Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 41

Liebe Leser,
bitte entschuldigt, dass ich erst jetzt dazu komme, die Geschichte fortzuschreiben. Danke für Eure Geduld und viel Spaß mit der Fortsetzung...

Euer

Klaus


Feindberührung

Der Wagen rumpelte nun wieder stetig nach Norden, immer der Spur des Dämonenheeres hinterher, das in der unbewohnten Landschaft unübersehbare Schäden hinterlassen hatte, denn der Feind war nicht nur zahlreich, sondern führte offensichtlich auch eine Menge schweres Gerät mit sich, wie Grimmbart bereits festgestellt hatte. Die Natur würde eine Weile brauchen, um sich hiervon zu erholen. Zumindest hatten die Gefährten so keine Schwierigkeiten, ihren Feinden zu folgen. Allerdings hatten sie auch keine Idee, wie sie jene überholen sollten. Ihr Gegner war ihnen immer ein paar Schritte voraus.

Gegen Abend bog die Spur jedoch plötzlich im rechten Winkel ab und verlor sich landeinwärts Richtung Westen. Überrascht zügelte Taren das Pferd und brachte den Wagen zum Halten. Glyfara war die erste, die vom Wagen hinunter sprang und ratlos die Spur ihrer Feinde betrachtete, die sich im letzten Licht der untergehenden Sonne querfeldein verlor.

"Was haben die vor?", fragte sie die Gefährten irritiert, die sich inzwischen zu ihr gesellt hatten und ebenfalls erstaunt die breite Schneise musterten, die sich Richtung Westen erstreckte.

"Sie wollen möglichst unbemerkt nach Norden gelangen. Darum verlassen sie die Straße lange bevor sie in bewohnte Regionen gelangen", erläuterte Streitaxt mit der Professionalität des Kriegers. "Weiter landeinwärts, abseits der üblichen Wege, werden sie sich wieder Richtung Norden wenden. Jedenfalls würde ich das so machen."

"Das wird sie einiges an Zeit kosten", brummte Grüneich.

"Zumal sie schweres Gerät transportieren müssen", ergänzte Grimmbart.

"Was uns zu Vorteil gereicht", freute sich Glyfara, die plötzlich wieder den alten Optimismus ausstrahlte. Wohl möglich würden sie doch noch rechtzeitig die Festung der Bruderschaft erreichen. Taren, die bisher geschwiegen hatte, brachte sich nun mit einem Vorschlag ein.

"Wir könnten Tag und Nacht fahren und nur in kurzen, aber regelmäßigen Abständen rasten, um das Pferd zu entlasten", schlug sie vor. "Auf diese Weise bauen wir unseren Vorteil aus."

"Nachts zu fahren könnte gefährlich werden. Das Geräusch unseres Wagens ist in der Nacht deutlicher zu vernehmen als tagsüber. Wir wissen nicht, was vor uns liegt, und ein Wagen, der in der Nacht unterwegs ist, wird mit Sicherheit die Aufmerksamkeit eventueller Feinde auf sich lenken", wandte Grimmbart ein.

"Das müssen wir riskieren", erwiderte Glyfara. "Die Zeit ist einfach zu knapp, um vorsichtig zu sein."

"Wird eng", stimmte der Wühler zu, worauf die Gefährten widerstrebend nickten.

"Also schön, dann soll es so sein", knurrte Grimmbart. "Aber sagt später nicht, ich hätte euch nicht gewarnt."

Entgegen der Befürchtungen des Zwerges verliefen die nächsten Tage und Nächte ohne Schwierigkeiten. Als der Morgen des dritten Tages seit ihrem Entschluß, auch in der Nacht zu fahren, graute, waren alle übermüdet, denn das Schlafen auf dem harten Holzboden des Wagens hatte sich angesichts des unebenen Wegs als höchst unerfreulicher Ruheplatz erwiesen. Trotzdem waren alle zufrieden, da sie ein gutes Stück Weg zurück gelegt hatten. Tagsüber passierten sie nun gelegentlich ein paar kleinere Dörfer, in denen niemand etwas von der Bedrohung ahnte, die vermutlich nur wenige Kilometer entfernt Richtung Norden an ihnen vorbei zog. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein, und die zusammengewürfelte Truppe ernte jedesmal eine Menge neugieriger Blicke, wenn sie eines der Dörfer durchquerte. An einem einsamen Gehöft, das ein wenig abseits der Straße lag, frischten sie ihren Proviant gegen klingende Münze auf, was die Laune der Zwerge drastisch verschlechterte, zumal aus dem wortkargen Bauern trotz der guten Bezahlung keine Information über ungewöhnliche Ereignisse der letzten Tage zu erhalten war. Michael vermutete, daß ihre Durchreise wahrscheinlich das Ereignis des Jahres war, so daß alles andere dagegen verblaßte.

"Sie sind völlig ahnungslos", staunte Glyfara, als sich der Wagen wieder auf der Straße befand.

"Keine Sorge, das wird sich bald ändern", brummte Grüneich düster.

Der Wandler war zum ersten Mal zufrieden, oder jedenfalls fast zufrieden. Stolz betrachtete er von der kleinen Anhöhe, auf der sein Zelt thronte, das Heer um sich herum, das er im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden gestampft hatte. Über tausend Mann stark bildete es eine schlagkräftige Truppe im Kampf gegen die Festung der Bruderschaft. Dies waren nicht mehr die schwachen, aus Sand uns Staub geformten Helfer, mit denen er sich bisher hatte begnügen müssen, sondern echte Krieger, die alles geben würden, um den Feind in die Knie zu zwingen. Gleichwohl war ihm wohl bewußt, daß seine Gegner über nicht zu unterschätzende magische Fähigkeiten verfügten, die den seinen ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen waren.

Allerdings hatten sie auch einen Nachteil.

Die Bruderschaft besaß keine magischen Fähigkeiten zum Töten, und das würde ihr letztlich zum Verhängnis werden. Darüber hinaus war er sicher, daß sein Spitzel in der Burg, der ihm treu ergeben war und wie er die Gestaltwandlung beherrschte, alles daran setzen würde, Sand ins Getriebe der Bruderschaft zu streuen und ihm so den Sieg zu erleichtern. Seine Feinde mußten vernichtet werden, damit niemals mehr die Möglichkeit bestand, den Zugang zu seiner Welt zu verschließen, aber vorher mußten sie ihm noch das Geheimnis des Schlüssels verraten. Sollte es seinem getreuen Spitzel dann noch nicht gelingen sein, das Geheimnis in Erfahrung zu bringen, würde er jeden einzelnen der Bruderschaft zu Tode foltern, bis sie ihm die Handhabung des Schlüssels mitteilen würden. So oder so würde er am Ende sein Ziel erreichen.

Was aber wäre, wenn die verfluchte Elbin oder einer ihrer Gefährten vor ihm ihr Ziel erreichen würden? Wäre die Bruderschaft in der Lage, den Schlüssel gegen ihn zu verwenden? Er wußte es nicht. Sicher, der Schlüssel besaß die Macht, den Zugang zu seiner Welt für immer zu verschließen oder zu öffnen, je nach dem, wie man ihn einsetzte. Aber hatte er auch Macht über diejenigen, die das Tor bereits durchschritten hatten? Würde sein Einsatz sie zurückschleudern in die Welt, aus der sie mit so viel Mühe und Zeit gerade erst entkommen waren? Unwillig verscheuchte der Wandler diesen beunruhigenden Gedanken. Immerhin war dies auch damals, vor so langer Zeit nicht so passiert. Und doch nagte der Zweifel an seinem Unterbewußtsein. Sollte es so sein, dann stellte die Elbin, die im Besitz des Schlüssels war, eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dar. Das hatte er bisher nicht bedacht. Dieses Risiko konnte er nicht eingehen. Es war an der Zeit zu handeln und Spähtrupps auszusenden, die nach der seltsamen Gruppe Ausschau hielten. Wo die Elbin war, war auch der Schlüssel, und den wollte er nunmehr dringender haben als je zuvor.

Zwei weitere Tage vergingen ohne Zwischenfälle. Die Gefährten hatten inzwischen die einsamen, bewaldeten Anhöhen von Grünland erreicht, so daß ihr Gefährt mit ihrer Unterstützung immer wieder Höhenunterschiede von bis zu vierhundert Meter auf engen Serpentinen überwinden mußte. Von oben bot sich stets das gleiche, friedliche Bild einer von der Landwirtschaft noch nicht zu stark geprägten, grünen Region. Nur gelegentlich lagen saftige Felder eingebettet in die zum Teil schroff wirkenden Hügel, die von einem der wenigen Gehöfte, die sich in dieser einsamen Gegend angesiedelt hatten, bestellt wurden. Abgerundet wurde das Ganze durch ein paar kleine aber dichte Wälder, die zum Teil ganze Hügelketten bedeckten. Der Grund für das üppige Grün dieser Region präsentierte sich zum Leidwesen der Gefährten gegen Mittag in Form einer Schlechtwetterfront, die plötzlich am Horizont auftauchte und schon bald für einen kontinuierlichen Dauerregen sorgte. Der bis dahin gut befahrbare Weg verwandelte sich nun in einen morastigen Untergrund, der ihnen das Vorankommen stark erschwerte. Für die Rastintervalle suchten sie je nach Angebot Schutz unter ein paar überhängenden Ästen eines einsamen Baumes am Wegesrand, einer Felsgruppe oder eines erreichbaren Gehölzes und verspeisten die Reste ihres Trockenproviants, der sich bedenklich dem Ende zuneigte. Zwar war die Gegend reich an Wild, aber die Zwerge fürchteten, daß ein Feuer unliebsame Gegner anlocken konnte. Selbst wenn man den Feuerschein tagsüber nicht bemerken würde, den Rauch, der bei dem feuchten Brennmaterial unvermeidlich wäre, würde selbst ein unerfahrener Späher nicht übersehen können. So vergingen zwei weitere mühsame Tage, doch weder beim andauernden Nieselregen, noch beim anstrengenden Weg durch die Hügel von Grünland war ein Ende in Sicht. Das einzig Erfreuliche war die Tatsache, daß sie entgegen aller Befürchtungen vom Wandler und seiner Armee in den letzten Tagen keine Spur mehr gesehen hatten, so daß selbst die vorsichtigen Zwerge inzwischen ein kleines, geschütztes Kochfeuer mit trockenem, nicht qualmenden Holz für gefahrlos hielten, zumal ihr Trockenproviant, der angesichts des Dauerregens diese Bezeichnung nicht mehr verdiente, endgültig zur Neige ging und Glyfaras Jagdglück ihnen tagsüber zu ein paar prächtigen Hasen verholfen, die jedoch niemand roh verspeisen mochte. Damit blieb ihnen nichts anderes übrig, als ein kleines Kochfeuer anzuzünden, um die Beute schmackhaft zuzubereiten. Im Schutz einer überhängenden Felsgruppe am Fuße eines der unzähligen Hügel dieser Region hielten sie schließlich erschöpft an. In den letzten Tagen waren sie weit gekommen, so daß Glyfara entschieden hatte, eine Nacht durchzuschlafen, um wieder zu Kräften zu kommen, zumal auch das Pferd allmählich am Ende seiner Kräfte war. Nachdem dieses versorgt war, erbot sich Taren, in einem nahen Gehölz, das sich unweit des Weges über die Hügel hinzog, nach trockenem Holz zu suchen. Michael erklärte sich spontan bereit, sie zu begleiten. Während die beiden im immerwährenden Nieselregen auf das Gehölz zu schritten, errichteten die zurückgebliebenen Gefährten das Lager für die Nacht.

"Glaubst du, wir haben es bald geschafft?", fragte Taren, während sie sich geschickt bückte, um unter einem tief hängenden, nassen Ast in das Gehölz einzudringen.

"Schwer zu sagen. Im Augenblick habe ich eher das Gefühl, daß wir bis ans Ende aller Zeit durch dieses nasse Land wandern werden." Mißmutig und mit deutlich weniger Geschick folgte Michael Taren in das dichte Gehölz. Die heran nahende Dunkelheit verwischte Farben und Formen hier drinnen zu einem einheitlichen, formlosen Grau. Taren hingegen schien das nicht zu stören.

"Dann würden wir wohl alle gemeinsam alt und grau werden, zwei Frauen und vier Männer. Wie das wohl ausgehen würde?", überlegte sie mit einem Necken in der Stimme, während sie sich geschickt durch das Halbdunkel vorwärts bewegte.

"Das werden wir kaum herausfinden, wenn wir kein trockenes Holz auftreiben, da wir sonst alle lange vorher verhungert sind", brummte Michael, dem die Richtung, die das Gespräch zu nehmen drohte, nicht behagte. Taren nickte zustimmend.

"Da ist was dran. Leider ist das Holz hier am Gehölzrand nicht zu gebrauchen." Demonstrativ hob sie einen morschen Ast auf, der vor Nässe genauso triefte wie sie. "Wir müssen tiefer in diesen Wald eindringen."

"Aber bitte nicht zu tief, ich habe mit Wäldern in letzter Zeit jedesmal ein paar schlechte Erfahrungen gemacht, je tiefer ich in einem Wald drin war", unkte Michael, dem die Erinnerung an den Düsterwald wieder lebhaft in Erinnerung war. "Außerdem wird es hier drinnen bald stockdunkel sein", ergänzte er besorgt.

"Bis dahin sind wir wieder draußen, vertrau mir", munterte Taren ihn auf. Wenig überzeugt folgte Michael ihr tiefer in den Wald hinein.

"Allmählich mache ich mir Sorgen. Sie hätten längst wieder hier sein müssen." Beunruhigt spähte Grimmbart durch den Regenschleier zu dem Gehölz hinüber, das sich als schwarzer Scherenschnitt vor dem tiefen Grau des Abendhimmels abzeichnete, doch dort regte sich nichts.

"Wird dunkel", bemerkte der Wühler, der die vergebliche Bemühung, sein Fell sauber zu bekommen, aufgab. Bei diesem Wetter brauchte er bloß ein paar Schritte durch den Matsch zu laufen, um von vorne anzufangen. "Problem", ergänzte er brummend, wobei nicht ganz klar wurde, ob er sich damit auf die Situation der Gefährten oder seine Fellpflege bezog.

"Vielleicht sollte jemand von uns ihnen entgegen gehen", schlug Grüneich vor. Glyfara, die lässig an der Seitenwand des Wagens lehnte, sah ihn mit einem spöttischen Blick an. Sie bezweifelte, daß der Troll genauso besorgt geklungen hätte, wenn einer der Zwerge überfällig gewesen wäre, aber wenn ein attraktives Mädchen im Wald verschollen war ....

"Seit wann sorgst du dich um andere", spottete sie, worauf der Troll ein finsteres Gesicht zog. Ihm war klar, was die Elbin andeuten wollte.

"Ich sorge mich nur um mein Abendessen. Ohne Holz und Köchin wird es ausfallen, und das gefällt mir nicht", brummte er ungehalten.

"Schon klar." Glyfara grinste ungeniert, wenngleich auch sie sich inzwischen zu fragen begann, warum die beiden nicht zurückkamen. Allerdings hatte sie dabei eine Vorstellung im Kopf, auf die ihre Gefährten noch gar nicht gekommen waren. Möglicherweise gab es ja einen triftigen Grund, warum ein attraktives Mädchen nebst männlicher Begleitung ein wenig Zeit in der Einsamkeit eines Waldes miteinander verbringen wollte. Je mehr Glyfara über diese Möglichkeit nachdachte, desto weniger gefiel sie ihr, wie sie sich widerwillig eingestehen mußte. Was war nur mit ihr los? Michael war noch ein halbes Kind, dazu noch nicht einmal ein Elb, sondern ein Mensch aus einer anderen Dimension, und doch berührte er hartnäckig eine Seite in ihr, die sie so noch gar nicht kannte. Unwillig wischte sie die unliebsamen Gedanken beiseite und kehrte wieder die burschikose Elbin heraus.

"Na schön, dann werde ich eben das Kindermädchen spielen und die beiden zurückholen, es sei denn, jemand von euch hat Lust auf den Job."

Als sich niemand zu Wort meldete, seufzte sie demonstrativ.

"Das habe ich mir gedacht", spottete sie und holte ihren Bogen nebst Köcher und Schwert aus dem Wagen. "Wird nicht lange dauern. Bereitet schon mal das Abendessen vor", sagte sie mit betonter Leichtigkeit, bevor sie sich hinaus in den Regen begab und zum Gehölz hinüber lief.

"Eifersüchtig", brummte der Wühler leise, während er der davon hastenden Elbin hinterher sah. Er beneidete sie nicht um ihre Situation.

"Das wurde auch Zeit", brummte Michael, nachdem Taren endlich im Schutz einer Gruppe mächtig aufragender Tannen anhielt. Der Wald war hier deutlich dichter, so daß das Unterholz nahezu trocken war. Widerwillig mußte Michael einräumen, daß Taren wußte, was sie tat. Trotzdem war ihm in diesem Halbdunkel des Waldes nicht ganz wohl zumute. Für seinen Geschmack hatten sie sich viel zu weit von den Gefährten entfernt. Also beeilte er sich, es Taren gleichzutun und trockenes Holz einzusammeln, als ihn plötzlich das ungute Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. Nervös sah er sich um, konnte jedoch nichts entdecken. Gleichwohl verstärkte sich das Gefühl von Sekunde zu Sekunde.

"Ich glaube, wir stecken in Schwierigkeiten. Irgend jemand beobachtet uns", flüsterte Michael, worauf Taren sich verstohlen umsah, ohne jedoch irgend ein Anzeichen von Leben zu entdecken. Doch das mußte nichts bedeuten. In den konturlosen Schatten der Bäume hätte sich eine ganze Armee verbergen können. Die zunehmende Dunkelheit zwischen den Bäumen hatte plötzlich etwas Beklemmendes und flößte nun auch Taren Angst ein.

"Laß uns verschwinden. Wir haben genug Holz, und es wird allmählich wirklich zu dunkel hier", schlug sie mit möglichst fester Stimme vor, worauf Michael erleichtert nickte und ihr auf dem Weg zurück folgte. Allein hätte er den Weg zurück nie mehr gefunden. Taren hingegen schien damit keine Schwierigkeiten zu haben. Entschlossenen Schrittes marschierte sie durch den mittlerweile nahezu finsteren Wald. Entgegen Michaels Befürchtungen, fiel niemand über sie her, wenngleich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, blieb. Als Taren sich bückte, um unter einem besonders tiefen Ast hindurch zu gelangen, erwachte der Wald plötzlich zum Leben. Gleich zwei Angreifer sprangen aus den Ästen des Baumes auf Taren hinab und brachten sie zu Fall. Selbst in diesem schwachen Licht konnte Michael sofort erkennen, mit wem sie es zu tun hatten.

Die verhaßten Kreaturen des Wandlers hatten sie aufgespürt.

"Scheiße", brüllte er und ließ das Holz fallen, um Taren zu Hilfe zu eilen. Zu spät entdeckte er einen weiteren Angreifer, der einen hölzernen Prügel hoch über dem Kopf schwang. Ehe er reagieren konnte, erhielt er auch schon einen heftigen Schlag auf den Kopf, worauf er benommen zu Boden ging. Sein Schädel dröhnte wie eine Glocke, und das Letzte was er sah, bevor ihm schwarz vor Augen wurde, waren drei weitere Dämonen, die aus den Schatten auftauchten und ihren Kollegen dabei halfen, die bereits bewußtlose Taren davon zu schleppen. Dann wurde es Nacht um ihn.

"Warum tue ich mir das bloß an?"

Wütend kämpfte sich Glyfara durch das dunkle Unterholz. Trotz ihrer guten Augen war die Spur der beiden Gefährten, die tief in den Wald führte, nur schwach auszumachen.

Warum hatten sie sich bloß so weit vom Lager entfernt?

Vermutlich um trockenes Holz zu suchen, dabei gab es hier genug trockenes Holz direkt am Waldrand, man mußte nur wissen, wo. "Menschen haben einfach keine Ahnung vom Wald", schnaubte sie ungehalten. Erneut rief sie ihre Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Vielleicht waren sie gerade zu beschäftigt, um ihr zu antworten, ging es ihr durch den Kopf.

Verflucht.

Die beiden konnten was erleben, wenn sie herausfinden sollte, daß ihre Sorge unbegründet war und sie sich völlig umsonst durch das nasse Unterholz gequält hatte, während sich die vermißt Geglaubten auf dem Waldboden amüsierten. Einen Augenblick später fühlte sich Glyfara in ihrer Vermutung bestätigt. Wenn sie sich nicht täuschte, konnte sie ein Stück voraus unter den tief hängenden Ästen einer besonders großen Tanne in einer kleinen Senke Michael auf etwas liegen sehen.

"Was fällt euch denn ein", rief die Elbin entrüstet, während sie sich entschlossenen Schrittes dem vermeintlichen Paar näherte. Doch dann wurde ihr bewußt, daß etwas nicht stimmte. Michael rührte sich nicht. Eigentlich hätte er bei ihren Worten peinlich berührt aufspringen müssen. Statt dessen lag er weiterhin regungslos dar, und auch unter ihm rührte sich nichts. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrer Magengrube aus, das sich verstärkte, als sie erkannte, daß der Waldboden rings herum stark zerwühlt war, als hätte ein Kampf stattgefunden. Mit einem flirrenden Geräusch zog sie ihr Schwert aus der Scheide und näherte sich im Laufschritt dem vermeintlichen Paar. Beim Näherkommen sah sie nun auch, worauf Michael lag, auf einem beachtlichen Bündel Brennholz, das er vermutlich gesammelt hatte. Nur von Taren fehlte jede Spur.

"Verdammt, was ist hier los gewesen?, fragte sie sich selbst, als sie die blutende Platzwunde an Michaels Kopf entdeckte. Hatte Taren ihn aus irgendeinem Grund angegriffen und war nun geflüchtet?

Sie hatte dem Mädchen ja nie so richtig getraut. Vorsichtig rüttelte sie ihn und schlug ihm, nachdem das nichts brachte, ein paar Mal mit der flachen Hand ins Gesicht, während sie zugleich wachsam die düstere Umgebung um sich herum im Auge zu behalten versuchte. Endlich flackerten Michaels Lider, und er öffnete stöhnend die Augen.

"Taren", ächzte er und richtete sich ruckartig auf, worauf ihm schwarz vor Augen wurde und er wieder hingefallen wäre, hätte Glyfara nicht schnell zugegriffen, um ihn zu stützen.

"Tut mir leid, ich bin es nur, Glyfara", erwiderte die Elbin spitz, was Michael in seinem Zustand jedoch entging. "Was war hier los?"

"Sie haben uns entdeckt", stöhnte Michael, während er vorsichtig die schmerzende, blutende Wunde an seinem Kopf betastete. Ein stechender Schmerz zuckte durch seinen Kopf, als seine Finger die blutende Beule berührten.

"Drück dich klarer aus. Wer hat euch wobei entdeckt?"

Michael warf ihr einen befremdeten Blick zu.

"Die Kreaturen des Wandlers haben uns beim Holzsammeln entdeckt und überfallen. Ich glaube, sie haben Taren mitgenommen."

Beunruhigt sah er sich um und wurde in seiner Vermutung bestätigt. Von dem Mädchen war keine Spur zu sehen.

"Wie viele waren es", fragte Glyfara, deren Stimme nun besorgt klang, während sie Michael half, aufzustehen.

"Keine Ahnung, ich konnte nur sechs erkennen, bevor das Licht ausging."

Ihm schwindelte leicht, als er wieder auf seinen Füßen stand.

"Sechs."

Glyfara dachte kurz über diese Information nach.

"Vielleicht war es ein Spähtrupp."

"Egal was es war, wir müssen Taren helfen. Diese Bestien haben sie entführt. Wer weiß, was sie ihr antun werden."

"Vermutlich nichts Gutes", gab Glyfara zu. "Aber wir können trotzdem nichts für sie tun. Es wird nicht mehr lange dauern, bis es stockdunkel ist. Selbst ich kann dann unmöglich ihrer Fährte folgen. Wahrscheinlich würden wir uns hoffnungslos verirren oder in einen Hinterhalt geraten. Außerdem müssen wir die anderen warnen. Wir gehen also zurück und überlegen dann, wie wir vorgehen wollen."

"Wenn es dann nicht bereits zu spät ist", murmelte Michael bedrückt.

Als sie eine Viertelstunde später unbehelligt den Waldrand erreichten, atmeten sie erleichtert auf.

Das Lager war nicht angegriffen worden.

Aber das konnte sich jeden Moment ändern. Glyfara biß sich auf die Unterlippe, um nicht der Versuchung zu erliegen, die Gefährten durch Zurufen zu warnen. Doch sie wußte genauso gut wie Michael, wie weit eine Stimme in der Nacht trug und wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Aber das war auch nicht nötig, denn die Gefährten hatten sofort erkannt, daß etwas nicht stimmte. Während Grüneich durch den Regen auf sie zugelaufen kam, nahmen die Zwerge ihre Streitäxte zur Hand und spähten mißtrauisch zum Wald hinüber, doch dort blieb alles ruhig. Kaum hatten Glyfara und Michael mit Grüneichs Hilfe das Lager erreicht, berichtete die Elbin den Gefährten in Kurzform, was sie von Michael erfahren hatte, während Streitaxt mit erstaunlich fachkundigen Händen Michaels Wunde versorgte.

"Sie haben sie mitgenommen", fragte Grimmbart gerade erstaunt nach, als Streitaxt seine ärztlichen Bemühungen einstellte. Zu Michaels Verwunderung war nur ein dumpfes Pochen zurückgeblieben.

"Aber warum?"

Grimmbart sah besorgt aus. Fragend sah er Michael an, der sich auf noch etwas unsicheren Beinen dem Kreis der Gefährten um das Lagerfeuer anschloß. Das Feuer hatten sie vorsorglich bis auf einen kleinen Rest gelöscht, so daß nur noch ein paar flackernde Flammen übrig geblieben waren, welche die Gesichter der Gefährten düster erscheinen ließen und sich schwach in den Klingen der Streitäxte widerspiegelten.

"Keine Ahnung", mutmaßte er. "Vielleicht wollen sie eine Geisel, oder sie haben sie verwechselt."

Glyfara war bei diesen Worten aschfahl geworden.

"Vermutlich wollten sie mich", flüsterte sie beklommen.
 

"Laßt mich runter, ihr Scheusale", keuchte Taren, nachdem sie wieder zu Bewußtsein gekommen war und festgestellt hatte, daß sie wie eine Wurst verschnürt von ihren Angreifern durch den Wald geschleppt wurde. Jede Faser ihres Körpers schmerzte, und sie verspürte nackte Panik in sich aufsteigen.

Was hatten die Dämonen mit ihr vor?

"Still, Weib!", herrschte sie ein besonders häßliches Exemplar an, das die anderen etwas kleineren Dämonen, die Taren durch den Wald schleppten, zur Eile antrieb. Zur Bestürzung des Antreibers hatte weder ihre Gefangene noch ihr Begleiter das Artefakt bei sich geführt. Also hatte er kurzerhand entschieden, das Mädchen mitzunehmen. Es war leichter als der Junge und daher besser zu transportieren. Außerdem war die Anweisung des Meisters eindeutig gewesen. Bringt mir das Artefakt oder die Trägerin, hatte er befohlen, und der Dämon war nicht geneigt, von diesem Befehl abzuweichen, zumal das Mädchen aus seiner Sicht der Beschreibung des Meisters entsprach. Obwohl der Dämon alles andere als zart besaitet war, schauderte er unwillkürlich, als er sich ausmalte, welches Schicksal ihre Gefangene erwartete.

"Du wirst noch früh genug Zeit zum Reden bekommen", herrschte er sie an, als Taren erneut ansetzte, um sich zu beschweren. Resigniert hielt sie daraufhin den Mund und überlegte fieberhaft, was sie machen sollte, doch es fiel ihr beim besten Willen kein Fluchtplan ein. Immer weiter entfernten sie sich von ihren Gefährten, so daß sie bald jedes Zeitgefühl und jede Hoffnung verlor. Als sie schließlich die Kuppe eines Hügels erreichten, stöhnte Taren entsetzt auf. Tief unter ihnen im Tal erstreckte sich ein wahres Meer aus Lagerfeuern. Selbst auf diese Entfernung konnte sie den Rauch der Feuer riechen, den der Wind zu ihnen hinauf trug. In ihrem Magen bildete sich ein harter Knoten, als sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation erkannte. Das Heer der Dämonen hatte das gesamte Tal als Lagerplatz in Beschlag genommen, und sie wurde nun mitten hinein getragen. Selbst wenn die Gefährten der Spur ihrer Entführer folgen sollten, würde es ihnen nie gelingen, sie aus diesem Lager zu befreien, falls sie dann überhaupt noch leben sollte. Verzweifelt zerrte sie an den Stricken, die ihre Hände und Füße banden, umsonst. Die Dämonen verstanden etwas vom Knotenknüpfen. Resigniert stellte sie ihre Bemühungen ein, denn inzwischen hatten sie den Rand des gigantischen Lagers erreicht, an dem in unregelmäßigen Abständen finster dreinblickende Dämonen als Wachposten standen, so daß es für eine Flucht ohnehin zu spät war. Von allen Seiten drängten sich nun gräßliche Gestalten heran, die neugierig die Beute ihrer Entführer begutachteten und betasteten. Entsetzt schloß Taren die Augen, um dem grauenvollen Anblick zu entfliehen. Sie war daher beinahe dankbar, als der Lärm plötzlich abebbte und sie unsanft zu Boden gelassen wurde. Verwirrt öffnete sie die Augen und stellte fest. daß sie sich im Inneren eines geräumigen Zeltes befand. Ein übler Geruch lag in der Luft. Einer der Dämonen war gerade damit beschäftigt, einen Pfahl in den lehmigen Boden zu rammen. Taren hatte eine düstere Vorahnung, wozu er dienen sollte.

 

"Du meinst, die waren hinter mir her?", fragte Glyfara beunruhigt. Michael nickte.

"Das wäre eine Erklärung. Ich glaube kaum, daß sie Taren als Proviant mitgenommen haben. Sie wollten dich, beziehungsweise das Artefakt und glaubten, sie wäre du. Als sie es nicht fanden, haben sie Taren mitgenommen, damit sie in aller Ruhe aus ihr herausbekommen können, wo das Artefakt versteckt ist. Wenn sie jedoch dahinter kommen, daß sie die Falsche erwischt haben, werden sie verdammt ärgerlich werden."

"Und sie mit Sicherheit umbringen", ergänzte Grimmbart, der unruhig auf und abging. Die Vorstellung, daß sich Taren in der Gewalt dieser Scheusale befand, ging ihm nahe, und das verwirrte ihn. Verluste im Kampf waren normal.

Das war er als Söldner schließlich gewohnt.

Es gehörte zum Leben.

Allerdings war Taren kein Söldner, und das machte es schwer. Aber tief in seinem Inneren wußte er, daß es noch einen anderen Grund gab. Einstweilen verdrängte er diese ungewohnten Empfindungen jedoch in die tiefste Schublade seiner Seele und wandte sich lieber der Lösung des aktuellen Problems zu. "Wir müssen sie da herausholen, bevor sie ihren Irrtum bemerken. Schnelligkeit ist in diesem Fall unser Verbündeter", knurrte er.

Glyfara sah ihn mit undefinierbaren Gesichtsausdruck an.

"Ich bewundere deinen Kampfgeist und deine ... Loyalität gegenüber deinen Weggefährten, aber schalte bitte deinen Verstand wieder ein. Sechs gegen Tausend. Wir hätten keine Chance. Vermutlich wären wir schon tot, bevor wir überhaupt nur in ihre Nähe gelangten."

"Ich habe nicht gesagt, daß ich sie angreifen, sondern daß ich Taren herausholen will", knurrte Grimmbart, verärgert über die Zurechtweisung.

"Aber sie hat Recht", brummte Grüneich. "Ihr habt am Riß alle die Spuren gesehen und wißt, wie zahlreich sie sind. Selbst mitten in der Nacht hätten wir keine Chance, unbemerkt in ein gigantischen Heerlager einzudringen."

"Außerdem wissen wir nicht, ob sie überhaupt noch lebt und selbst wenn, wüßten wir gar nicht, wo wir suchen müßten", ergänzte Streitaxt.

"Aufspüren", schlug der Wühler daraufhin vor, was den Gefährten jedoch nur zweifelnde Kommentare entlockte, worauf sich der Wühler beleidigt zurückzog. Eine Weile erwogen die Gefährten sodann alle möglichen Ideen, die sich jedoch bei kritischer Betrachtung allesamt als aussichtslos erwiesen, bis Michael plötzlich eine zündende Idee kam.

"Haben wir eigentlich eine Schere und Nähzeug dabei?", fragte er die verblüfften Gefährten.

"Ja, aber was soll uns das nützen?", wunderte sich Glyfara.

"Ganz einfach", erklärte Michael, während er zum Wagen hinüber ging und gegen die tiefschwarze Plane klopfte, die den kastenförmigen Aufbau überspannte, "wenn du den Feind nicht besiegen kannst, schlüpfe unter seine Decke." Dann erklärte er ihnen die Idee, die ihm gekommen war.

 

Taren fand sich inzwischen in einer vertrackten Situation wieder. Die Dämonen hatten sie kurzerhand an den Pfahl gebunden, so daß sie nun aufrecht stand und sich ängstlich umsah. Nur zwei ihrer Entführer hielten sich noch im Innern des circa fünfzehn Quadratmeter großen, halb dunklen, kreisrunden Zeltes auf, die anderen waren hastig verschwunden, kaum daß sie Taren an dem Pfahl gefesselt hatten. Einer ihrer Bewacher war nun damit beschäftigt, schwarze Kerzen anzuzünden, die das Innere des Zeltes in ein unheimliches Licht tauchten, während der andere immer wieder furchtsam zum Zelteingang hinüber spähte. Taren registrierte dies mit Beunruhigung. Wenn der Dämon sich schon vor unliebsamen Besuch fürchtete, wie sollte sie sich dann erst fühlen. Verzweifelt zerrte sie an den festen Stricken. Wenn sie auch nur eine Hand frei bekommen könnte, hätte sie eine Chance, an ihre versteckten Wurfmesser zu gelangen, die ihre Entführer in der Hast übersehen hatten. Aber so sehr sie sich auch abmühte, die Stricke dehnten sich nicht einen Millimeter. Also stemmte sie sich mit aller Kraft gegen den Pfahl, der bis auf eine hölzerne Kiste, einem Beistelltisch sowie einem weiteren, langen Tisch, an dem auf halber Höhe an jeder Seite sowie am Fußende stählerne Ringe angebracht waren, das einzige Mobiliar des Zeltes darstellte, doch der saß unverrückbar fest in der Erde.

"Vergiß es", kommentierte der kerzenanzündende Dämon, dem Tarens Aktivitäten keineswegs entgangen war, abfällig ihre sinnlosen Bemühungen, worauf diese frustriert ihre Versuche einstweilen einstellte. Angestrengt dachte sie nun nach, wie sie mit den Fingerspitzen das versteckte Wurfmesser im Inneren ihres Hosenbundes erreichen könnte, als die Dämonen plötzlich ängstlich zischten und ins hinterste Ende des Zeltes zurückwichen, wo sie sich unterwürfig niederkauerten. Der Grund hierfür kündigte sich mit schweren Schritten an, die selbst im Inneren des Zeltes zu vernehmen waren. Dann wurde die schwere Plane des Zelteingangs zurückgeschlagen, und Taren zog erschrocken die Luft ein, als ihr gewahr wurde, wer das Zelt betrat.

 

"Das ist verrückt", sagte Glyfara, nachdem Michael den Gefährten seinen Plan ausgeführt hatte.

"Aber es könnte klappen", brummte Streitaxt, "vorausgesetzt, wir finden heraus, wo ihr Lager ist."

"Genau, deshalb müssen wir jetzt im Team vorgehen. Glyfara, du hast mit einmal erzählt, daß ihr eure Kleidung selber näht. Glaubst du, du schaffst das?", fragte Michael, worauf die Elbin widerstrebend nickte.

"Prima, dann mach dich an die Arbeit. Grüneich und ich werden auf den Hügel dort drüben klettern und uns umsehen. Falls sie nicht zu weit entfernt sind, wird sie ihr Lagerfeuer verraten. Und ihr", dabei sah er Streitaxt und Grimmbart an, "helft Glyfara und macht anschließend den Wagen abfahrbereit. Sollte es uns wirklich gelingen, Taren zu befreien, müssen wir zusehen, daß wir hier wegkommen. Hat noch einer Fragen?"

Alle schüttelten die Köpfe.

"Dann los!"

Während Glyfara sich gemeinsam mit den Zwergen daran machte, die Plane vom Wagen zu lösen, folgte Michael dem Troll den Hügel hinauf. Der Aufstieg erwies sich als schwerer als gedacht, da sie in der Dunkelheit auf dem vom Regen nassen Untergrund immer wieder ausrutschten. Michael schätze, daß der Hügel gute vierhundert Meter hoch war, die ihm jedoch eher wie zweitausend vorkamen, als sie endlich oben angelangten. Noch immer herrschte ein kontinuierlicher Nieselregen, der die Sicht erschwerte. Die grauen Schleier und der verhangene Himmel, der noch nicht einmal das Sternenlicht durchließ sorgten dafür, daß die gesamte Umgebung zu konturlosen, schwarzen Schatten verschwamm. Michaels Optimismus sank rapide als ihm bewußt wurde, daß es nahezu unmöglich war, in dieser Dunkelheit etwas zu erkennen. Doch dann machte Grüneich ihn auf eine kaum wahrnehmbare, rötliche Färbung der Regenschleier aufmerksam.

"Siehst du den Widerschein ihrer Feuer? Dort zwischen den Hügeln liegt ihr Lager."

Michael spähte angestrengt in den Regen. Es dauerte eine Weile bis er erkannte, was der Troll meinte. Mit zusammen gekniffenen Augen versuchte er die Entfernung zu schätzen. Es gelang ihm nicht. "Wie weit ist es entfernt?"

"Schwer zu sagen, vielleicht zwei oder drei Meilen. Bei diesem Wetter und der Dunkelheit entspricht das ungefähr der Entfernung zum Mond."

"Soll das heißen, daß du aufgibst?"

Der Troll grinste. "Nein, aber es wird hart. Wir werden dem Pfad mit dem Wagen eine Weile folgen. Er beschreibt eine halbe Kurve und nähert sich eine Meile weiter dem Lager, bevor er wieder Richtung Norden abschwenkt."

Zur Erläuterung wies der Troll mit der Hand ins Dunkel, doch Michael konnte dort beim besten Willen keinen Pfad erkennen. Der Troll hatte eindeutig bessere Augen als er. "Von dort würden wir zwar relativ schnell an das Lager herankommen, allerdings würden wir auch sehr schnell entdeckt werden und kaum fliehen können, wenn die Angelegenheit schief geht. Deshalb sollten wir alle darüber abstimmen."

"Einverstanden", sagte Michael. Es gefiel ihm zwar nicht, aber es klang fair, und er glaubte nicht, daß die Gefährten Taren im Stich lassen würden. Voll Tatendrang folgte er dem Troll den beschwerlichen Abstieg den Hügel hinab und fragte sich, ob Glyfara es wohl inzwischen geschafft hatte, seine Idee in die Tat umzusetzen.

Etliche Stürze und Ausrutscher später gelangten sie wieder im Lager an, wo Glyfara zu Michaels Freude gerade damit beschäftigt war, die letzten Stiche zu setzen. Sie besitzt wirklich ein paar verdammt flinke Finger, dachte er bewundernd, als sie ihm das Ergebnis ihrer Bemühungen präsentierte, zwei schwarze, mönchsähnliche Gewänder mit Kapuze.

"Showtime", scherzte Michael und griff sich eins der Gewänder, um es sich überzustreifen. Es paßte perfekt. Als er sich die Kapuze überzog, so daß sein Gesicht vollkommen im Schatten verschwand, wichen die Gefährten unwillkürlich einen Schritt zurück und der Wühler überlegte ernsthaft, Michael vorsichtshalber zu beißen, so frappant war die Ähnlichkeit mit dem Wandler.

"Zugegeben, die Verkleidung könnte sie täuschen", räumte Grimmbart daraufhin ein.

"Es sei denn, du begegnest dem richtigen Wandler, oder mußt jemanden eine Antwort geben oder irgendeine dieser Kreaturen wirft einen Blick unter deine Kapuze, dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken", zählte Grüneich Michael die Schwachpunkte des Planes auf.

"Nun, zumindest an das letzte Problem habe ich gedacht", warf Glyfara aufmunternd ein und förderte zwei viereckige Stoffstücke zutage, in die zwei Augenschlitze eingearbeitet waren. Zum Befestigen hatte sie jeweils zwei Stoffstreifen an die Seiten angenäht. "Wenn du dir die vor das Gesicht bindest, wird man schon sehr genau nachsehen müssen, wer unter der Kapuze steckt. Auch kritische Betrachter werden nur Schwarz unter der Kapuze sehen, genau wie beim Original. Trotzdem solltest du den Kopf vorsichtshalber immer gesenkt halten. Vergiß das nicht! Deine Hände solltest du möglichst in den Ärmeln verschwinden lassen und mit Holzkohle schwärzen. Dafür habe ich leider keine bessere Lösung."

"Klasse Idee", lobte Michael, der sofort die Maske anprobierte.

"Verbleibt nur noch die Frage, ob wir das Lager überhaupt finden. Habt ihr dort oben entdeckt, wo es liegt?", wandte sich Streitaxt an den Troll, der darauf berichtete, was sie herausgefunden hatten.

"Zwei Meilen in diese Richtung", wiederholte Grimmbart nachdenklich, nachdem Grüneich mit seiner Erzählung geendet hatte. "Und der Pfad führt in der Nähe des Lagers vorbei. Es könnte also theoretisch zu schaffen sein. Allerdings müßten wir uns sehr beeilen. Es ist nicht mehr weit bis zur Mitte der Nacht, und der Plan kann nur funktionieren, wenn alle schlafen und es dunkel ist. Tagsüber würdest du wahrscheinlich noch nicht einmal einen halb blinden Dämonen mit deinem Mummenschanz täuschen können."

"Danke für deine aufmunternden Worte. Jetzt fühle ich mich gleich viel besser", brummte Michael.

"Hey, es war dein Vorschlag", erinnerte ihn Streitaxt.

"Also schön, stimmen wir ab", schlug Michael vor. Zu seiner Freude viel die Abstimmung einstimmig aus, sah man einmal von dem Wühler ab, der versuchte, Michael ins Bein zu beißen. Anscheinend gefiel ihm der Plan genauso wenig wie Michaels unheimliches Outfit. Entsprechend mißmutig trabte er daher dem Karren mit den Gefährten an Bord hinterher, als dieser sich rumpelnd in Bewegung setzte. In seiner schlichten Art die Dinge zu sehen, fiel dem Wühler nur ein Wort ein, das er aus seiner Sicht für den Plan für angemessen hielt:

Wahnsinn.

Auf der anderen Seite hatte er aber auch keine Lust allein zurückzubleiben und so fügte er sich knurrend in das wohl unvermeidliche Übel.

 

Der Wandler blieb irritiert am Eingang stehen. Dies war nicht die gesuchte Elbin, aber es war auch keine Unbekannte. Der Wandler vergaß nie ein Gesicht, und dieses hatte er schon einmal gesehen. Während er auf die vor Schreck erstarrte Taren zuging fiel ihm auch wieder ein, wo sie sich schon einmal begegnet waren. Hoch oben auf dem Paß. Sie war bei dem Treck gewesen.

"Ich dachte, du wärst tot", flüsterte er heiser, worauf Taren noch weiter erbleichte. Die dunkel gekleidete Gestalt flößte ihr eine panische Angst ein. Angestrengt versuchte sie zu erkennen, wer sich unter der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze verbarg. Erfolglos. Insgeheim war sie froh darüber, denn eine innere Stimme flüsterte ihr zu, daß ihr der Anblick kaum zusagen würde.

"Du weißt, wer ich bin!"

Taren war klar, daß dies keine Frage, sondern eine Feststellung war. Zögernd nickte sie.

"Gut", hauchte der Wandler, worauf Taren eine Gänsehaut bekam. "Das vereinfacht die Angelegenheit."

Verzweifelt riß Taren den Kopf zur Seite, als der Wandler plötzlich den Arm ausstreckte und ihr Gesicht mit seiner Klaue berührte. Ihr kam es vor, als habe sie der Tod persönlich berührt.

"Was willst du von mir?", stieß sie ängstlich hervor, während sie versuchte, so viel Abstand wie möglich zu dem unheimlichen Dämon zu wahren.

"Antworten", erwiderte der Wandler, während er sich abwandte und zum Tisch hinüber ging, auf dem eine hölzerne, blutrot lackierte Kiste stand. Fast schon zärtlich strich er über die Oberfläche, bevor er andächtig den Deckel hochhob. Mit wachsendem Entsetzen sah Taren zu, wie er verschiedene, tückisch aussehende Messer, Zangen und andere Instrumente aus der Kiste zutage förderte und sorgfältig auf dem Beistelltisch deponierte. Als er fertig war, wandte er sich wieder Taren zu.

"Sieh sie dir gut an. Du hast zwei Möglichkeiten zu sterben. Schnell und schmerzlos, wenn mir deine Antworten gefallen oder langsam und unter unerträglichen Qualen, wenn sie mir nicht gefallen. Überlege es dir gut. Ich komme später noch einmal wieder. Bis dahin solltest du dich entschieden haben." Damit ging er zum Ausgang des Zeltes, wo er sich noch einmal umdrehte und an die noch immer demütig niederkauernden Dämonen wandte. "Einer von euch hält vor dem Zelt Wache, der andere hier drinnen. Die Ulogs sind hungrig. Sorgt dafür, daß keiner von Ihnen auf die Idee kommt, an ihr zu kauen, bevor ich meine Antworten bekommen habe, sonst verfüttere ich euch als Nachtisch. An die Arbeit!"

Ängstlich sprangen die Dämonen auf, um dem Befehl ihres Meisters Folge zu leisten. Einer begab sich nach draußen, um sich vor dem Zelteingang zu postieren, während der andere sich auf den Tisch setzte, mit einem tückisch aussehenden Messer spielte und Taren nicht aus den Augen ließ. Die war verzweifelt. Jetzt konnte sie nur noch auf ein Wunder hoffen.

 

Keine Meile entfernt waren die Gefährten gerade damit beschäftigt, das Wunder einzuleiten. Inzwischen hatten sie den Punkt des Weges, den der Troll vom Hügel aus gesehen hatte, erreicht und den Wagen unter einer ausladenden Ulme abgestellt. Eilig machten sie sich sofort querfeldein durch die Dunkelheit auf den Weg in die Höhle des Löwen. Schon bald lag der Geruch der Feuer in der Luft, und die Gefährten bewegten sich nun vorsichtiger durch die dunkle Hügellandschaft. Als sie den Kamm eines weiteren Hügels erklommen, lag das Lager plötzlich zu ihren Füßen. Ein kräftiger Wind, pfiff durch das Tal und sorgte dafür, daß die zahllosen Lagerfeuer aufloderten. Vorsichtshalber zogen sich die Gefährten tiefer in die Schatten einiger Felsen zurück. Zwar war es oben auf dem Hügel nahezu stockfinster, doch es war nicht auszuschließen, daß der Wandler auch hier Wachen postiert hatte, und deshalb konnte ein wenig Vorsicht nicht schaden. Dann nahmen sie ihr Ziel gründlich in Augenschein.

Erst jetzt wurde Michael so richtig bewußt, worauf er sich eingelassen hatte. Das Lager wirkte selbst auf diese Entfernung riesig. Zwar ruhte der Großteil der Dämonen wie erwartet an den zahllosen Lagerfeuern, doch es gab noch einige wenige, die zwischen den Feuern hin und her liefen oder sich an den gewaltigen Katapulten zu schaffen machten, die über das Lager verteilt waren. Aus dem Geschichtsunterricht wußte Michael, über welche Zerstörungskraft diese Maschinen verfügten. Besorgt warf er einen Blick zu Glyfara hinüber, die beim Anblick der Katapulte blaß geworden war.

"Werden eure Mauern einem derartigen Beschuß standhalten können?", flüsterte er.

"Auf Dauer sicherlich nicht. Wenn es wirklich zum Kampf kommt, müssen wir sie irgendwie ausschalten. Vielleicht kannst du sie ja in Brand stecken, wenn du schon einmal da unten bist", scherzte die Elbin mit einem Anflug von Galgenhumor.

"Und zusätzlich bringe ich gleich auch noch das halbe Heer um", gab Michael zynisch zurück, obwohl ihm eigentlich im Moment nicht nach Späßen zumute war. Gerade hatte er entdeckt, daß das Lager von einem Ring von Wachen umgeben war.

Ein weiteres Problem.

Zum Glück war der Abstand zwischen den einzelnen Wachen aber so groß, daß es ihm eigentlich gelingen sollte, zumindest unbemerkt hinein zu schlüpfen. Ob er jedoch auch genauso unbemerkt wieder hinaus gelangen würde, stand auf einem ganz anderen Blatt. Aber zunächst galt es die Frage zu klären, wie er Taren finden und befreien sollte. Er vermutete, daß sie, falls sie noch lebte, in einem der beiden großen Zelte gefangen gehalten wurde, die sich im Zentrum des Lagers befanden. Eine schwarze Standarte an einem der Zelte ließ vermuten, daß dort der Wandler untergebracht war. Die Alternative für Tarens Aufenthaltsort lag damit auf der Hand, zumal vor dem zweiten, etwas weiter abseits stehenden Zelt im Schatten eines Katapults ein Dämon Wache hielt, der auf diese Entfernung winzig aussah. Dort hinzu gelangen, dürfte alles andere als einfach werden, ging es Michael durch den Kopf, dem zum ersten Mal richtig bewußt wurde, daß er im Begriff war, sich auf ein Selbstmordkommando einzulassen.

"Noch kannst du zurück", flüsterte Glyfara, die spürte, wie er sich fühlte und ihn damit aus seinen trüben Gedanken riß. Zögernd nickte Michael.

"Ja, aber ich bin es ihr schuldig. Ohne sie wäre ich schon damals auf dem Paß umgekommen. Jetzt ist es an der Zeit, die Schuld zurückzuzahlen", erläuterte Michael, worauf Glyfara bedrückt schwieg. Die Zwerge hingegen konnten ihn verstehen.

"Eine ehrenvolle Absicht. Du handelst wie ein Zwerg", brummte Streitaxt anerkennend.

"Geisteskrank", war der einzige Kommentar des Wühlers, dem es gar nicht gefiel, im nassen Gras zu liegen und ein feindliches Lager auszuspähen, geschweige denn dort einzudringen. Freiwillig würde ihn dort mit Sicherheit keiner hinunter bekommen.

"Du solltest nicht länger zögern, sonst schaffst du es nicht, vor Anbruch der Dämmerung wieder zurück zu sein. Sieh zu, daß du das Lager rechtzeitig wieder verläßt, auch wenn du Taren nicht finden solltest; denn wenn du beim Morgengrauen immer noch dort unten herum läufst, wird deine Tarnung keine fünf Minuten halten. Den Rest kannst du dir vorstellen", gab Grüneich mit besorgter Stimme zu bedenken.

"Ich werde es mir merken", erwiderte Michael, der sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen erhob und leise von den anderen verabschiedete. Sie hatten besprochen, daß er alleine hinunter gehen würde, da die Gefahr, entdeckt zu werden, so am geringsten war. Die Zurückgebliebenen würden auf dem Hügel auf ihn warten. Sollte er jedoch bis zum Morgengrauen nicht zurückkommen, würden sie ohne ihn weiterziehen.

Ein letztes Mal nickte er seinen treuen Gefährten beklommen zu, dann machte sich auf den Weg hinab zu den fernen Lagerfeuern und verschmolz mit den Schatten der Nacht.

Nun war er ganz auf sich allein gestellt.

Wird fortgesetzt......

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus-Peter Behrens).
Der Beitrag wurde von Klaus-Peter Behrens auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.01.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus-Peter Behrens als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Geschnitzt, bemalt, bewegt: Mechanische Wunderwerke des sächsischen Universalgenies Elias Augst von Bernd Herrde



Eine in musealer Recherche und volkskundlicher Feldarbeit vom Autor erstellte und geschilderte Entdeckungsgeschichte eines sächsischen Universalgenies. Elias Augst (1775 - 1849) ein "Landbauer in Steinigtwolmsdorf", wie er sich selbst nannte, fertigte nicht nur ein mechanisches Figurentheater, "Das Leiden Christi" in sieben Abteilungen (Heute noch zu sehen im Museum für Sächsische Volkskunst in Dresden), sondern noch weitere mechanische biblischen Szenen, aber auch ein Planetarium, für welches er auf der Dresdner Industrie-Ausstellung 1825 vom König Friedrich August I. eine silberne Medaille zugesprochen bekam, versuchte sich mit Ölgemälden, baute Draisinen und machte Flugversuche...!

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus-Peter Behrens

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Kater und der wilde Norden 7 von Klaus-Peter Behrens (Fantasy)
Wunschtraum von Edelgunde Eidtner (Fantasy)
VERZWEIFLUNGSSCHREI EINES KINDES von Julia Thompson Sowa (Trauriges / Verzweiflung)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen