1
Eines Nachts - sie war fünf und schlief unter dem zum Garten gelegen Giebelfenster in ihrem Kinderbett - erwachte Ada von dem angsterfüllten Brüllen von sechs Rindern. Es kam aus Richtung des Viehumschlagsplatzes, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft hinter dem Haus von Antchen Harms neben dem ehemaligen Dorfbahnhof befand. Nie zuvor hatte Ada ein solches Brüllen gehört. Sie schrie voll maßlosem Schrecken auf. Ihr Bruder Onno im Bett neben ihr regte sich nicht. Ihre Eltern, Maike und Friedo Francke - sie waren Lehrer an einer ländlichen Privatschule - hatten gerade einen Stockwerk tiefer in leidenschaftlicher Umarmung zueinander gefunden und konnten so den Hilferuf ihres ältesten Sprosses nicht hören.
Ada oben, unfähig sich zu rühren, lauschte so gebannt dem verzweifelt andauernden Muhen der in einem Lastwagenanhänger abgestellten Tiere, dass ihre Augen zu brennen begannen. Sie horchte und horchte. Das todesgewisse Klagen der Rindviecher, der resignierte Ruf nach dem heimischen Stall, weckte tiefe Gefühle in Ada, deren Herkunft sie allerdings noch nicht in Worte kleiden konnte.
Plötzlich musste sie an Höhne denken, den Nachbarn an der Nordseite ihres Elternhauses, der sie gestern herübergerufen hatte. Schnell hatte sie auf dem kleinen Trampelpfad unter der Hainbuche hindurch die zaunlose Grundstücksgrenze überschritten und war dem Ruf des Siebzigjährigen gefolgt. Bei Höhne war gestern Schlachttag gewesen; die Stallhasen hatten dran glauben müssen.
Nun war Höhne kein Sadist, der das kleine Mädchen aus der Nachbarschaft gerne mit Schreckensbildern quälte. Nein im Gegenteil, er liebte das Mädchen, hatte es aber fest versprechen müssen, es beim Schlachten seiner Tiere dabei sein zu lassen. Ada hatte sich in den Tagen und Nächten zuvor allerhand ausgemalt und mit Schaudern vorgestellt, doch die Bilder der ängstlich zappelnden Tiere, ihr letzter Blick bevor der Knüppel traf, das scharfe Messer, das die Leichnahme öffnete wie der Reißverschluss ihren Anorak das war schon sehr nervenzerreißend gewesen.
Dieses lautlose Sterben. Die Kaninchen hatten nicht geschrieen in der Minute ihres Todes.
Am eindrücklichsten war jedoch die Schlussszene gewesen, die sich dem Kind unauslöschlich eingeprägt hatte. Da waren die vielen ausgeweideten und gehäuteten Kaninchenkörper gewesen, die der Reihe nach am untersten Ast des Apfelbaumes hingen, und darunter der riesige Kübel, in dem Felle, Köpfe, Eingeweide, Löffel und überschüssiges Fettgewebe in Massen von Blut schwammen. Da war der wie toll kläffende Hund gewesen, ein australischer Terrier, ein gezüchteter Rattenbeißer, der nur mit größter Mühe von dem Kübel ferngehalten werden konnte.
Ada war von diesem Einblick in das Landleben weder angeekelt noch geschockt gewesen, nein, sie hatte genau hingeschaut und begriffen, dass Höhne ihr etwas Wichtiges hatte zeigen wollen, etwas sehr Elementares. Die Kaninchen selbst, das wusste sie, waren genau in dem Augenblick, als ihr Licht verlöschte, schon bei Gott im Himmel gewesen; auf der Wolke mit den Möhrenvorräten saßen sie nun und schauten still vergnügt auf das irdische Geschehen herab. Nein, hier war etwas anderes wichtig gewesen. Es war um die Frage gegangen, was sich denn hinter den Kaninchenfellen und somit hinter allen Fellen schlechthin wohl befinden würde.
Ada war erstaunt gewesen. Kein blutiger Matsch, durchzuckt von geheimnisvollen Kräften, zeigte sich. Stattdessen kam im Grunde sehr schnell der Sonntagsbraten aus der Tiefkühltruhe zum Vorschein.
Sie verstand auch, dass Höhne, gerade dadurch, dass er sie tatsächlich zum richtigen Zeitpunkt gerufen hatte, gegen das Übliche verstoßen und so ihr altes Bündnis vertieft hatte. Sie hatte sein Vertrauen honoriert und die Schlachtung gegenüber ihren Eltern nicht erwähnt.
Das nächtliche Brüllen der Rinder kam Ada nun wie ein Nachhall der gestorbenen Kaninchen vor. Es war der Sterbensruf der Nager, den die Wiederkäuer hier zu inszenieren schienen.
Erst drei Stunden später, als Adas Eltern längst erschöpft schliefen, war sie fähig zu handeln. Sie zog sich Sandalen über ihre nackten Füße und schaute zur Orientierung noch einmal aus dem Fenster auf der anderen Giebelseite.
Und da sah sie tief unten Frau König, die über die Straße schlurfte.
2.
Hin und wieder, wie jetzt am zurückliegenden zweiten Weihnachtstag, luden Maike und Friedo die Frau König zu sich nach Hause ein, zum Tee in ostfriesischer Tasse, damit sie nicht so allein sei. Frau König -eine kleine, rundliche, weiche Frau um die achtzig- hatte vier ihrer sechs Brüder schon im Krieg verloren. Die anderen zwei hatte der Krebs bald weggerafft, noch ehe sie die Gelegenheit hatten, sich eine Frau zu nehmen. Frau König selber war ledig geblieben, wohl um weiterem familiären Leid keine Nahrung mehr zu geben.
Sie wohnte in südlicher Nachbarschaft und trotzte dem Leben in einer fröhlich gemütlichen Art. Der tüchtige Gebrauch von Rasenmäher und Schneeschieber, Reisigbesen und Putzlappen war ihr noch nicht zu schwer. Häufig von Schwindelattacken geplagt, die sie regelmäßig auf den Rasen ihres Vorgärtchens zwangen, schrie sie doch immer lautes wirres Kauderwelsch auf Platt durch die Siedlung, sobald sie die Gelegenheit witterte, ein Unterhaltung beginnen zu können. Stets war dann die Rede von der Zeit, als die sechs Brüder ihr noch dabei halfen, die kranken Eltern über die Runden zu bringen unter anderem mit irgendeinem rätselhaften Küsterdienst an der altreformierten Kirche Nortmoors.
"Ooch, och, siebenmarkfünfzighamwirkriegen. Siebenmarkfünfzig. Damals."
Sie nuschelte derart ihr altreformiertes Plattdeutsch durch die Lippen, dass man ihr offenkundig unzusammenhängendes Gefasel praktisch nicht verstehen konnte. Gleichwohl war es durchaus möglich, sich mit Frau König stundenlang zu unterhalten. Wenn es nicht mehr ausreichte, einfach nur zu nicken und mitfühlend zuzuhören, war Frau König manchmal in der Lage, auf gezielte Nachfrage hin einige Sätze Amtsdeutsch zu murmeln. Wenn Frau König kam, dann trank sie viel Tee und sie redete lange und lachte häufig. Sie war liebenswert und hatte auch nichts dagegen, wenn Friedo ein wenig in der Zeitung blätterte und Maike zwischendurch mal ein Adventslied auf dem Klavier spielte. Es gab Kekse und Schokolade, Kerzen und Räucherhütchen, und Onno spielte auf dem Fußboden mit Klötzchen. Ada kuschelte sich dann immer auf Maikes Schoß und beobachtete, wie sich die Speichelfäden an Frau Königs Mund langsam zu Schleim verdichteten.
Ada mochte Frau König. Frau König umarmte einen nicht sofort oder küsste einen gar. Sie wahrte Distanz. Zur Begrüßung gab man ihr die Hand. Das war sehr angenehm. Frau Königs Hände waren immer warm und trocken. Auch hatte Frau König immer ein wenig Weingummi in einer Tüte dabei und damit kam sie bei beiden Kindern sehr gut an. Ada, als einziges Kind ihres Alters in der Siedlung, war sowieso der Sonnenschein der berenteten Nachbarschaft. Wenn Ada in ihrem Kettcar durch Pastor-Harborg-Ring düste, war sie sich stets des Wohlwollens aller sicher.
Kam sie an Haus Nummer siebzehn vorbei, wo Frau König oft irgendwie mit ihren Blumentöpfchen hantierte, Rosen düngte, Laub rechte oder Rasenkanten nachschnitt, so rief die Alte manchmal etwas wie "Hej, hoo, lüttje Minske!" und Ada schrie dann immer so laut sie konnte zurück "Hej, hoo, alte Frau Königin!" und raste weiter.
Sonst wusste man nicht viel von Frau König. Die Pflege oblag der Gemeindeschwester und einem Pflegedienst. Das fünfzigjährige Siedlungshäuschen, das sie allein bewohnte, betraten die Nachbarn, Erwachsene und Kinder, nur ungern. Es hatte diese typische modrig-altbackene Atmosphäre eines Hauses, in der ein Mensch allein dem Tod entgegen reift. Dunkle kleine Zimmer, vollgestopft mit wertlosen dunklen Möbeln und Tand und gefüllt mit dem Geruch von unzähligen, lange nicht mehr richtig gereinigten Textilien.
3.
Ada rannte leise die Treppe herunter, öffnete die Haustür und lief Frau König hinterher, die in gewohnter Lautstärke irgendetwas von "melken mutt man di" redete und mit einem Putzeimer in der Hand zielstrebig zum alten Viehmarkt wanderte. Noch waren die Straßenlaternen nicht ausgegangen und ermutigten Ada dazu, Frau König einzuholen und anzusprechen.
"Moin, Frau Königin!"
Händedruck.
"Moin, lüttje Ada! Jahörstedas? Melkenmuttmandi! Kummmanmitmimit minMinske!"
"Frau König, hörst du die Kühe?! Die haben Angst, was ist das?! Du musst mir helfen! Was ist das?!"
Frau König begann zu begreifen, wer sie da mitten in der Nacht anredete und artikulierte sich etwas deutlicher.
"Kumm man nur mit mi mit, Kleene. Melken. Heinchen hat widder dat Melken vergäten. Dat is eener! Komm Ada, komm mit mir! Ich zeig dir was."
Ada schob ihre Hand zur Sicherheit in die der Alten, die nun nach links in die Bahnhofstraße einbog. Jetzt war das Brüllen der Rinder sehr laut zu hören. Der Lastwagenanhänger war das Letzte, was die beiden im Licht der Straßenlaternen noch erblickten, bevor diese Punkt 23.30 Uhr verlöschten. Vor Adas geistigem Auge malten sich nun die gehäuteten Riesenleiber der Kühe aus, die kopfüber in dem Transporter hingen.
Frau König fackelte nicht lange. Sie gab Ada den Eimer und löste die Verriegelung der Laderampe. Die Kühe mussten dringend gemolken werden. Wie konnte ihr Bruder nur so schusselig sein. Sie seufzte. Auf ihre Brüder war nie Verlass gewesen. Nicht einmal aus dem Krieg heimkommen konnten sie. Nicht einer. Und jetzt auch noch die Kühe. Wie so vieles blieb auch dieses wieder mal an ihr hängen. Doch die Kühe mussten gemolken werden.
Die Tiere verstummten.
Als die Laderampe langsam heruntergesunken war, kamen weder Rinderhälften an der Stange noch Kühe mit prallvollem Euter zum Vorschein. Stattdessen wurden sie von einem halben Dutzend halbwüchsiger Schwarzbunter neugierig angestarrt. Frau König erschlaffte und begann, von ihren langjährigen Küsterdiensten zu berichten. Nun war Ada an der Reihe, die letzte Initiative zu ergreifen.
"Die haben Hunger. Die müssen auf die Wiese."
"Joo, dat isset. Wulln wat tu frätn ham, dine bister."
"Kommt ruhig raus, wir zeigen euch, wo Gras wächst", besänftigte Ada die Tiere.
Das vorwitzigste unter ihnen streckte bereits den Hals vor. Frau König nahm die Fünfjährige beiseite und begann zu rufen. "Hej, hoo, raus mit euch Biestern!" Sie schlug mit der Hand an die Rückseite des Anhängers, und da erschreckte sich eines der Rinder und stürzte stolpernd ins Freie. Die anderen folgten in Panik und galoppierten auf dem Bahnhofsplatz herum. "Hej, hoo!" schrie Frau König und begann mit einem Male, wie irrsinnig zu lachen. Die Rinder sprengten in wilder Angst Richtung Fehn und Hammrich davon und auch Ada bekam jetzt Angst. Doch Frau König lachte immer weiter. Sie kriegte sich nicht ein. Sie gakkerte und kekkerte, sie schnaufte und prustete, sie bellte und heulte. "Lever duad as slav!" rief sie, reckte die Faust in die Höhe und brach in neue Lachsalven aus. Ada packte ihre rechte Hand und zerrte die Frau nach Hause zurück. Es ging leichter als sie vermutet hatte. Als sie Frau König endlich vor ihrer Haustür hatte, lachte die Alte immer noch. Am hinteren Ende der Straße sah das Mädchen noch einmal zwei der Kühe mit hoch erhobenen Köpfen vorbeitraben. Ada sprang nun die Vortreppe wieder herab und rannte wie der Blitz mit Panik im Nacken zum Elternhaus, schlüpfte durch die Terrassentür, verriegelte sie von innen und lauschte gebannt. Im Haus rührte sich nichts.
Im Bett angelangt schlotterte Ada vor Aufregung und Kälte. Sie überdachte ihr Abenteuer und war stolz auf sich. Sie hatten die sechs Kühe befreit. Sie hatten sie vor dem Schlachten bewahrt. Glücklich schlummerte sie endlich ein.
Die Gemeindeschwester fand Frau König schon am nächsten Tag. Sie war mit einem Lächeln auf den Lippen in ihrem Bett gestorben. Ada war untröstlich. Die Hinweise ihrer Mutter beruhigten sie allerdings nicht wenig, dass ja Frau König nun im Himmel bei Jesus sei und dort sicherlich auch ihre Brüder, von denen sie doch immer gesprochen hatte, wiedersehen würde. Und sie konnte sich ja auch um Höhnes Kaninchen kümmern, dachte Ada noch.
Von den sechs befreiten Rindern hörte Ada nie wieder etwas. Die Ostfriesen pflegen nicht so ein Aufsehen um derart marginale Probleme zu machen: Sie lösen sie einfach geräuschlos.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.01.2014.
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