarmen und ganz fest drücken und sagen dass alles wieder gut wird. Aber Nichts wird gut, nicht für mich, nicht ohne euch, nicht dieses Weihnachten und auch nicht in naher Zukunft.

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