Christiane Mielck-Retzdorff

Eine kleine Weihnachtsgeschichte

 


Die Sohle wollte einfach nicht kleben. Früher hätte Gunther den Schuh wütend in die Ecke geworfen, aber er startete einen erneuten Versuch. Er war zwar kein Schuster, doch jeder Auftrag schmälerte die Ebbe in seiner Kasse. Einst hatte er auf diesen wenigen Quadratmetern einen Schlüsseldienst betrieben. Da war er meistens mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und hatte Leuten geholfen, deren Hausschlüssel sich, im Gegensatz zu ihnen, innerhalb der Wohnung befand. Diese Fähigkeit verdankte er seinen Erfahrungen als ehemaliger Dieb, der für seine Taten mehrere Jahre im Gefängnis verbüßt hatte. Dort arbeitete er dann, um der Langenweile zu entkommen, in verschiedenen Werkstätten und durfte auch einem Schuster über die Schulter schauen. Mittlerweile waren die Schließanlagen der Wohnungstüren so kompliziert und sicher geworden, dass sie sein Geschick überforderten und er sich mit kleinen Reparaturen über Wasser halten musste.

Doch immer weniger Menschen nahmen seine Dienste in Anspruch. Es lohnte sich nicht mehr, denn Neuanschaffungen waren meist billiger. Die letzte Miete für seinen kleinen Laden hatte er schon nicht bezahlten können. Durch das Schaufenster, das zusammen mit der Eingangstür die Front zur Straße bildete, sah er hinaus. In diesem Jahr prangte dort wenigstens eine Lichterkette mit goldenen Sternen, die eine fürsorgliche Kundin vorbeigebracht hatte. Dabei hasste Gunther die Vorweihnachtszeit und überhaupt das ganze Fest, denn beides drängte ihm jedes Jahr ins Bewusstsein, ohne Familie dazustehen. Das begründete sich bei dem Mann von Mitte vierzig nicht in dem frühzeitigen Ableben aller Verwandten. Sie hatten sich schon in seiner Kindheit von ihm zurückgezogen, was er damals nicht bedauerte. Vor der Brutalität der einen hatte er Angst. Die Belehrungen der Spießer wollte er nicht hören, und die anderen begegnetem ihm mit besoffener Gleichgültigkeit.

Einsamkeit war ihm vertraut, und er benutzte sie als Schutzschild gegen Enttäuschungen. Sollte die Welt da draußen doch das Fest der Liebe ausgelassen feiern. Auch sie würde von der Wirklichkeit eingeholt werden, wenn die Kerzen abgebrannt waren und der Alltag einkehrte. Trotzdem beschlich ihn zu dieser Jahreszeit oft leise Wehmut. Die anderen konnten wenigstens kurz einen Traum vom Glück leben, während Gunther meinte, von der Dunkelheit verschlungen zu werden.

Während er sich wieder dem Schuh widmete, bemerkte er plötzlich, dass seine Lichterkette im Schaufenster erlosch. War ihm schon der Strom abgestellt worden? Aber die Funzel über seiner Werkbank leuchtete noch. Dann erstrahlte auch wieder die Lichterkette. Erleichterung durchströmte Gunther. Doch das konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Tage in diesen Räumen und als freier Unternehmer gezählt waren. Stets war ihm seine Selbständigkeit wichtig gewesen. Er wollte sich nicht abhängig machen und zum Befehlsempfänger werden. Zu oft hatte er sich auf die Versprechungen und Anweisungen angeblich erfolgreicher Leute verlassen und war so immer tiefer in einen Sumpf geraten. Nun misstraute er jedem.

In seiner winzigen Wohnung über dem Laden hielt sich Gunther selten auf. Wenige, aus Sperrmüll zusammengezimmerte Möbel ließen keine Gemütlichkeit aufkommen. Der Fernseher war kaputt und Bücher las er nicht. Also benutzte er den Raum nur zum Schlafen. Wenigstens die Dusche spendete noch heißes Wasser, und die alte Kaffeemaschine versah treu ihren Dienst. Vor die Tür ging er selten, denn seine Kleidung zeugte von einem kümmerlichen Dasein. Doch im Laden verlangte ja niemand, dass er wie aus dem Ei gepellt erschien. Die wenigen Kunden plauderten gern mit ihm. Einige hatten wohl auch nichts Besseres zu tun. Mancher Tag verging auch ohne Arbeit wie im Fluge.

Es war zu vermuten, dass einige Menschen in diesem Viertel gerade in der Vorweihnachtszeit Mitleid mit Gunther hatten und deswegen einige Sachen zur Reparatur vorbei brachten. So war er wenigstens beschäftigt. Doch seltsamerweise erlosch die Lichterkette am Fenster jeden Abend zu unterschiedlichen Zeiten, um kurz darauf wie zu erstrahlen. Ein Spannungsabfall vermutete der Mann, doch sah keinen Grund, die Ursache festzustellen. Er wertete das merkwürdige Ereignis eher als Zeichen für seinen beginnenden Untergang.

Eines Nachmittags besuchte ihn ein kleines Mädchen, für das er schon häufiger Spielzeug wieder gerichtet hatte. Sie hieß Jule, und sie mochten einander sehr. Doch es dauerte eine Zeit bis die Kleine erzählte, dass ihr Papa weit weg im Ausland lebte. Dabei hätte sie so gern ein Geschwisterchen gehabt. Aber die Mutter lebte ohne Mann, weswegen dieses zurzeit nicht möglich war. Heute beschenkte sie Gunther mit einem zauberhaften und gleichzeitig geheimnisvollen Lächeln. Mit verschwörerischer Stimme flüsterte sie:
„Jeden Tag geht an deinem Geschäft ein Engel vorbei.“
Der Mann fragte ungläubig:
„Wie kommst Du denn darauf?“
„Der Engel will natürlich nicht gesehen werden. Deswegen erlöscht immer deine Lichterkette im Fenster.“
„Ach so, ich hatte mich schon gewundert. Aber nun verstehe ich.“
Zufrieden grinste das Mädchen. Gunther erinnerte sich schmerzlich daran, dass auch er als Kind an Engel und den Weihnachtsmann geglaubt hatte. Diese Phantasien waren ihm aber schnell ausgetrieben worden. Wie schön musste es sein, sich diesen Träumen noch hingeben zu dürfen.
„Meinst Du, der Engel besucht mich mal in meinem Laden?“ fragte er, um zu beweisen, dass er Jules Einschätzung vertraute.
Da öffnete sich die Tür und eine gutaussehende Frau in den Dreißigern trat ein.
„Mami“, wurde sie von dem Kind begrüßt und umarmt.
„Ach, hier treibst Du dich also rum. Plötzlich warst Du verschwunden.“
„Aber ich musste dem Gunther doch von dem Engel erzählen.“
Die Mutter lächelte den Ladenbesitzer freundlich und offenherzig an. Dieser erklärte mit ernstem Gesicht:
„Ja, das war eine sehr wichtige Information für mich.“
„Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, dessen Nähe ein Engel sucht“, sagte die Frau, und es klang beinahe ehrfürchtig.
Nun fühlte sich Gunther peinlich berührt. Dachte diese schöne Frau etwa, er würde an solchen Humbug glauben? Doch plötzlich kam ihm das Ganze gar nicht mehr so unwahrscheinlich vor. Verlegen lächelnd schaute er zu Boden.
„Wenn ich sehe, mit welchem Geschick sie das Spielzeug meiner Tochter wieder in Stand gesetzt haben, bin ich immer wieder beeindruckt. Ich habe zwei linke Hände. Gerade klemmt meine Balkontür, und ich weiß mir nicht zu helfen.“
„Darf ich mir das mal ansehen?“ fragte Gunther schüchtern.
„Das wäre wirklich eine große Freude. Und vielleicht haben Sie ja Lust, uns hinterher zum Weihnachtsmarkt zu begleiten“, antwortete die Frau.
„So, wie ich aussehe“, stellte der Mann zweifelnd fest.
„Wenn Sie einem Engel, meiner Tochter und mir gefallen, wie Sie sind, dann dürfte das kein Problem sein.“



Ich wünsche allen Lesern ein fröhliches Weihnachtsfest und ein glückliches und gesundes Jahr 2014

Christiane

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Trug und Wahrhaftigkeit: Eine Liebesgeschichte von Christiane Mielck-Retzdorff



Zum wiederholten Mal muss sich die Gymnasiastin Lisa-Marie in einer neuen Schule zurechtfinden. Dabei fällt sie allein durch ihre bescheidene Kleidung und Zurückhaltung auf. Schon bei der ersten Begegnung fühlt sie sich zu ihrem jungen, attraktiven Lehrer, Hendrik von Auental, der einem alten Adelsgeschlecht entstammt, hingezogen. Aber das geht nicht ihr allein so.
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