Klaus Eylmann

Verratene Liebe

Es war Abend, ich ging im Alsterpark spazieren, später den Fährdamm entlang und betrat mein Lokal. Ich schaltete das Licht des Aquariums ein. Es war noch recht früh, und ich genoss die Stunde mit meinen Guppies und Doktorfischen. Ich legte eine CD von John Coltrane ein, wischte die Tische und sah träumend aus dem Fenster, während die Dämmerung herein brach und die Straßenlaternen an gingen.
Auf der anderen Seite der Straße lugte ein altes Haus zwischen Kirschbäumen hervor. Hin und wieder flackerte Licht in einem der Kellerräume. Passanten, die achtlos daran vorüber gingen, fiel es nicht weiter auf, doch ich, der jeden Abend die Tische wischte, hatte es schon mehrere Male beobachtet. Was machte der Grünlicht da? Nun, wenn man vom Teufel spricht, ich sah, wie er die Haustür abschloss und auf meinen Pub zu ging. Was wollte der schon so früh bei mir? Nachdem seine Frau gestorben war, hatte er des öfteren erzählt, dass er sie besuchen wolle. Er musste ihn wohl so getroffen haben, dass er darüber sonderlich geworden war.
Als er eintrat, sah ich, er hielt ein Bündel Briefe in der Hand, setzte sich an die Theke und starrte vor sich hin.
“Bier und n’ Korn.”
“Erich, schon so früh?”
“Geht dich nichts an.”
“Was passiert?”
“Geht dich nichts an.”
Ich schenkte ein und baute die Getränke vor ihm auf, blieb eine Weile vor ihm stehen. Obwohl seine Frau bereits seit zwei Jahren tot war, hatte er immer gepflegt ausgesehen. Doch heute... sein Anzug wirkte zerknittert, die Krawatte hing windschief am Hemd, die grauen Haare fielen ihm wirr ins unrasierte Gesicht. Ich fuhr fort, die Tische zu wischen.
“Meine Frau hatte mich betrogen.”
“Was?”
“Ich sagte, meine Frau hatte mich hintergangen.” Grünlicht griff nach einem der Briefe und wedelte damit in der Luft herum.
“Sieh her, was ich gefunden habe.”
Ich stellte mich neben ihn.
“Hier, lies.”
‘Mein geliebter Joachim. In ein paar Tagen bin ich tot. Dann werde ich für immer mit dir vereint sein.’
“Joachim, wer ist das?”
“Ihr Verlobter.” Grünlicht stürzte den Korn hinunter. “Noch einen.”
Ich ging hinter die Theke. “Ihr Verlobter?”
“Ja, Else war verlobt gewesen, bevor wir geheiratet hatten. War auf der Straße überfahren worden, ihr Joachim.” Es sollte zynisch klingen, doch dann füllten sich Grünlichts Augen mit Tränen. “Ich habe die Briefe erst jetzt gefunden. Dreißig Jahre waren wir verheiratet, und jedes Jahr hat sie einen der Briefe geschrieben. An ihren toten Joachim. Nie hat sie ihn vergessen. Sie hat ihn immer geliebt.” Er vergrub das Gesicht in seinen Händen.
Ich blieb stumm. Was sollte ich auch sagen?
“Und was ist mit mir?”, schrie er. “Mit mir, der seine Frau die ganze Zeit angebetet hatte? Ich bringe sie um! Ich bringe sie beide um.”
Jetzt ist es soweit, dachte ich. Reif für den Psychiater.
Grünlicht stürzte den zweiten Korn hinunter und spülte mit Bier nach.
“Du glaubst mir wohl nicht, was?” Seine Augen zogen sich zusammen.
“Heinz. Woran habe ich die letzten beiden Jahre gearbeitet?”
“Weiß nicht. Ich denk, du hast Vorlesungen gehalten.”
“Ich meine, abends. Nach Feierabend.”
“Keine Ahnung. Papierflieger gebaut?”
Grünlicht bestellte einen weiteren Korn. Dann beugte er sich vor.
“Eine Maschine. Eine Zeitmaschine.”
“Was? Du spinnst.”
“Morgen bin ich weg. Und dann bringe ich sie um.”
Er rutschte vom Hocker, legte einen Schein auf den Tresen und verschwand in der Dunkelheit.
“Erich, Deine Briefe!”, rief ich ihm nach. Ich hielt sie unschlüssig in der Hand. Ich wollte sie nicht lesen. Es war zu… es war einfach nicht richtig. Der arme Mann. Ich steckte die Briefe zwischen die Gläser vor dem Spiegel.

Als ich am nächsten Abend von meinem Alsterspaziergang kam und das Lokal auf machte, sah ich, wie Grünlicht in sein Haus ging. Und während ich die Tische wischte, blitzte und flackerte es wieder in seinem Keller. Doch diesmal war es anders. Als die Straßenlaternen an gingen, flackerten auch sie, auch das Licht in meinem Aquarium, und die Pumpe setzte aus. Meine Guppies und Doktorfische waren so verwirrt wie ich, bis das Flackern nach einer Weile aufhörte. Dann kamen die ersten Gäste.

Den Abend darauf wurde ich von einer seltsamen Unruhe erfasst. Ich schaute immer wieder zu dem Haus hinüber. Es schien ohne Leben. Die Räume blieben dunkel, von Grünlicht keine Spur. So blieb es eine Woche, und ich fing an, den Mann zu vermissen. Dann, eines Abends, traten eine Frau und ein Mann aus dem Haus hervor und gingen Richtung Alsterpark. Ich konnte das Paar nicht erkennen. Es musste schon älter sein, und die Frau kam mir bekannt vor. Ich blickte auf die Uhr. Dann sah ich auf die Gläser vor dem Spiegel. Die Briefe waren verschwunden.

Am nächsten Abend kamen die Frau und der Mann wieder aus Grünlichts Haus und gingen zum Alsterpark hinunter. Ich sah auf die Uhr. Die gleiche Zeit. Wer war die Frau? Wo war Grünlicht? Ich nahm mir vor, den folgenden Abend länger spazieren zu gehen.

“Frau Grünlicht, das kann doch nicht wahr sein!”, rief ich aus.
“Sie müssen mich mit jemandem verwechseln,” meinte die Frau. “Ich heiße Schmidt. Komm, Joachim, wir gehen”, wandte sie sich an ihren Begleiter. Das Paar setzte seinen Weg fort. Ich hätte schwören können, es sei Grünlichts Frau. Aber die war schon seit zwei Jahren tot.
“Entschuldigen Sie, kennen Sie einen Mann namens Grünlicht?”
“Ja”, antwortete der Mann, drehte sich um und blieb stehen. “War ein Kommilitone von mir und hatte mir das Leben gerettet. Vor fünfunddreißig Jahren. Ich wäre damals beinahe überfahren worden. Grünlicht war auf die Straße gerannt und hatte mich aus der Bahn des Fahrzeugs gestoßen und ist dabei selbst zu Tode gekommen. Wieso fragen Sie?”
“Ach, nur so. Entschuldigen Sie noch mal.” Ich hastete zum Lokal, als sei der Teufel hinter mir her.
Als ich die Tische wischte, schaute ich immer wieder zu dem Haus hinüber und dachte an Grünlicht und seine Zeitmaschine. Er musste diese Frau wirklich sehr geliebt haben.




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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