Karmen Buletinac

Eines Tages

Ich heiße Anna und bin 14. Vor zwei Jahren bin ich mit meinen Eltern in eine öde kleine Vorstadt gezogen. Hier ist alles trist und grau in grau. Hier kennt jeder jeden. Meinen Eltern scheint das zu gefallen. Ich würde eine Großstadt bevorzugen, aber was das anbelangt habe ich kein Mitspracherecht. In einer Großstadt wäre alles viel anonymer. In einer Großstadt wüsste nicht jeder über meine Probleme Bescheid. In einer Großstadt wäre ich eine von Vielen und nicht das Problemkind. Ich bin nicht allzu groß. Zumindest nicht so groß wie meine Mitschüler und ich würde mich auch nicht als wirklich hübsch bezeichnen. Ich habe rötliche Haare, die einfach nur runterhängen und zottelig sind. Braune Augen, und- was mich am meisten stört – viele Sommersprossen. Der Umzug war natürlich mit einem Schulwechsel verbunden und anfangs freute ich mich auf den Neuanfang, neue Lehrer, neue Mitschüler, Freunde.. doch irgendwie hat sich mein Traum zu einem absoluten Alptraum entwickelt. Ich hatte keinen guten Start – man gab mir auch nie die Gelegenheit dazu. Schon am ersten Tag wurde ich gehänselt und zur Witzfigur der gesamten Schule. Die einen machten sich über meine Haare lustig, die anderen zogen mich wegen meiner Sommersprossen auf… es blieb mir Nichts erspart. Und ich dachte jeden Tag, dass es besser werden würde – doch statt besser wurde es nur immer schlimmer.

Die verbalen Angriffe wurden immer mehr und zu den verbalen häuften sich in letzter Zeit auch die handgreiflichen Übergriffe. Anfangs habe ich das alles mit mir selbst ausgemacht und niemandem was davon erzählt, aber früher oder später kamen meine Eltern dahinter. Sie waren verzweifelt und hilflos zugleich. Sie versuchten mir gut zuzureden, unterhielten sich mit meinen Lehrern – doch eine Besserung war nicht in Sicht. Und jeder neue Tag in der Schule war die reinste Folter. Keine einzige Stunde verging, in der ich nicht aufgezogen, beschimpft, und kleingemacht wurde. In letzter Zeit auch immer häufiger geschlagen. Den andern schien das Spaß zu machen. In diesen Momenten fühlten sie sich besonders gut. Jemanden anderen zu unterdrücken bedeutete für sie ihre Stärken aufzuzeigen. Für mich waren sie immer nur armselig. Doch um dies auszusprechen fehlte mir jeglicher Mut. Ich hatte mich nie gewehrt- aus Angst und ich dachte wenn ich nichts tue, hören sie vielleicht eines Tages damit auf. Meine Eltern schickten mich zu einem Psychologen. Doch ich war von Beginn an der Meinung, dass nicht ich hierher gehörte, sondern die anderen. Ich war das Opfer, erkannte das keiner?

 Tagsüber gelitten und nachts ins Kissen geweint. Tag für Tag, Monat für Monat, Schuljahr für Schuljahr. Ein Schulwechsel wäre keine gute Idee, meinten meine Eltern Ich müsste mich den Problemen stellen, Davonlaufen würde nichts bewirken. Doch das war eigentlich alles was ich wollte. Ich wollte einfach nur weit weit weg. Weg von diesen Menschen, denen es scheinbar unglaublichen Spaß bereitete mich zu demütigen, auf mir herumzutrampeln, mir jegliche Würde zu nehmen. Nein ich konnte es nicht länger ertragen. Zwei Jahre, tagein – tagaus. Immer wenn ich am Boden lag und es mir ohnehin schon dreckig genug ging, dann traten sie noch mal drauf, immer fester und fester bis sie scheinbar den Spaß dran verloren und ich mich vor winseln und vor Schmerzen kaum rühren konnte. Blutergüsse, blaue Flecke und Prellungen standen an der Tagesordnung. Und mit der Zeit gewöhnte ich mich nicht nur an den körperlichen sondern vielmehr an den seelischen Schmerz. Ich begann mich zu ritzen, mir selbst weh zu tun weil ich irgendwann auch der Meinung war, dass ich für all das selbst verantwortlich war. Ich suchte die Schuld bei mir und begann mich jeden Tag mehr zu hassen. War es das was sie erreichen wollten? Ich ging kaum raus, nahm nur noch wenig Nahrung zu mir und sah jeden Tag dünner und kränklicher aus. Ich sprach immer weniger und machte alles mit mir selbst aus. Freunde hatte ich ohnehin keine. Meine Eltern verstanden mich nicht und allgemein hatte ich das Gefühl als würde ich laut schreien und keiner würde meine Hilfeschreie hören. Hört mich denn keiner?

Meine Noten wurden immer schlechter und ich war nur noch ein Schatten meiner selbst. An einem Montagmorgen im Mai beschloss ich, diesem Elend endlich ein Ende zu setzen. Niemand konnte so leben und ich hatte genug ertragen und genug gelitten. Zum damaligen Zeitpunkt glaubte ich, niemals wieder aus diesem Tief herauszukommen. Wie verzweifelt kein ein vierzehnjähriges Mädchen sein? An diesem Montagmorgen als meine Eltern zur Arbeit fuhren, ließ ich die letzen beiden Jahre in meinem Kopf revue passieren. Es gab keinen einzigen Tag an dem ich glücklich war, keinen Tag an dem ich von Herzen lachte oder Spaß hatte so wie andere Jugendliche in meinem Alter. Kein Shoppen in der Stadt, keine Parties… Nichts dergleichen. Mein Alltag bestand darin, den Schultag irgendwie zu überbrücken, die verbalen Angriffe zu ertragen und den Misshandlungen standzuhalten. Und das alles wollte ich nicht mehr.. also nahm ich Tabletten, viel zu viele Tabletten auf einmal..

 .. Ich wache auf und befinde mich in einem sehr sterilen weißen Zimmer.. oh ein Krankenbett… ja ich bin im Krankenhaus. Scheinbar nicht tot. Jetzt fühle ich mich noch viel schlechter. Bin ich denn nicht mal dazu fähig? Mein Herz pocht wie wild. Ich bin alleine in diesem Raum. Vor der Tür höre ich meine Eltern mit dem Arzt reden. Es war sehr knapp, um ein Haar, Lebenslust verloren, wie soll es nur weiter gehen.. der Arzt spricht und spricht und ich höre meine Mutter weinen, auch mein Vater schluchzt..

Das mit anzuhören tut mir im Herzen weh. So viel Kummer wollte ich ihnen nie bereiten.. und auch mir selbst nicht. Und wie ich nun so daliege, angeschlossen an unzählige Apparate komme ich mir lächerlich, erbärmlich und ziemlich klein vor. Wut steigt in mir hoch. Wut auf mich und Wut auf all diejenigen die mich hierhin getrieben haben. Ist es denn irgendjemand auf dieser Welt wert, dass ich mein Leben opfere für sie? Nein! .Jahrelang war ich das Opfer. Eine Marionette meiner Schulfreunde, leichte Beute, ein Spielzeug.. doch nun packt mich innerlich ein Wille, eine Stärke die ich in den vergangenen 24 Monaten vermisst habe. Und ich fasse den Entschluss zu kämpfen, mich zu wehren mit Händen und Füßen wenn es sein muss. Ich will mein Leben leben, denn ich habe noch das ganze Leben vor mir. Und mir wird niemand mehr weh tun, weder verbal noch körperlich.

Meine Eltern betreten mein Zimmer, und ich sehe in ihre traurigen Augen. Ich lächle sie zögerlich an…. Ja ich habe einen Entschluss gefasst! Ich werde kämpfen. Ich werde jedem die Stirn bieten. Ich bin die längste Zeit das Opfer gewesen. Und eines Tages, das habe ich mir fest geschworen, werde ich vor meinen Peinigern stehen und Sie zur Rede stellen, sie fragen ob Sie denn wissen was sie mir angetan haben. Und ich werde ihnen verbal überlegen sein.. ja das werde ich!

 Meine Euphorie und mein Wille machen mich müde.. langsam lehne ich mich in meinem Krankenbett zurück und schließe die Augen, fest entschlossen jedem die Meinung zu geigen, der sich mir künftig in den Weg stellt..

Mein Leben gehört mir… eines Tages…!!

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