Rico Graf

Das Wort ist nicht böse!




Neulich, in der Bahn sitzend, vernahm ich ein Gespräch zwischen zwei Männern, wobei der eine offensichtlich einen Migrationshintergrund zu haben schien, der andere wohl nicht – aber kann man das sehen? Ich wäre nicht aufmerksam geworden auf die beiden, wäre die Debatte, die sie führten, nicht von einer gewissermaßen lebhaften Gestik und überdurchschnittlichen Lautstärke begleitet worden. Insofern lassen Sie mich das ungefähre Gespräch wiedergeben, wobei ich hoffe, nichts daran missen zu lassen und es so originalgetreu wieder zu geben wie möglich. Dabei werde ich den einen, von dem ich vermute, er habe einen Migrationshintergrund, „M“ nennen, um der Notwendigkeit der Referenz Folge zu leisten – und zwar OHNE irgendeine vom Leser postulierte Schublade, sehen Sie dieses „M“ als etwas Neutrales. Den anderen nenne ich „N“ (zum Beispiel für „„N“icht-M“ oder weil „N“ nach „M“ im Alphabet kommt – mir egal).
Jedenfalls forderte M (ich spare mir ab sofort die Gänsefüßchen): „Es kann nicht sein, dass Bücher im Umlauf sind, in denen diskriminierende Wörter geschrieben stehen.“
N: „Zum Beispiel?“
„Na zum Beispiel bei Pipi Langstrumpf, wo das Wort Negerkönig auftaucht. Ich will nicht, dass meine kleine Tochter so etwas liest und gleich mit solchen negativ besetzten Wörtern groß wird.“
„Dann nehm ihr doch das Buch weg und lass sie ‚moderne‘ Kinderbücher lesen, in denen solche Wörter nicht-“
„Nein! Man MUSS solche Bücher wie Pipi Langstrumpf umschreiben.“
N: „?“
„Man muss diese Wörter wie ‚Neger‘ aus den Medien verdammen!“
„Und dafür willst du unsere kulturellen Erbschaften wie den Literaturklassiker von Astrid Lindgren VERÄNDERN?“
„Diese Wörter müssen einfach umgeschrieben werden. Der Rest kann ja so stehen bleiben.“
N schüttelt den Kopf. „Finde ich nicht gut. Abstrakt gesprochen willst du ein Kulturprodukt verändern und damit etwas ‚umschreiben‘, etwas ‚aufheben‘, mit anderen Worten: vernichten. Dann kannst du sie auch gleich verbrennen – wo ist da noch der Unterschied?“
„Ich will ja nur ein Wort…“
„Falsch! Es ist nicht nur EIN Wort, sondern es sind alle, von DEINEM heutigen Standpunkt aus gesehen, negativ besetzten Wörter im Sinne einer Diskriminierung und was weiß ich nicht alles. Wo ist da der Anfang, und wo das Ende? Am Ende willst du den Satz verändern, in dem das Wort steht, weil es vielleicht bestimmte Verben, bestimmte Adjektive und bestimmte Adverbien mit sich bringt. Ja, am Ende willst du sogar die ganze Sprache ‚korrigieren‘. Aber es gibt gute Gründe dafür, warum du das lassen solltest. Die einen nenne ich natürliche Gründe, die anderen moralische Gründe, und den letzten Grund: humanistisch. Die natürlichen Gründe gehen sogar über das normative Lassen-Sollen hinaus. Sie begründen ein Nicht-Können, eine Unmöglichkeit. Denn eine Sprache ist kein bloßer festgelegter Zeichenvorrat einer Sprachgemeinschaft, der grammatisch geregelt wird und mit dem Duden ein erstes und ein letztes Wort einen abgeschlossenen Rahmen findet. Sie ist die Bezeichnung für das unabgeschlossene Hin und Her, dass wir uns sagen, die Kontingenz der verlautbarten, also zur Zunge geführten Gedanken eines Geistes und zwar dergestalt, dass diese Laute von der Vorstellung im Geiste eines Sprechers möglichst auch die gleiche Vorstellung im Geiste eines Hörers potenzieren – also ‚Sinn‘ machen. Und insofern ist es scheißegal, ob das Wort Neger ‚Neger‘ heißt oder ‚Schwarzer‘ oder ‚Farbiger‘, denn wenn der ‚Farbigenkönig‘ gleichsam mit den Vorstellungen korrespondiert, die von bestimmten Personen innerhalb eines Sprachspiels GEBRAUCHT werden, dann ändert sich leider nichts daran, dass eine bestimmte Menschengruppe mit bestimmten Merkmalen in besonderer Weise, in diesem Falle also einer negativ-diskriminierenden, benannt wird, wobei Nennung also nichts anderes ist, als einen mit anderen Begriffen aufgeladenen Begriff virulent machen. Noch einmal: wenn deine Tochter nun ‚Farbigenkönig‘ liest anstelle ‚Negerkönig‘, dann bedeutet dieser Begriff nichts als die Vorstellungen die sie von ihm hat, und wenn du das Wort ‚Neger‘ verboten hast, dann werden neue Wörter kommen und deine kleine Tochter wird sich mit diesen auseinander setzen müssen. Das Wort ist nicht böse! Ich will darauf hinaus, dass das Streichen solcher Wörter aus dem Duden erstens nicht zwingend den Tod ihrer Aufladung bedeutet, sondern diese nur in andere Laute schiebt ad infinitum. Im schlimmsten Fall wird das Wort als ‚verbotenes Wort‘ sogar an Reiz gewinnen und stärker zirkulieren als jemals zuvor. Dann hast du genau das Gegenteil erreicht.“
M: „Ich will ja nur, dass meine kleine Tochter nicht diese N-Wort lesen muss…“
„Du hast nicht verstanden, dass du mit der Überschreibung eines Mikrotextes möglicherweise kasuistisch einzuwirken glaubst, aber der große Makrotext, wenn wir Text als Gewebe der Vorstellungen im Geiste verstehen, wird dadurch nicht korrigiert, weil er eine Überlappung von Ideolekten ist, mehr nicht… Und ich sehe auch nicht ein, warum diese eine konkrete Handlung etwas bewirken soll. Nochmal: wenn du anfängst Wörter umzuschreiben, dann änderst du nichts an den Vorstellungen und Vorurteilen. Nun zu meinen moralischen Gründen gegen dein Vorhaben. Was du nämlich änderst, ist kulturelles Erbe nach deinem Gutdünken. Du glaubst, es sei richtig, aber wenn der Mensch – abstrakt gesprochen – das Wort ‚Negerkönig‘ und alle Derivate (und das Hauptwort ‚Neger‘ sowieso) nirgendwo mehr findet, weil es gestrichen wurde, dann führt das zu einer Destruktion der Wahrheit am Kunstwerk und des Konsens des Sprachspiels einer lernenden Gemeinschaft. Denn niemand kann sich zum Beispiel über die Menschen mit anderer Hautfarbe mehr korrekt informieren, man würde einen Teil des Sprachspiels der mit ihnen verbunden ist, auslöschen. Nur dann lösche ich aber auch die Geschichte dieser Menschen aus. Und wenn es keine Geschichte von ihnen gibt, dann werden sie erneut mit den oben genannten Vorstellungen konfrontiert, und es wird wieder Wörter für sie geben! Du landest wieder in den Regress, der im Übrigen aufwendig ist, denn man bräuchte ja eine legitimierte Sprachethische Kommission, die sich auf irgendetwas beruft, zum Beispiel ein Gesetz, das wahrscheinlich dem GG trotzen muss, aber selbst wenn es im Einklang mit ihm stünde, dann müsste das alles finanziert werden: die Mitglieder, die Räumlichkeiten, Infrastruktur, Publikationen, was weiß ich. Finanziert aus Steuern, woher sonst, vielleicht einer Ethiksteuer? Und mit dem grad genannten Regress auch noch ein Fass ohne Boden. Die Bürger werden sich bei dir bedanken.“
M zuckt die Schultern und macht ein ablehnendes, trotziges Gesicht. N. führt unbeirrt fort: „Lass mich auf das Kunstwerk rekurrieren. Egal ob es Bücher, Bilder oder Zeichen jedweder Form sind, die den diskriminierenden Inhalt ausdrücken, wenn sie in historisch übertragenen Relikten manifestiert sind, darf der historischen Mensch sie nicht ändern, weil kein Kunstwerk es verdient hat, zerstört zu werden und sich NIEMALS eine echte oder übertragene Verbrennung wiederholen darf, und zudem, weil er sich als anti-historischer Mensch (politisch betrachtet) seiner eigenen Geschichte berauben würde. Aber wenn wir keine Geschichte mehr haben, können wir auch nicht mehr aus ihr lernen, wobei ich die Betonung auf das KÖNNEN legen möchte. Wenn überhaupt kann nur die UNumgeschriebene Geschichte den Menschen moralisieren. Denn sie ist anders als das Gesetz-des-du-darfst-nicht eine geduldige Vermittlerin der Gräuel und der Sternstunden, die ein viel größerer Spiegel des zukünftigen Selbst darstellt als ein Paragraph. Dein Vorhaben gleicht, mit Verlaub, Herrn Stalin, der Trotzki hat auf Fotos verschwinden lassen (und nicht nur da).“
M: „Ja ja, ist ja gut. Aber es ändert nichts daran, dass meine kleine Süße den ‚Negerkönig‘ lesen muss.“
N: „Dann lass mich den letzten Grund anführen, warum ich glaube, dass du deine Absichten überdenken solltest. Du erinnerst dich, ich habe ihn als ‚humanistisch‘ bezeichnet.“
M nickt. N spricht weiter: „Deine Tochter ist ein menschliches Wesen. Und wir unterscheiden uns in Sachen Grausamkeit äußerlich manchmal nicht vom Tier. Jedoch sind wir vernunftbegabt und ein jeder, der Zugang zu Bildung hat und nicht aus irgendwelchen Gründen einer gestörten Erziehung anheimfällt, sollte das Recht haben auf freie Vorstellungsentwicklung und vor allem das Recht darauf, dass wir niemandem die Fähigkeit aberkennen, eine moralische Instanz, ein Tribunal der Vernunft für die vielen Begriffe zu sein, die an der Tür des Geistes klopfen – ob nun im zeitgenössischen Sprachspiel als ‚gut‘ oder ‚böse‘ daherkommend. Das Wort ist nicht böse. So wenig wie ‚Neger‘ nicht böse ist. Erst sein Gebrauch durch den Menschen macht den ‚Negerkönig‘ zum Negerkönig.“
M: „Und was schlägst du vor? Diese Wörter im Text lassen?“
N stimmt zu: „Ja. Und vielleicht kann man eine Fußnote dran machen, einen Paratext, ein Kleinod, das hinweist, dass der Gebrauch des Wortes heutzutage aufgrund der historisch bedingten negativen Aufladung nicht mehr üblich ist. Du wirst sehen, deine Tochter wird durch Pipi Langstrumpf nicht rassistischer werden als durch den ‚Kontext‘, in dem sie aufwächst. Aber ihr den Umgang mit unserer Kultur zu verweigern ist die wahre Diskriminierung!“

Ich halte es für angemessen, den Dialog hier abzubrechen. Ich meine, ich bin nicht eingesprungen oder habe nicht interveniert. Aber ich will die Aufzeichnung an dieser Stelle beenden, weil ich glaube, dass dem nichts hinzu zu fügen ist. Tatsächlich ging das Gespräch noch weiter. Also bestehe ich auf die formelle Zäsur. Denn ich möchte nun davon berichten, wie M darauf reagierte.

M war nicht geläutert. M zeigte sich in keiner Weise beeindruckt, überzeugt oder entgegenkommend. Ich kann es nicht verstehen und mir fällt schwer, es nachzuvollziehen. M befindet sich in einem Zustand des Widerstands – aber ist der vernünftig? Ist die diabolische Ästhetisierung der Opponenz des Ich-bin-gegen-das-und-das nicht sogar eine Gefahr für die eigentlich „gut“ gemeinte Sache? Man wird den Eindruck nicht los, dass die Vernunft, an die N oben appellierte, niemals rein sein wird, sondern immer eine praktische, in der aber kein Tribunal der Vernunft so etwas wie Moral aus sich selbst heraus kategorisiert und als etwas Gesetzesartiges etabliert. Sondern dass das Gericht seine individuellen Urteile ja auch wieder nur auf Basis der eigenen Vorstellungen fällen kann. Folgerecht komme ich an dieser Stelle zu zwei Schlüssen:

  1. N ist seiner eigenen Hoffnung eines humanistischen Prinzips, das sich an so etwas wie eine Vernunft orientiert, irrgelaufen. Und somit bleibt nur noch die Hoffnung selbst…
  2. Der Diskurs ist nicht zu zähmen! Er wird so lange dauern wie der Zweikampf zwischen Lailaps und dem Teumessischen Fuchs. Nur ein Gott könnte ihm ein Ende setzen!


 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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