Hans Werner

Das wundersame Kettchen

Erzählung von
Hans Werner

Kilian ging an der Auslage des Schmuckgeschäftes vorbei ohne hinzuschauen. Gerade kam er vom Orthopäden. Bei diesem war er in Behandlung wegen einer Verstauchung und Zerrung am rechten Bein, die er sich im Wald zugezogen hatte. Er war nämlich Waldarbeiter, und diese Arbeit begann ihn mit seinen fünfzig Jahren langsam anzustrengen. Ja früher, da hatte er Bärenkräfte, im Tragen schwerer Holzstämme konnte er es mit allen aufnehmen. Auf den Forstämtern war er gut angeschrieben, denn man konnte ihn da einsetzen, wo rohe Kräfte gefragt waren. Nun fühlte er, dass er von der schweren Arbeit langsam verbraucht war und nicht mehr so zupacken konnte wie früher. Mühsam schleppte er sich vorwärts, das verstauchte Bein schmerzte ihn, nur wenig hatte die Behandlung geholfen. Aber etwas zwang ihn umzukehren. Hätte ein hypnotischer Blick durch seinen Nacken hindurch seine Seele beherrschen können, bohrender hätte er wohl den Zwang nicht empfunden, diesen Zwang, sich umzudrehen und wieder zur Auslage des Schmuckgeschäftes zurückzugehen.
Da lag etwas unter der Vitrine und leuchtete, sandte ein mildes, blaues Licht aus, das sich im spiegelnden Glas mit den schräg einfallenden Sonnenstrahlen verfing und dabei glitzerte und funkelte. Es war ein kleines, goldenes Kettchen, mit einem blauen Stein, kaum größer als zwei Millimeter im Durchmesser, aber so sorgsam eingefasst, als hätte ein Goldschmied dabei seine ganze Kunst aufgeboten. Und dieser Stein leuchtete, strahlte, blitzte, funkelte, glitzerte und blendete jeden Blick, den sein Licht getroffen hatte. Sein Blau sprang Kilian in die Augen, er konnte sich nicht davon lösen. Fieberhaft suchte er nach dem Preisschild.
Kilian war arm, jeden Pfennig musste er umdrehen. Seine Frau hatte ihm schon längst zum Vorwurf gemacht, es beruflich nicht weiter gebracht zu haben als bis zum gewöhnlichen Waldarbeiter. Das monatliche Geld reichte gerade, um den täglichen Bedarf zu decken. Vor zwanzig Jahren hatten sie geheiratet. Seine Frau Carla hatte ihn damals leidenschaftlich begehrt, denn er war wegen seiner kräftigen Gestalt durchaus vorzeigbar, sozusagen ein männliches Idealbild wie aus dem Werbeprospekt eines Bodybuild-Centers. Und wenn er sommers aus dem Freibad stieg, dann glänzten seine Muskelpakete in der Sonne. Auch auf dem Tanzboden machte er damals eine gute Figur. Zwar beherrschte er nur die einfachsten Schritte - kompliziertere Figuren überstiegen sein Vorstellungsvermögen - aber die legte er flott aufs Parkett. Dabei hielt er seine Carla mit starken Armen umfasst, und sie schmiegte sich an seine kräftige Brust. Nach Jahresfrist hatte sie ihm einen Sohn geboren, Felix nannte sie ihn. Bei der Namensfindung war schon damals sein Urteil nicht gefragt. Denn alles Poetische, Geistige, ging nicht in sein Fach. Und wie dann der Sohn zu einem ebenfalls hübschen und auch noch intelligenten Knaben heranwuchs, da sank gleichermaßen Carlas Achtung vor ihrem Mann.
Das Unglück wollte es zudem, dass sich in jener Zeit auch bei der Waldarbeit einige Unfälle ereigneten, zwar keine dramatischen Sachen, aber doch Missgeschicke mit hartnäckigen Folgen. Einmal war ihm die Motorsäge aus der Hand gerutscht und hatte ihn bös ans Knie geschlagen, so dass er lange Zeit hinkte. Dann war beim Fällen einer noch jungen, aber kranken Fichte ein Ast zurückgeschnellt und hatte ihn so schlimm an der Schulter getroffen, dass sein rechter Arm halb auskugelte und er lange einen Verband tragen musste. Mit diesen Ereignissen schwächte sich auch zusehends sein Ruf als unübertrefflicher Herkules. Sein Profil bekam Risse. Dieses merkte er auch, wenn zur Vesperzeit seine Kumpels beisammen saßen und diskutierten. Während früher alle andächtig schwiegen, wenn er nur den Mund aufmachte und seine Meinung äußerte, so hatte er nun Mühe, überhaupt erst zu Wort zu kommen. Die andern redeten einfach weiter, wenn er etwas sagen wollte. Dann verspürte er ein Würgen im Hals.
Seine Frau liebte er indessen immer mehr, je mehr deren eigene Zuneigung zu ihm abnahm. Es schien, als entwickle sich in ihm, mit schwindendem Ansehen und nachlassender Körperkraft, eine Zartheit der Seele, die ihm vorher in dieser Art völlig fremd gewesen war. Manchmal wollte er abends, wenn er mit Carla beim Nachtessen zusammensaß, einige einfühlsame Worte wechseln, über den Tagesverlauf, über die Planungen der kommenden Tage, auch über das Leben ganz im allgemeinen, schlichte Betrachtungen, die ihm sein ungebildeter Verstand gerade eingab. Dann sah sie ihn an, süßsauer lächelnd, und meinte, es sei nun wohl an der Zeit, die Fernsehserie einzuschalten, die seit einigen Tagen lief und der sie voller Begeisterung zusprach. Wenn sie sich dann nach einigen Stunden Flimmerkiste betäubt aus den Sesseln erhoben und das Bett aufsuchten, dann fiel sie augenblicklich in Schlaf, während er meist noch längere Zeit wach dalag und über sich und sein Leben nachdachte. -
Immer noch stand er da, vor der Auslage des Schmuckgeschäftes, und schaute aufs Preisschild. 149 DM waren nicht viel für dieses Kettchen. Es sah bei Gott viel kostbarer aus, es machte, wie man so schön sagte, etwas her. Diesen Schmuck hätte sogar ein Vornehmer seiner Herzensdame verehren können. Kilian begann zu rechnen. Er erinnerte sich, dass er auf seinem geheimen Sparbuch, das er über alle Jahre hinweg für sich angelegt und vor seiner Frau mit Erfolg verheimlicht hatte, noch eine Summe stehen hatte, die ungefähr gerade soviel betrug, wie das Kettchen kostete. Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch das Schaufenster auf den blauen Stein und ließen dessen mildes Licht erglänzen. Und dieses Licht schien auf Kilian eine seltsame Wirkung auszuüben. Plötzlich konnte er nicht mehr anders, er musste, wie von einem Zwang getrieben, zur Bank gehen, die nur wenige Schritte entfernt eine kleine Zweigstelle hatte. Dort verlangte er die Auszahlung seiner Barschaft. Der Schalterbeamte sah ihn zunächst misstrauisch an, ließ sich die Kontonummer des Sparbuches zweimal sagen, die Kilian seit Jahren auswendig wusste. Dann erst, nach prüfendem Blick in den Computer-Bildschirm, war er bereit, die 155 DM auszuzahlen, die Kilian angespart hatte. Kilian nahm das Geld in Empfang, betrachtete dabei sorgfältig Scheine und Münzen und verstaute sie in seinem ranzigen Geldbeutel.
Kurz darauf hatte er das Kettchen erstanden und weihnachtlich einpacken lassen. Am Christtag wurde, wie jedes Jahr, der Baum aufgestellt. Hier konnte sich Kilian nützlich machen. Aus seinem Revier durfte er sich eine hübsche Weißtanne schlagen, die er zuvor mit Kennerblick ausgesucht hatte. Carla war mit dem Baum recht zufrieden und lächelte ihrem Mann anerkennend zu, was dieser in sich aufnahm wie eine selten gewordene Labung der Seele. Der Baum wurde schön geschmückt, einige Päckchen kamen drunter zu liegen, die meisten für Felix, einige für die wenigen Verwandten, die an den Feiertagen kommen würden, zwei verheiratete Schwestern Carlas, und auch ein Päckchen für Kilian. In diesem befand sich ein neuer Rasierpinsel, den er dringend benötigte, nachdem der alte seine letzten Haare eingebüßt hatte. Aber auch ein Päckchen war darunter, auf das Kilian alle seine Hoffnungen setzte, nämlich das kleine Schmuckkästchen mit der Kette und dem blauen Stein.
Wie nun am Heiligen Abend, nach dem obligatorischen "Stille Nacht", die Bescherung in vollem Gange war, da staunte Carla nicht schlecht, als sie ihr Päckchen aufmachte.
"Schau, Carla, das ist für dich," sagte Kilian mit leiser, fast brechender Stimme und sah ihr dabei treuherzig in die Augen.
Als Carla das Kästchen öffnete, die Halskette entdeckte und dabei den kleinen blauen Stein funkeln sah, geschah mit ihr plötzlich eine Verwandlung, unerwartet und unbegreiflich. Sie fühlte, wie dieses blaue Licht sie anstrahlte, durch ihre Augen drang, als wollte es ihre ganze Seele ausfüllen, und sie dabei mit einer Wärme überflutete, die sie in dieser angenehmen Art überhaupt noch nie empfunden hatte. Sie konnte die Augen von dem warmen Licht des Steins nicht lösen, und plötzlich, kaum dass sie sich dessen bewusst war, wandte sie sich ihrem Manne zu, diesem groben Kilian, dem sie schon seit vielen Jahren keine Zärtlichkeit mehr geschenkt hatte, umfing seinen Kopf mit beiden Händen und küsste ihn auf den Mund. Er wusste nicht, wie ihm geschah, seine hellblauen Augen wässerten. Nur stammeln konnte er: "Aber Carla, was ist mit Dir?" Dann legte Carla ihren Kopf an seine Brust und flüsterte, kaum hörbar: "Verzeih, ich war immer so grob zu dir."
Dieses Ereignis war für Kilian die schönste Weihnachtsüberraschung. Aber es sollte nicht die einzige bleiben. Als Carla in den folgenden Tagen ihr neues Kettchen trug, stellte sie fest, dass auch andere Menschen wie gebannt den blauen Stein betrachteten, erstaunt, verwundert, hingerissen, und dass deren Augen dabei freundlich aufleuchteten. Selbst Personen, die Carla immer missmutig und unfreundlich begegnet waren, der alte Milchmann, der immer so kurz angebunden war, oder auch die ewig unzufriedene Nachbarin, deren Mann fremd ging, oder der Friseur, bei dem sie die Haare schneiden ließ, und der mit seinem aufdringlichen Wesen alle Damen belästigte, alle diese Menschen schienen mit einem Male wie verwandelt, wenn sie das blaue Steinchen erblickten. Dieser Stein schien eine heilende Kraft zu besitzen, etwas Wunderbares, das man auf natürliche Weise nicht erklären konnte.
Zunächst hielt Carla diese Veränderung ihrer Mitmenschen für bloßen Zufall, für eine vorübergehende Aufhellung deren Wesens. Aber, je öfter sie ihre Kette trug und je öfter sie mit ihnen zusammentraf, umso regelmäßiger stellte sich deren ungewohnte Freundlichkeit ein, die sich im Laufe der Zeit bis zu einer deutlichen Liebenswürdigkeit steigerte, ja manchmal in die unverhohlene Bereitschaft überging, Carla Zuneigung und Freundschaft anzutragen. Dann ging Carla verwundert nach Hause und stellte sich im Schlafzimmer vor den großen Spiegel. Sie schaute ihr Kettchen an und ließ das blaue Licht auf sich wirken.
"Was bist du nur für ein Licht?", konnte sie dann verwundert sagen, und dann schien es ihr manchmal, als ob der Stein mit einem aufblitzenden Funkeln ihr antwortete:
"Du selbst bist das Licht, nicht ich, nicht ich, nicht ich..."
Carla schien es zu hören und doch nicht zu hören. Sie ging wieder ihrer gewohnten Arbeit nach. Der übliche Alltag nahm sie wieder in Beschlag. Doch versäumte sie nie, ihr Kettchen anzulegen. Sie trug es, wo auch immer sie arbeitete, wohin sie auch ging, bei Besuchen, Besorgungen, Einkäufen und allen täglichen Verrichtungen. Und nie versagte der Stein seine Wirkung. Das milde blaue Licht schien auf alle zu strahlen. Und Carla empfand diese Atmosphäre der Freundlichkeit als ein neues, ihr bislang unbekanntes Glück.
Und so kam es, dass sie selbst immer mehr auf die Wirkung des Steins vertraute und mit dessen Wirkung sicher rechnete. Und die Freundlichkeit, mit der sie auf die anderen zuging, die anmutige Sicherheit, beruhte letztlich auf dem dauernden Vertrauen, das sie auf die Wirkung des Steins setzte. Und nie enttäuschte sie der blaue Edelstein, von dessen Echtheit eigentlich niemand ein Zertifikat hätte abgeben können, vermutlich war er nur ein billiges Dublée. Mit der Zeit gewöhnte sich Carla so sehr an dieses neue Lebensgefühl, dass sie immer weniger auf den Stein achtete, ihn sozusagen für selbstverständlich nahm und nicht mehr kontrollierte, ob sie nun die Kette gerade trug oder nicht.
Eines schönen Tages musste sie auf der Polizeiwache erscheinen, weil sie ohne Führerschein in eine Kontrolle geraten war. Ihr Herz klopfte mächtig, denn sie hatte Angst, es könnte einen unangenehmen Auftritt setzen, und vor allem fürchtete sie die Geldstrafe, die mit Sicherheit über sie verhängt werden würde. Mit schlotternden Knien ging sie die Treppen hinauf zur Dienststelle. Dort empfing sie der diensttuende Beamte, ein Mann mittleren Alters, dessen Augen sie groß und forschend anschauten, während er die Mundwinkel gravitätisch nach unten zog.
"Sie sind also Carla Moosgruber?," sagte er und richtete Blicke auf sie, als würde er nun ein peinliches Verhör führen müssen.
Sie lächelte ihm zu und erwiderte, so freundlich sie konnte:
"Carla Moosgruber, Steinallee 14, ja, ich bin herbestellt. Da ist mein Führerschein. Und ich entschuldige mich vielmals, es soll nicht mehr vorkommen. Wissen Sie, ich hatte es so eilig. Ich musste doch meinen Sohn zur Bahn bringen. Er studiert in Tübingen."
Sie hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein, ihr charmantestes Lächeln aufgesetzt, und auch er wurde plötzlich freundlich und entgegenkommend, ohne recht zu wissen warum und wieso.
"Aber gnädige Frau, das kann doch einmal vorkommen. Wir sind auch keine Unmenschen. Wo studiert ihr Sohn? In Tübingen? Ja, der meine auch. Vielleicht können sie das nächste Mal zusammen fahren."
Und mit den höflichsten Worten und einer höchst galanten Ermahnung wurde sie aus der Polizeiwache entlassen.
Wie sie erleichtert die Treppen hinunterging, wollte sie dankbar nach ihrem Kettchen greifen, dessen Stein sie die günstige Wendung dieses Gesprächs zuschrieb. Doch, oh Wunder, er hing nicht an ihrem Hals. Sie hatte, im Eifer des Gefechts, vergessen, das Kettchen anzulegen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.12.2013. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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