Marc Serve

Mikes unerwartetes Weihnachtsfest

Der einzige Unterschied zu den ersten 23 Türchen war, dass hinter dem 24sten eine ca. doppelt so große Schokoladenfigur versteckt war. Geschmacklich war die aber kein Deut kakaoiger als es die anderen waren. Aber das machte nichts. Lustvoll lies ich die Masse in meinem Mund zergehen. Mir ging es gut.
Das mochte daran liegen, dass Weihnachten war. Mehr noch lag es aber daran, dass Tatjana zu mir kommen wollte. „Tatjana!“, schwärmte ich vor mich hin, als ich mir vor dem Spiegel im Badezimmer sämtliche Behaarung im Gesicht abrasierte.
Während ich mich davon überzeugte, auch jedes Haar getrimmt zu haben, traf es mich wie ein Schlag auf den Kopf. Ein Geistesblitz jagte durch mein Gehirn. Leider war er genauso schnell wie er gekommen war, wieder davon geeilt. Was blieb war das Wissen, ja, das Wissen, irgendetwas Gravierendes vergessen zu haben. Nur was?

Das Geschenk war´s nicht. Das rote Nikolaus-Dessous mit Zipfelmütze hatte ich schon vor Tagen besorgt. Zugegeben, das Geschenk war sehr gewagt. Schließlich sind wir erst seit Kurzem zusammen. Doch Vorgestern auf dem Weihnachtsmarkt hat es schon gehörig geknistert. Und Weihnachten ist ja bekanntlich das Fest der Liebe.
Die Ente und der Rotkohl waren ebenfalls organisiert. Und das sogar auf dem Bio-Markt. Viel zu teuer, wie ich finde, aber Tatjana steht so auf das Bio-Zeug.
Eine ganze Jumbo-Packung roter und weißer Kerzen war bereits auf vierzig Quadratmetern verteilt. Vielleicht sollte ich die Kerzendichte ein wenig reduzieren. Das könnte auf sehr romantisch getrimmt rüberkommen. Oder Gothik. 

Nachdem ich mich fertig angezogen habe bereitete ich das Essen anhand einer aus dem Internet gefischten Anleitung zu und rief meine Eltern an, um ihnen frohe Weihnachten zu wünschen. Mutter war natürlich völlig aus dem Häuschen. Ich hatte ihr von meiner Verabredung, oder wie sie es nannte, Rendezvous, erzählt. Mehr Informationen dazu kündigte ich ihr für den folgenden Tag an.  
Als alles erledigt war, saß ich auf der Coach und betrachtete meine Wohnung. Das Geschenk lag unter dem Baum, der Tisch war gedeckt und die Kerzen brannten und hüllten meine kleine Bude in ein wunderbar weihnachtlich romantisches Leuchten.

Nur dieses Flüstern in meinem Kopf, dass ich den ganzen Tag über erfolgreich ignoriert hatte, war wieder zu hören. Was sollte ich denn nur vergessen haben?
Als es pünktlich um 18 Uhr an der Wohnungstüre klingelte waren alle grüblerischen Gedanken verflogen. Sie war da! Mit schwitzigen Händen und klopfendem Herzen öffnete ich die Türe. Da stand sie nun vor mir. Tatjana. Der rote Mund, die schwarzen Haare, diese… Was war das?

Hinter der bezauberndsten Frau, die mir je auf diesem Planeten begegnet war, tat sich ein kahler Kopf mit gut durchbluteten Hamsterbacken und wässrig-glasigen Augen auf. Neben dem älteren Herrn stand eine Dame, ebenfalls schon etwas betagter und gut genährt, in einem Pelzmantel gehüllt.
Nachdem ich eine gefühlte halbe Stunde so im Türrahmen stand, lächelte mich Tatjana an: „Hallo Mike. Frohe Weihnachten. Ich hoffe, du hast nicht vergessen, dass ich meine Eltern mitbringen wollte.“ Das war es! Dieses dumpfe bedrohliche Gefühl, das mich den Tag über begleitet hat.
„Nein.“, sagte ich. „Natürlich nicht.“ Einmal tief durchatmen. „Kommt herein, herzlich willkommen.“
Der Mann half seiner Frau aus dem Mantel, als er mit einem slawischen Akzent sagte: „Mein Junge. Vielen lieben Dank, dass du mit uns Weihnachten feiern möchtest. Das bedeutet uns sehr viel und ist nicht selbstverständlich heute.“

– Da muss ich kurz ausholen. Irgendwann auf dem eben erwähnten Weihnachtsmarkt begann Tatjana unaufgefordert über ihre Eltern zu sprechen. Sie seien ja sooo nett und legten viel Wert auf Tradition. Ob es nun der Glühwein war oder die feierliche Stimmung auf dem Weihnachtsmarkt, aber ich habe einem Treffen am Heiligen Abend mit ihren Eltern zugestimmt.
Ganz sicher trugen die darauf folgenden Glühweine und die Vorfreude auf Tatjana dazu bei, dass ich dieses Gespräch offensichtlich teilweise wieder vergessen habe.
Zum Glück hatte ich noch zwei saubere Teller im Schrank. Das für vier Personen zu wenige Essen haben wir einfach durch Kuchen und Plätzchen ergänzt. Die Kerzendichte habe ich flugs durch auspusten reduziert.
Auch das Problem mit dem nicht vorhandenen Geschenk für die Eltern konnte ich lösen. Im Keller stand noch eine Flasche hochwertiger Wein, welchen ich zum bestandenen Abitur geschenkt bekommen habe.

Glücklicherweise kam ich gerade noch rechtzeitig mit dem Glühwein aus der Küche, als sich Tatjana nach ihrem Geschenk unter dem Baum bückte. Mit einem halsbrecherischem Sprung über die Coach und anschließendem Spurt eilte ich zum Weihnachtsbaum und riss ihr das Packet aus den Händen. „Das solltest du besser erst später öffnen…“, stammelte ich mit einem Augenzwinkern an Tatjana. 
Es wurde noch ein wunderbarer Heiliger Abend. Mein Essen nach Anleitung aus dem Netz schmeckte allen. Beim anschließenden, in Tatjanas Familie traditionellen, Liedersingen konnte ich sogar noch ein nichtgeahntes Talent bei mir entdecken.

Und ich freue mich schon jetzt auf Silvester. Dann kommt die bezauberndste Frau die ich kenne in meine Wohnung. Diesmal aber alleine.  
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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