Klaus-D. Heid

Der letzte Herbst

Es war einer der schönsten Herbsttage, an die ich mich erinnern konnte.

Während ich verträumt die fallenden Blätter beobachtete, lauschte ich zugleich dem Rauschen des Windes in den Bäumen. Jeden Luftzug, der über mein Gesicht fuhr, genoss ich wie die zarte Berührung eines unsichtbaren Engels. Tief versunken in einem Meer von Erinnerungen fühlte ich mich selbst wie eines der Blätter, das vom Wind getragen, seinen entgültigen Weg suchte. Meine Gedanken schwebten in der Vergangenheit, streiften all meine Hoffnungen und Wünsche, bis irgendwann die Reise sanft und unendlich weich endete.

Ein Eichhörnchen näherte sich der Bank, auf der ich saß. Vollkommen regungslos erwartete ich den kleinen rotbraunen Besucher, der mich neugierig betrachtete. Wahrscheinlich überlegte der kleine Nager, was er von mir zu erwarten hatte. Immer dann, wenn es mir ein Stückchen näher gekommen war, verharrte es einen Moment, wieselte blitzschnell nach links und nach rechts, bevor es sich wieder auf mich zu bewegte. Offenbar spürte das Eichhörnchen, dass von mir keine Gefahr ausging, denn nun war es so nahe zu mir gekommen, dass es meinen Schuh berühren konnte. Es verharrte fast fünf Minuten, bis es plötzlich kehrt machte und Sekunden später im Geäst eines Baumes verschwand. Ich sah im lächelnd hinterher.

Wie lange saß ich schon auf der Parkbank? Langsam setzte die Dämmerung ein – und trotz meiner kuscheligen Jacke begann ich den kühlen Herbstwind in allen Poren zu spüren. Ein letztes Mal suchten meine Augen in den bald kahlen Bäumen nach meinem kleinen Besucher. Nicht mehr lange, und auch für ihn würde es Zeit werden, sich auf den Winter einzustellen. Bestimmt hatte das Eichhörnchen reichlich Nüsse gehortet, um ohne Sorgen den Winter überstehen zu können...

Ein rötliches Licht fiel durch die Äste und verwandelte den Park in eine Zauberlandschaft, in der Feen und Elfen zuhause waren. Bald schon bedeckte eine weiße Decke diese Landschaft wie ein Versprechen auf den nächsten Frühling. Jahreszeiten wechselten; der Rhythmus des Lebens nahm seinen Lauf und in diesem Spiel der Natur reduzierten sich alle Probleme des Menschen auf vergängliche Maßstäbe.

Es wurde Zeit für mich, zu gehen.

Während ich den Heimweg antrat, holte ich noch einmal tief Luft, um meine Lungen mit Zufriedenheit und Dankbarkeit zu füllen. In meinen Beinen begann das Blut zu zirkulieren. Bereits nach einigen Schritten war die Kälte auf meiner Haut verschwunden und mein Körper genoss die Wärme der Bewegung.

Es war der letzte Herbst, den ich erleben durfte.

Alles war ein endloser Kreislauf, in dem selbst mein Tod seinen Schrecken verlor. Ich hatte keine Angst, zu sterben. Warum auch. Nach dem Herbst kam der Winter, dann folgten Frühling und Sommer. Alles wiederholte sich in immer neuen Facetten und Bildern.

Ich habe keine Angst, zu gehen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.10.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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