Ernst Dr. Woll
Unsere Rusalka war keine Nixe sondern eine Schildkröte
Die meisten Geschichten über Heimtiere handeln von Katzen und Hunden, es folgen Ziervögel, Kleinnager und Zierfische; viel weniger wird aber über Schildkröten berichtet. Wahrscheinlich hängt das auch damit zusammen, dass Schildkröten Wildtiere bleiben auch wenn sie in Haus und Garten, oder in der Wohnung gehalten werden; Kinder können weniger mit ihnen spielen. Außerdem sind einige Arten geschützt, ihr Erwerb und ihre Haltung schwierig und teilweise an strenge Bestimmungen geknüpft.
Diese Geschichte soll unserer Schildkröte Rusalka, die wir 1962 erwarben, ein Denkmal setzen. In Bulgarien in der Nähe von Nessebar schlüpfte sie, eine griechische Landschildkröte, aus dem Ei und wuchs dort im Freien in artgerechter Umgebung und günstigem Klima zu einem schönen Tier heran. Als sie etwa 2 Jahr alt war, wurde sie von uns, unter Beachtung der Zollbestimmungen, in das etwas klimatisch rauere Mitteleuropa nach Thüringen entführt. Ihr Geschlecht war noch nicht festzustellen, deshalb konnten wir uns wahlweise für einen männlichen oder weiblichen Namen entscheiden. Wir wählten den Mädchennamen Rusalka, obwohl das Tier keine Ähnlichkeit mit einer Nixe gleichen Namens in der bekannten Oper von Dvorak hatte. Für unsere Namensgebung war aber letztlich der Name einer Bar am Strand von Nessebar ausschlaggebend, weil es dort sehr gemütlich war und wir ausgezeichneten bulgarischen Wein getrunken hatten; das wollten wir gern in freudiger Erinnerung behalten. Später stellt sich heraus: „Rusalka war männlichen Geschlechts, aber das Tier erhielt trotzdem von uns keinen anderen Namen!“.
Unsere 4 Kinder, 9, 7, 5 und 3 Jahre alt, nahmen wir damals nicht mit auf unsere dreiwöchige Urlaubsreise nach Bulgarien. Die Vier waren während dieser Zeit bei den Großeltern und fühlten sich dort sehr wohl. Unser ältester Sohn spielte bei unserer Ankunft vorm Haus von Oma und Opa auf der Straße, als er uns sah sagte er: „Jetzt kommen die schon wieder und wir müssen mit zurück in die Stadt.“ In ihrem Ferienparadies genossen sie die Freiheit eines Landlebens. Außerdem hatten sie Möglichkeiten des Umgangs mit fast allen Haustieren von Katzen über Hunde bis zur Kuh und einem Pferd. Die Kinder freuten sich deshalb, dass mit der Schildkröte Rusalka wieder der Anfang einer Heimtierhaltung in unserer Familie begann. Wir waren 1960 in eine Stadtwohnung mit einem nur kleinen Hausgarten gezogen und hatten noch keine Haustiere wieder angeschafft. In der Kleinstadt, wo wir bisher in einem Haus mit großem Garten gewohnt hatten, besaßen wir einen Jagdhund und Katzen. Diesen Tieren wollten wir die engere Stadtwohnung nicht zumuten und überließen sie dort Nachbarn, wo eine bessere artgerechte Haltung und Umgebung garantiert war.
Im geräumigen Kinderzimmer bekam Rusalka ihren artgerechten Platz und unsere vier Kinder sorgten sehr eifrig und vorbildlich für das Tier. Obwohl Schildkröten Allesfresser sind war Rusalka Vegetarier, sie bevorzugte Löwenzahn und Blätter vom Kopfsalat. Im Garten bekam sie einen eingefriedeten Platz und es wurde sehr darauf geachtet, dass sie genügend sonnenbaden konnte; das brauchte sie zur Bildung des Vitamins D3, das für die Kalziumanlagerung im Panzer notwendig ist! Im Keller ermöglichten wir ihr in einer großen mit Erde und Laub gefüllten Kiste den Winterschlaf.
Wir wussten, dass auch Schildkröten nicht gern allein sind und kauften ein 2. männliches Exemplar, mit dem wir kein Glück hatten, es starb nach wenigen Wochen. Die Todesursache konnten wir nicht ermitteln. Wir schafften aber einen Langhaardackel, der den Namen Fasko erhielt, an, der sich mit Rusalka anfreunden sollte. Das misslang, denn als der Hund ca. ein halbes Jahr alt geworden war betrachtete er die Schildkröte als Konkurrentin. Er war derart eifersüchtig auf dieses Tier, dass er bellte und aggressiv wurde, wenn wir die Gepanzerte freundlich ansprachen. Ihn ärgerte es dann auch, dass sie ihren Kopf einziehen konnte und er am Panzer keine Angriffsfläche fand. Seine Missgunst ging so weit, dass er ihr die Salatblätter wegnahm und diese an Orte schleppte, die für die langsame, unbeholfene Schildkröte unerreichbar waren.
Wir verdächtigten auch den Hund, dass er im Garten die Einfriedung von Rusalkas Gehege zerstörte, damit sie fortlaufen konnte. Das gelang ihr auch einige Male, wenn wir nicht rechtzeitig die Missetat des Hundes bemerkt hatten. Im Nachbargarten konnten wir sie aber meistens wieder finden. Nur an einem sehr schönen Herbsttag eines Jahres, als wir die beiden Tiere 3 Jahre hatten, war Rusalka spurlos verschwunden. An diesem und den folgenden Tagen suchten wir die Schildkröte und dachten, der Dackel könnte uns dabei behilflich sein. Dieser kümmerte sich aber gar nicht um unsere Suchaktionen, wir hatten sogar den Eindruck er schien froh zu sein, dass seine Rivalin weg war. Erst im nächsten Frühjahr, als wärmende Sonnenstrahlen diese schöne Jahreszeit ankündigten, brachte uns der Nachbar Rusalka wieder. Sie hatte dort im Garten im Komposthaufen überwintert.
Nach 6 Jahren passierte es wieder, dass im Spätherbst die Schildkröte verschwand! Wir waren nicht beunruhigt, wir dachten, wie ehemals, im Frühjahr sie wieder zu finden. Dieses Mal ging unsere Erwartung nicht in Erfüllung. Wir vermuteten aber, dass das Tier wieder schadlos überwintert hatte, jedoch gestohlen worden war. Alle, außer unserem Dackel Fasko, waren traurig.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.01.2014.
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