Manfred Bieschke-Behm

Engeleuf,Teufeleng und der Seerosenteich

Engeleuf, Teufelseng und der Seerosenteich - Ein Märchen für Erwachsene

Engeleuf fühlt sich besonders wohl, wenn sie sich unbekümmert ihren Wünschen und Bedürfnissen hingeben kann. Einmal keine Aufgaben und keine Verpflichtungen zu haben. Sich einfach dem Leben hingeben. Ja, das ist es, was sich Engeleuf manchmal gönnt. Für heute hat sie sich deshalb vorgenommen zum Seerosenteich zu fliegen, und dort nackt zu baden. Einige ihrer Artgenossinnen hatten berichtet, dass sie es selbst getan hätten und es ein wunderbares Gefühl sei nackt im See zu baden. Allerdings erzählten sie auch, dass es nicht ganz ungefährlich sei, denn der See liegt außerhalb ihres Reviers und befindet sich auf der anderen Seite des Berges und deshalb müsse sie damit rechnen, dass Unvorhersehbares geschehen könnte. Dieser Umstand macht Engeleuf noch neugieriger, obwohl sie ein leichtes Unbehagen spürt. Engeleuf ist dafür bekannt, dass sie eine starke Persönlichkeit ist, die sich vor nichts fürchtet und gerne das tut, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Viele ihrer Artgenossinnen sagen, dass sie ihren merkwürdig klingenden Namen wohl völlig zurecht trägt. Sie begründen ihre Aussage damit, indem sie behaupten, sie hätte ein klein wenig Teuflisches an sich. Speziell, wenn Engeleuf wütend ist, oder sich ungerecht behandelt fühlt. Dann können ihre Augen blitzen, als wenn sie Pfeile verschössen. Und wenn sie dann auch noch unübersehbar mit dem rechten Fuß aufstampft, ist nicht zu verkennen, dass sie etwas andersgeartet ist, als ihre Artgenossinnen. Meist ist Engeleuf aber friedfertig und erfreut sich großer Beliebtheit.
 
Heute nun will Engeleuf allein einen Ausflugsflug zum Seerosenteich machen. Vorsichtshalber hat sie niemanden von ihrem Vorhaben erzählt. Engeleuf hat die Befürchtung, dass wenn sie von ihrem Vorhaben berichtet hätte, der eine oder andere Engel gerne mitgeflogen wäre. Und das wollte sie unbedingt vermeiden. Nein, heute will sie ganz für sich allein sein und die Stunden, die ihr zur Verfügung stehen genießen.
 
Der Flug zum Seerosenteich war nicht sonderlich anstrengend, wenngleich sie ein wenig außer Puste ist. Während des Fluges spürte Engeleuf ihren Herzschlag heute um ein vielfaches deutlicher, als sonst. Das liegt sicherlich daran, das sie etwas vorhat, was sie noch nie zuvor getan hat. Nackt baden in einem See. Nackt!
Zunächst überfliegt Engeleuf den gesamten See. So kann sie sich einen Gesamteindruck verschaffen. Sie stellt fest, dass der See aus der Vogelperspektive betrachtet wie ein großer ovaler Teppich ausschaut. Nur die vielen kleinen rosa Seerosen wagen es, das geschlossene Dunkelblau zu durchbrechen.
Engeleuf setzt zur Landung an. Sie landet zwischen zwei Bäumen auf einer grünen Wiese. Das ist genau die Stelle, die ihr von oben betrachtet so gut gefiel. Vorsichtig schaut sie zu beiden Seiten und ist zufrieden, dass ihr nichts angstmachendes auffällt. Sorgfältig entledigt sie sich ihrer Flügel und legt diese in das satte grüne Gras. Sie hatte vergessen ihre Artgenossinnen zu fragen, ob man mit Flügel ins Wasser steigen kann, oder ob das zu gefährlich sei. Sie weiß aus Erfahrung das, wenn es regnet, das fliegen mit nassen Flügeln anstrengender ist als bei Sonnenschein. Wobei sie bei Sonnenschein aufpassen muss, sich ihre Flügel nicht zu verbrennen.
Engeleuf will es auf kein Experiment ankommen lassen und findet es deshalb in Ordnung ihre Flügel abgelegt zu haben.
Wieder schaut sie nach rechts und nach links. Denn jetzt hat sie etwas vor, was ihr Herz noch höher schlagen lässt, als es während des Fluges ohnehin schon schlug. Jetzt will sie ihr weißes bodenlanges, fast transparentes, hauchdünnes Kleid ausziehen.
Engeleuf hat sich davon überzeugt, dass niemand sie beobachtet außer ein paar Vögel, die neugierig das Geschehen beobachten und im gebührenden Abstand zwitschernd um sie herum fliegen.
In ihrer Nacktheit spürt Engeleuf den leichten Wind auf ihrer Haut. Einen Moment lang überlegt sie, sich ihr Kleid wieder anzuziehen. Tut es dann aber doch nicht, denn sie möchte sich das noch zu Erlebende nicht entgehen lassen. Sie setzt sich in das weiche sattgrüne Gras, umschließt mit beiden Armen ihre angewinkelten Beine und faltet ihre Hände. Ihren Blick richtet sie auf die Seerosen, die sich leicht hin und her bewegen. Engeleuf glaubt, dass die Seerosen sie mit ihrem Verhalten ins Wasser locken wollen. Sie ist fest entschlossen aufzustehen und sich tatsächlich in das dunkelblaue Wasser zu begeben.
Doch da wird sie durch ein knackendes Geräusch aufgeschreckt. Engeleuf weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Noch enger umschließen ihre Arme ihre zusammengepressten Knie. Sie denkt, dass es wohl doch ein Fehler war, allein zum See zu fliegen. Am Liebsten würde sie die ganze Aktion rückgängig machen. Hätte sie ihre Flügel anbehalten, denkt sie weiter, würde sie nach Hause fliegen. Sie würde sogar auf ihr geliebtes Kleid verzichten. Nur weg hier.
All diese Gedanken sind wenig hilfreich. Wie gelähmt verharrt Engeleuf auf ihrem Platz und sieht eine zarte, flügellose, ebenfalls nackte Person auf sich zukommen. Engeleuf fällt auf, dass die Haut, der sich ihr nahende Person, wie elfenbeinfarbigem Porzellan aussieht. Auch stellt Engeleuf fest, dass sie beide in etwa gleichgroß sind. Das Wesen, das nun fast vor ihr steht, trägt ein freundliches Gesicht. Was ihr bei näherer Betrachtung auffällt, sind zwei kleine Hörner, die unübersehbar aus dem schwarz gelockten Haaren hervorstehen.
 
Während Engeleuf das ihr unbekannte Wesen weiter anschaut, denkt sie: Was und wer ist das? Erst jetzt fällt ihr auf, dass es weitere Merkmale hat, die sich von den ihren unterscheidet. Engeleuf ist völlig verunsichert und weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Sie will nur eines, sie will weg.
Noch immer verharrt sie in der angespannten Körperhaltung. Jetzt steht das Wesen ganz dicht vor ihr. Es schaut sie fast liebevoll an und sagt zu ihr: „Willkommen in meinem Reich. – Mein Name ist Teufeleng. Ich lebe hier, weil mir mein Vater, dieses Stück Land geschenkt hat. Er war der Meinung, dass ich in der Unterwelt, wo er gelebt hatte, nicht hingehöre.“ Engeleuf hört mit großen Augen aufmerksam zu, ist nicht fähig mit Worten zu reagieren. „Hast du auch einen Namen und wo kommst du her?“, fragt Teufeleng und ergänzt, „So etwas Schönes wie dich habe ich hier noch nie gesehen.“
„Mein Name ist Engeleuf“, antwortet, der nackte flügellose Engel, zaghaft. „Ich komme von weit her. Mein Zuhause ist die große Wiese, die von alten Bäumen umgeben ist jenseits des Berges. Dort lebe ich zusammen mit meinen Artgenossinnen.“
Teufeleng und Engeleuf verstummen. Sie fühlen sich durch die unverhoffte Begegnung nicht im Hier und jetzt. Keiner von beiden ist fähig überhaupt noch ein Wort zu sagen.
Endlich bricht Teufeleng das Schweigen und fragt: „Wie bist du hergekommen? Wieso bist du hier? Was hast du vor?“
„Ich bin hergeflogen. Sie dort liegen meine Flügel. Ich habe vor nackt zu baden, so wie es ein Teil meiner Geschlechtsgenossinnen vor mir in diesem See getan haben?“
„Hier in diesem See haben noch nie Wesen wie du gebadet. In diesem See darf nur ich baden. So hat es mein Vater vor langer, langer Zeit verfügt.“
„Aber warum erzählen meine Schwestern, dass sie hier in diesem See gebadet hätten?“
„Das weiß ich nicht! – Da musst du sie fragen“, antwortet Teufeleng.
Engeleuf ist nun total verwirrt. Sie fängt an zu weinen. Ihre Tränen rinnen wie kleine Diamanten ihre Wangen hinunter.
„Sei nicht traurig“ tröstet Teufeleng und legt seinen Arm um ihre Schultern. Engeleuf fühlt sich gleich sonderbar berührt. Sie spürt eine bisher unbekannte Wärme und empfindet die leichte Umarmung als sehr angenehm. Auch Teufeleng spürt, dass ihm die körperliche Nähe gut tut. Noch nie hatten beide ähnliche Empfindungen und Erfahrungen gemacht. Was hat das zu bedeuten?, denken beide ohne den Gedanken auszusprechen.
Beide verharren eine Weile in der wohltuenden Stellung. Beide wünschen noch mehr Nähe, wissen aber nicht wie sie mehr Nähe herstellen können. Sie sind verunsichert und gleichzeitig auch ängstlich etwas falsch zu machen. Teufeleng rettet die heikle Situation, indem er Engeleuf einlädt, mit ihm ins Wasser zu gehen. Engeleuf zögert, gibt dem Drängen aber denn doch nach.
Gemeinsam steigen sie in das tiefdunkelblaue Wasser. Behutsam schieb Teufeleng die Seerosen zur Seite. Beide können nun ohne Hindernisse immer weiter und tiefer in das Wasser eintauchen. Bald ragen nur noch ihre Köpfe aus dem Wasser. Engeleuf, die sich noch nie in einem so großen Wasser befand, empfindet keine Angst. Sie fühlt sich im Wasser und in der Nähe von Teufeleng sehr wohl. Sie hat das Gefühl von seltener Verbundenheit, weiß diese aber nicht zu deuten. Auch Teufeleng versteht sein Verhalten nicht. Weshalb lässt er es zu, dass ein andersartiges Wesen in seinem See badet? Weshalb fühlt er sich diesem Wesen so hingezogen und glaubt es schon ewig zu kennen?
Gemeinsam schwimmen sie an das andere Ufer des Sees und entsteigen dort dem Wasser. Nass und nackt stehen sie sich gegenüber und können sich ohne Scham betrachten. Sie fallen sich in die Arme und spüren, wie eine noch nie gefühlte Wärme beide durchdringt. Nur die sich langsam neigende Sonne veranlasst sie, sich aus der Verarmung zu lösen und zum Ausgangspunkt zurück zu schwimmen.
Noch bevor sie gemeinsam auf dem Wasser steigen entdecken sie an einem Baumast hängend einen nicht zu übersehenden weißen Ring. „Siehst du auch, das, was ich sehe“, fragt Engeleuf und deutet mit dem Finger in Richtung des Ringes. Sie fügt noch hinzu: „Was hat das wohl zu bedeuten? Als ich ankam, gab es diesen Ring noch nicht.“ Teufeleng ist über den Anblick des weißen Ringes nicht so erschrocken, wie Engeleuf. Er weiß um die Bedeutung des weißen Ringes. Sofort erinnert er sich an die letzten Worte seines Vaters: „Eines Tages, wenn Du diesen Ring zu sehen bekommst, wirst Du daran erinnert, dass es einst eine Familie gab, die aus Vater, Mutter und Kinder bestand. Obwohl sich deine Mutter und ich ewige Verbundenheit schworen, hatte die Verbindung keinen Bestand. Deine Mutter und ich mussten feststellen, dass wir zu unterschiedlich und deshalb nicht für ein Lebenslanges miteinander geschaffen waren. Meine Welt war und blieb bis heute die Schattenwelt. Die Welt deiner Mutter dagegen war die Welt des Lichts. Ich war als Herrscher der Unterwelt nicht fähig deine Mutter, die ein Egel war, auf Dauer glücklich zu machen. Deshalb trennten sich unsere Wege einvernehmlich. Wir hatten beschlossen, dass du bei mir bleibst und dass das Mädchen und deine Mutter fortgehen. Jetzt habe ich beschlossen, dich für immer in die Welt des Lichts zu schicken. Du hast ein anderes Leben verdient, du sollst glücklich leben. Ich schenke dir ein Stück Land in der Welt des Lichts verbunden mit der Hoffnung, dass irgendwann ein Wunsch von mir in Erfüllung geht.
Das alles geht Teufeleng jetzt durch den Kopf. Er fängt an zu zittern. Engeleuf glaubt, das Teufeleng friert, und legt ihm als Kälteschutz ihr Kleid über die Schulter. Sie weiß noch immer nicht, was das alles zu bedeuten hat und bittet Teufeleng um Aufklärung.
Teufeleng tut sich schwer mit einer Erklärung. Er stellt sich vor Engeleuf auf, greift ihre beiden Hände und sagt: „Du bist meine Schwester. Dein Mut und deine Neugierde hier her zum See zu fliegen, hat es möglich gemacht, uns zu finden. Wir haben beide sofort gespürt, dass wir einander begehren, und wussten gleichzeitig, dass wir nicht bis zum äußersten zu gehen dürfen. Ich glaube, das diejenigen die dir erzählten hier im See gebadet zu haben, dass nur behaupten haben. Sie wollten dich neugierig machen. Ich glaube nicht an Zufälle. Ich glaube an Vorhersehung. Deine Wesensgenossinnen wissen mehr als du und waren klug genug dich deine Entscheidung allein treffen zu lassen.“
Engeleuf hat die ganze Zeit sehr aufmerksam zugehört. Sie überlegt wer diejenigen waren, die ihr von dem Nacktbaden im See erzählt hatten. Es waren die Engel Glaube, Liebe und Hoffnung.
Teufeleng überreicht das ihm zum Schutz umgehängte Kleid seiner Schwester. Engeleuf zieht es an und spürt auf angenehmster Weise die Köperwärme ihres Bruders. Sie legt ihre Flügel an und bereitet sich auf ihren Rückflug vor.
Gerade als sie starten will, hält ihr Bruder sie fest. Er nimmt sie in den Arm und sagt: „Bleib hier.“
Engeleuf zögert keinen Moment und sagt: „Ja.“
In dem Moment verliert Engeleuf ihre Flügel und Teufeleng spürt, dass seine kleinen Hörner bis zur Unkenntlichkeit schrumpfen.
Gemeinsam setzten sie sich dem See zugewandt ins Gras und blicken auf das dunkelblaue Wasser. Die rosa Seerosen haben unbemerkt einen Kreis gebildet, in dem sich die untergehende Sonne spiegelt.
Engeleuf und Teufeleng blicken hinüber zum weißen Ring, der aber nicht mehr da ist. Warum auch? Der Wunsch des Vaters hat sich erfüllt.
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Manfred Bieschke-Behm).
Der Beitrag wurde von Manfred Bieschke-Behm auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.01.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Manfred Bieschke-Behm als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sex für Motorradfahrer von Klaus-D. Heid



Warum kann 69 bei 200 gefährlich sein? Was ist der Unterschied zwischen Kawasaki und Kamasutra? Wie kommt man am besten auf 18000 Touren? Was hat ein überfälliger Orgasmus mit kostenlosen Ersatzteilen für eine BMW zu tun? Die Welt der heißen Öfen steckt voller Fragen, auf die Ihnen Klaus-D. Heid und Cartoonistin Regina Vetter amüsant erotische Antworten geben.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Manfred Bieschke-Behm

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

ist passiert! von Manfred Bieschke-Behm (Arbeitswelt)
Der Hutmacher von Dieter Fetzer (Märchen)
Meine Bergmannsjahre (erster Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen