Sarya Fark

Das Geheimnis der See



Es ist früher Morgen, der Nebelschleier hängt dicht über dem aufgewühlten Wasser des tiefgrünen Ozeans. Kleine, schaumige Wellen bahnen sich ihren Weg zum Strand, türmen gegenseitig um die Wette, bis sie ihren Schwung verlieren, sich über den hellen Sand ergiessen und schliesslich kraftlos zurückfliessen. Als hätten sie versucht zu fliehen und wären gescheitert. Kein Geräusch stört das gleichmässige Atmen der See. Mein Herzschlag pocht in perfekter Harmonie mit dem rhythmischen Auf-und Ab der Wellen.

Der Strand ist menschenleer, bis auf eine junge Frau, die bereits vor einer Stunde die steilen Klippen hinabgeklettert kam. Trittsicher hat sie den Pfad zwischen den scharfen Kanten und rutschigen Stellen des glatten Gesteins gefunden und sich ihren Weg ans Ufer des niemals schlafenden Meeres erkämpft. Seitdem hat sie sich nicht mehr gerührt, stand unbeweglich- wie zur Salzsäule erstarrt- im feuchten Schlack. Von Zeit zu Zeit spritzt die milchige Gischt an ihr hoch, durchnässt das lange, weisse Kleid, dessen zerschlissener Saum schon längst mit Salzwasser vollgesogen ist. Die Wellen umspielen zart ihre Knöchel und lassen ihre nackten Füsse allmählich im Sand versinken. 

Nun erhellen die ersten Sonnenstrahlen den Horizont und vertreiben die dichte Nebelwand. Das satte Rot der aufgehenden Sonne lässt das weisse Kleid der jungen Frau in hellem Rosa erglühen. Eine kühle Brise weht vom Meer her, bauscht den leichten, noch trockenen Stoff und zerzaust ihre langen, blonden Haare. Besorgt rufe ich ihr etwas zu, doch sie ignoriert mich, macht keine Anstalten auf mein Rufen einzugehen. Dann, ganz plötzlich, fährt ein Schauer durch ihren Körper und sie erwacht aus ihrer Lethargie. Ruckartig dreht sie mir den Kopf zu. Vor Schreck erstarrt blicke ich in ihr Gesicht. Ihre grossen, leeren Augen stechen durch mich hindurch, scheinen mich zu durchlöchern. Dann wendet sie sich von mir ab und bedächtig setzt sie einen Fuss vor den anderen, watet immer weiter aufs Meer hinaus und gleitet schliesslich anmutig ins Wasser. Jetzt sind nur noch ihre Haare zu sehen. Wie Seegras tanzen sie mit den Wellen, dann werden auch sie verschluckt.

Beklemmende Angst macht sich in mir breit, Hilflosigkeit und Unsicherheit kämpfen in mir um die Wette. Doch dann fasse ich einen Entschluss. In schnellen Schritten hechte ich zum Meer, stürze mich ins Wasser und schwimme dorthin, wo noch vor wenigen Sekunden ihr blondes Haar zu sehen war. Mehrmals tauche ich unter Wasser, versuche in dem trüben Wirbeln etwas zu erkennen. Salzwasser brennt in meinen Augen, dringt mir in Mund und Nase. Immer wieder zwinge ich mich unter Wasser, ich kann nicht aufgeben, ich muss sie finden. Aber die Wassermassen tragen mich ans Ufer zurück. Hustend und keuchend schleppe ich mich nach vergeblicher Suche an den Strand in Sicherheit. Verstört und konzentriert starre ich hinaus aufs Meer, halte Ausschau nach einem weissen Rock, nach blonden Haaren. Doch die höhnisch schwappenden Wellen stören meine Sicht, gaukeln mir immer wieder vor blonde Haare zu sein, nur um sich dann wieder in Wasser zu verwandeln. Schuldgefühle machen sich in mir breit, als ich nach einer gefühlten Ewigkeit den Heimweg antrete. Ächzend erklimme ich die Klippen, suche zwischen den glitschigen Steinen nach Halt. Immer wieder durchzuckt mich die Erkenntnis: Ich hätte sie retten müssen, hätte hinausschwimmen sollen, bevor sie ertrank!

Niedergeschlagen steige ich die Treppen zu meinem Apartment empor. 
Noch ganz in Gedanken versunken öffne ich die Haustür und gehe zum Telefon. Ich muss die Polizei verständigen, das Mädchen muss geborgen werden. Doch bevor ich die Nummer wählen kann zieht der Fernseher meine Aufmerksamkeit auf sich. Die Nachrichten! Vielleicht wird jemand vermisst! Schnell drehe ich das Volumen auf. ,,Heute morgen um 06:30 ist eine vierköpfige deutsche Familie mit ihrem Camper an einer Klippe schwer verunglückt. Der Wagen hat sich mehrmals überschlagen, bevor er zum Stillstand kam. Die Eltern der beiden Kinder sind leicht verletzt, der neunjährige Junge hat mehrere Prellungen davongetragen, die siebzehnjährige Tochter ist noch am Unfallort ihren schweren, inneren Verletzungen erlegen." Ich drehe den Fernseher leiser. Ein Bild der Unfallstelle wird eingeblendet. Ein Junge und zwei ältere Leute knien weinend neben einer jungen Frau. Mit geschlossenen Augen und zerrissenem Nachthemd liegt sie verdreht auf dem Asphalt. 

Ein eisiger Schauer läuft mir den Rücken hinab, kalte Finger umklammern stählern mein Herz. Es ist die junge Frau vom Strand, das ertrunkene Mädchen! Ungläubig reibe ich meine Augen, blicke erneut in das tote Gesicht. Doch es ist eindeutig.
Habe ich halluziniert? Habe ich einen Geist gesehen? Mein Hirn will meinen Augen nicht trauen, will nicht wahrhaben, was ich gesehen habe. Geistesabwesend stelle ich mich ans Fenster, mein Blick schweift langsam über das tosende Wasser. Und da, ganz in der Ferne, blitzt etwas auf! Nur für einen Sekundenbruchteil schimmert etwas Weisses auf dem Kamm einer Welle. Eilig hole ich meinen Feldstecher, suche die genaue Stelle. Aber ich finde sie nicht mehr. Stundenlang stehe ich noch am Fenster, warte darauf, dass der weisse Stofffetzen erneut auftaucht. Doch als der Wind sich legt und das Meer sich glättet gebe ich auf. Ich gebe mich geschlagen. 
Denn die See gibt nichts her, was sie einmal verschlungen hat. 
 
  

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Sarya Fark).
Der Beitrag wurde von Sarya Fark auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Sarya Fark als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Emma: Holt mich hier raus von Manfred Ende



Gesellschafts- oder zwischenmenschliche Fragen? Der Autor erzählt eine Familiengeschichte in einer inzwischen historischen Zeit und in einem Land, das es nicht mehr gibt: in der DDR. Emma, eine betagte, aber bisher sehr selbstständige und auf unaufdringliche Art freigeistige Rentnerin, verliert bei einem Autounfall ihre Tochter und einen Fuß. Mit beiden Verlusten gilt es, weiterzuleben.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Beobachtungen am Strand" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Sarya Fark

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Bunte Strände von Rainer Tiemann (Beobachtungen am Strand)
Bücher zu verschenken von Karin Ernst (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen