Ingrid Grote

Die Zeit beginnt

Ich würde ja gerne wieder eine Weihnachtsgeschichte schreiben, früher habe ich das oft getan, aber es geht nicht. Mein Kopf ist leer und dumm. Und wie kann ich über Weihnachten schreiben, wenn ich es gar nicht mehr feiere, das Fest der Liebe. Es wird jedes Jahr weniger Liebe, ich gehe schon lange nicht mehr auf den Weihnachtsmarkt, er ist mir zu oberflächlich, Topflappen im Angebot, Strickstrümpfe für deine Lieben, einen kleinen Kristall dazu und eine Bratwurst. Was waren das noch für Zeiten, als meine Schwester an ihrem Glühweinstand die Leute mit Glühwein versorgte. Hauptsächlich mich, doch das ist lange schon vorbei. Ich vermisse diese Zeiten. Verdammt!
Auch das vorweihnachtliche Schmücken klappt nicht mehr. Die letzten Jahre vergingen so schnell, und deshalb habe ich die Tannengirlande gleich hängenlassen, im Sommer ein paar künstliche Blumen druntergemischt - und fertig.
Vor ein paar Jahren war es noch anders: Meine Schwester wohnte über mir. Es war manchmal nicht einfach mit ihr, unsere Männer verstanden sich nicht und trieben dadurch einen zusätzlichen Keil in unsere Beziehung. Sie feierte gerne, ihre Feste nahmen manchmal groteske Züge an, wenn ein Besuch weg war, dann stand der nächste schon in der Tür. Manchmal wollte ich an dieser Lebendigkeit teilhaben und ging nach oben, um mitzufeiern, meistens aber wollte ich meine Ruhe haben und ignorierte alles, was an Geräuschen von oben kam.
Doch eines Samstag morgens... Was zum Teufel war da los? Normalerweise war ICH doch die Frühaufsteherin, und meine Schwester schlief bis in die Puppen hinein. Ich hörte, wie jemand hastig in der Wohnung über mir herumlief, kurze Zeit später polterte jemand die Treppe hinunter, ich hörte ein Auto wegfahren, und dann herrschte Stille.
Das Haus ist sehr hellhörig, das liegt an den vorsintflutlichen Spalierdecken, die nur aus Müll und Lehm bestehen und die jeden Laut gnadenlos verstärken. Wenn jemand eine Flasche oben auf die Küchenarbeitsplatte stellt, hört es sich eine Etage tiefer an, als würde einer kegeln.
Ich machte mir keine großen Gedanken über den unerwarteten frühen Lärm. Meine Schwester führte nun mal ein unorthodoxes Leben, sie musste immer beschäftigt sein. Wenn sie einmal nicht ausging, keinen Besuch hatte und auch nicht auf Besuch gehen konnte, dann geriet sie fast in Panik. In zwei Wochen würde sie fünfzig werden. Und ich hatte jetzt schon Angst vor den Feierlichkeiten zu ihrem Geburtstag.
Ich verbrachte den Samstagvormittag mit Einkaufen und vor dem Computersitzen, bis um elf Uhr das Telefon ging. Es war meine Nichte, die Tochter meiner Schwester: „Mama hatte einen Herzinfarkt...“
„WASSSS?“ Das war... nein, ich konnte es nicht glauben!
„Sie hatte ja diese Schweißausbrüche.“
„Aber die Ärzte meinten doch, es wären die Wechseljahre...“, sagte ich.
„Nein, die waren es nicht... Sie hat drei Bypasse gekriegt.“
„Oh Gott!“ Das durfte nicht wahr sein! Herzinfarkt mit neunundvierzig Jahren und dann direkt drei Bypasse. Dann war es wirklich schlimm! Irgendwie hatte ich das Gefühl abzustürzen, dieses Gefühl, das man manchmal im Traum hat, wenn man von einer Bordsteinkante abrutscht und kurzzeitig ins Bodenlose stürzt. Was für ein grauenhafter Gedanke! Meine kleine Schwester im Krankenhaus, die Rippen durchsägt, das Bein aufgeschnitten, Venen herausoperiert, ins Herz... Nein es war entsetzlich! Und sie würde ihr Leben ändern müssen. Nicht mehr rauchen, anders essen, gesunde Ernährung und so weiter. Und wer weiß, wie lange...
Sollte ich vielleicht etwas daraus lernen? Vielleicht die unnötigen Differenzen zwischen uns vergessen? Wieder mehr zusammenrücken? Ja, ich tat es. Ich verbrachte Zeit mit ihr, und wir unterhielten uns viel. Auch über die Vergangenheit. Meine Schwester ist adoptiert. Von meiner Familie, und sie hat auch in dieser Familie nicht viel Gutes erfahren. Aber ich dachte, nun wäre alles gut. Zumindest zwischen uns beiden.
Bis nach drei Jahren das andere Unheil über sie hereinbrach. Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Sie hatte eine Untersuchung machen lassen, und dabei kam heraus: Lungenkrebs! Prognose ungünstig, Überlebenschance vielleicht noch drei Monate oder länger, falls die Chemo anschlagen sollte. Eine Operation war nicht möglich.
An diesem Tag fuhr ich mit dem Fahrrad los und saß im Park, es war nass, und meine Gedanken wanderten chaotisch herum:
Bitte nicht wieder anfangen zu denken! Es ist genug, und außerdem ist es nass. Wieso bin ich mit dem Fahrrad losgefahren bei dem Sauwetter, jetzt sitze ich im Park auf einer Bank, sehe aus wie eine nasse Katze – und fühle mich wie eine tote Katze. Quatsch, sentimental und theatralisch! Ich bin lebendig, noch sehr lebendig. Im Gegensatz zu anderen Leuten, die vielleicht... Bitte nicht wieder anfangen zu denken! Warum nicht ich? Warum nicht ich? Ich bin dem Leben nicht so verhaftet wie sie. Sie hat eine Tochter und auch Enkel. Sie ist so lebenshungrig, dass es mich manchmal angekotzt hat. Ich nannte es „lebensgierig“. Vielleicht bin ich nur eifersüchtig auf ihren Lebenshunger, aber das ist jetzt egal. Sie kann doch nicht einfach sterben, dafür ist sie zu stark. Oder nicht? Verdammt! Und diese ganze Scheiße, die man da mitmachen muss und die letztendlich vergebens ist, nein, du bist stark, du schaffst es, du musst es schaffen, Schwesterchen!
Als ich nach Hause fuhr, regnete es immer noch, und irgendwie schmeckte der Regen salzig.

Drei Jahre dauerte es, bis sie starb. Sie schlug sich tapfer, sie war stark, viel stärker, als ich es je sein könnte.
Danke lieber Gott! Was hat sie verbrochen? Sie war einer der nettesten Menschen, die ich kannte, hilfreich und gut. Sie war viel besser als ich. Warum ist SIE tot - und ICH nicht? Es gibt keine Gerechtigkeit, nicht in diesem Leben. Und aus diesem Grunde feiere ich auch Weihnachten nicht mehr. Was macht wohl meine Nichte? Sie ist weggezogen nach dem Tod der Mutter, unauffindbar ist sie, und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr. Dabei ist es doch meine einzige richtige Verwandte.
Während ich blind auf meine mittlerweile verstaubte Weihnachts-Sommer-Deko starre, klingelt das Telefon. Blöderweise gehe ich dran.
„Hier ist 1und1, wir möchten Sie gerne auf unsere neue statistische Besucherauswertung Ihrer Homepage aufmerksam machen, diese erfolgt nach neuesten Erkenntnissen...“
„Nein danke, ich brauche keine Erkenntnisse!“ Wütend lege ich auf, diese Werbeanrufe nerven.
Wieder klingelt das Telefon. Wieder will ich nicht drangehen, tue es aber doch, weil die Nummer nicht nach 1und1 aussieht, sondern nach einer ganz normalen Festnetznummer.
„Hier ist Anna“, sagt eine junge Stimme. Anna ist meine Nichte. Endlich ruft sie an. Ich atme tief durch.
„Welch ein Zufall, ich habe gerade an dich gedacht.“
„Ich auch, Tantchen“, lacht Anna. „Willst du uns nicht besuchen? Wir wohnen gar nicht weit von hier, und die kleine Thalida hat schon oft nach dir gefragt.“
Thalida… So eine kleine eigenwillige Zicke! Aber ich mochte sie. Und sie mich wohl auch, das ist seltsam, denn die meisten Leute mochte sie gar nicht. Darin ähnelt sie mir: Auch ich kann mit den meisten Kinder nichts anfangen.
Ich glaube immer noch nicht - oder nicht mehr - an Gott, vielleicht hat er uns verlassen, und wir müssen nun selber klarkommen, nachdem er uns das Göttliche, sowie das Teuflische vermacht hat. Alles ist nun in uns.
Eigentlich glaube ich nur, dass Anna mich braucht, sie liebte ihre Mutter. Und ich kannte ihre Mutter schon so lange und weiß so viel von ihr... Meine Schwester hätte gewünscht, dass ich lebe. Dass ich mich an ihren Enkeln erfreue. Der Junge ist auch ein Süßer. Automatisch muss ich lächeln.
Machen wir das Beste draus. Ich schaue auf die verstaubte Weihnachts-Sommer-Deko, dieses Nichts ohne eine Aussage. Ich werde sie herunterreißen und vielleicht ein paar Kerzen anzünden.
Die Zeit fängt wieder an, das Leben beginnt neu.

Und ich freue mich auf Weihnachten.




 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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