Ernst Heissenberger

Der dritte Wunsch

1
Als Manfred Klinger an einem Dienstagmorgen im Jänner etwas später als gewöhnlich, weil er am Vortag vergessen hatte seinen Wecker zu stellen, bei der Straßenbahnhaltestelle eintraf, sah er gerade noch die roten, in der seit Tagen in der Stadt hängenden trüben, entmutigenden Nebelsuppe wie unruhige Kerzenflammen flackernden Lichter einer Straßenbahn, die immer kleiner wurden und sich in wenigen Minuten in Nichts aufgelöst hatten.
Klinger, den fröstelte, blickte, weil er die Geräusche eines Flugzeuges hörte, nach oben, konnte aber nichts ausnehmen außer kaltem, undurchdringlichem Nebel und der einige Meter neben der Haltestelle über die Straße geführten Stromleitung, die leicht hin und her schwankte, weil ein eben noch auf ihr sitzender Vogel davongeflogen war. Von irgendwoher drang dumpf das Dröhnen von Baumaschinen, die den stellenweise löchrigen, seit einer knappen Woche mit einer dünnen Schneeschicht bedeckten Asphalt mit kalten, gefühllosen Stahlfingern aufrissen, um kraterförmige, nur behelfsmäßig mittels rotweißroten Plastikbändern abgesicherte Löcher und Gräben zurückzulassen, die Klinger, immer wenn er an solchen Baustellen vorbei kam, an Bombentrichter aus dem zweiten Weltkrieg erinnerten.
Als Klinger seine Tasche auf eine schneefreie Stelle am Gehsteig stellte, dachte er an den gestrigen Abend und daran, dass er sich einen Vortrag seines Chefs würde anhören müssen, weil er es sicher nicht rechtzeitig zur Arbeit schaffen würde. Missmutig stieg er von einem Fuß auf den anderen, denn die seit Tagen in der Stadt herrschende, klirrende Kälte begann, ausgehend von seinen Zehen, langsam an ihm hochzukriechen. Seine Hände tief in den Manteltaschen vergraben, sah er auf den überfüllten Mistkübel, der halb heruntergerissen unter der Haltestellentafel hing, dann auf die der Haltestelle gegenüber liegende Plakatwand, auf der halbnackte Frauen zu sehen waren mit großen Brüsten und endlos langen Beinen, die für Unterwäsche warben.
Wenn jetzt eine Straßenbahn käme, dachte Klinger, war sich aber sogleich der Unsinnigkeit seines Gedankens bewusst (um diese Zeit verkehrten auf dieser Linie die Straßenbahnen im 15-Minuten-Intervall), dann würde ich es gerade noch rechtzeitig ins Büro schaffen und mir bliebe der peinliche Vortag von wegen Unpünktlichkeit und Langschläferei erspart, – da sah er, als er sich von der Plakatwand wegdrehte und nach links blickte, in der Ferne wirklich, zunächst nur schemenhaft, dann jedoch immer deutlicher werdend, die erhofften Lichter einer Straßenbahn.
„Was für ein Zufall“, sagte Klinger halblaut zu sich, klemmte seine Tasche unter seinen linken Arm und stieg, nachdem die Straßenbahn in die Haltestelle eingefahren war und die Türen sich langsam und unrhythmisch geöffnet hatten, als Einziger in den beinahe leeren Wagen, stolperte kurz, als der Fahrer wieder anfuhr und setzte sich in eine leere Sitzreihe, wobei er noch einen hastigen Blick auf die von der Plakatwand lachenden, spärlich bekleideten Frauen warf.
Die Wohlleben-Straße, die die Straßenbahn entlang fuhr, war überfüllt mit neben der Straße parkenden, dreckigen, zentimeterdick mit Schnee bedeckten Autos, zwischen denen Papierfetzen lagen und leer getrunkene, achtlos weggeworfene Getränkedosen. Der Schnee, den man zum Gehsteig hin geschoben hatte, war bereits vor über einer Woche gefallen, uns er hatte nichts mehr von seiner ehemals ermutigenden, hellen, weißen Fröhlichkeit; er hatte mittlerweile das dreckige, deprimierende Grau der restlichen Stadt angenommen.
Klinger hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt und seine Tasche neben sich auf den Boden gestellt. Drei Bankreihen vor ihm saß eine junge Frau, die ihren Kopf gegen die kalte Fensterscheibe gelehnt hatte. In unregelmäßigen Abständen hauchte sie diese an, zeichnete mit ihren langen, dunkelroten Fingernägeln Strichmännchen, löschte diese aber sogleich wieder weg, um einen Augenblick erneut damit zu beginnen.
Klinger, dem das lange, dunkle Haar der Frau gefiel und die Ausdauer, mit der sie ihrer Beschäftigung nachging, sah ihr eine Weile zu, beugte sich schließlich nach links, hauchte die Fensterscheibe neben ihm ebenfalls an und zeichnete zwei konzentrische Kreise in den an dem kalten Glas kondensierten Atem.
Als die Straßenbahn kurz darauf in eine Querstraße einbog und an einer auf Rot gesprungenen Ampel stehen blieb, versuchte er sich das Aufsehen vorzustellen, das es wohl gäbe (Klinger erinnerte sich an eine ähnliche Szene in einem französischen Kinofilm), wenn die noch immer Strichmännchen zeichnende Frau aufstehen, bei der nächsten Haltestelle aussteigen, dabei ihren knielangen Mantel, unter dem sie nackt war, langsam aufknöpfen und mit einer eleganten Handbewegung über die Schultern werfen würde, um, auf diese Weise vollkommen falsch bekleidet für das jetzt herrschende Winterwetter, in der nächsten Seitengasse zu entschwinden.
Klinger lehnte sich in seinem Sitz zurück, malte sich diese Szene in allen Einzelheiten aus und versuchte sich dabei angestrengt an den Titel des Kinofilms zu erinnern, was ihm aber nicht gelang.
Als ihn unsanftes Ruckeln aus seinen Gedanken riss, sah er auf, blickte kurz durch die Fensterscheibe nach draußen und erkannte durch den Nebel schemenhaft die Haltestelle, in die die Straßenbahn einfuhr. Er warf einen Blick zu der dunkelhaarigen Frau und sah, dass diese aufgestanden war – Klingers Herz begann schneller zu schlagen – und darauf wartete, bis die Straßenbahn stehen blieb und die Türen sich öffneten.
Gegenüber der Straßenbahnhaltestelle lag ein Park, der im Nebel unheimlich wirkte. Nur schemenhaft sah Klinger, als er sich nach links drehte, einen verwahrlosten Mann auf einer der Bänke liegen, mit seiner Hand krampfhaft eine leere Zweiliterflasche Wein haltend. Als der Mann auf der Parkbank sich bewegte und Klinger angesichts der tiefen Temperaturen und des scheußlichen Wetters Mitleid mit dem Mann bekam, hielt die Straßenbahn. Die Türen öffneten sich ebenso langsam und unrhythmisch wie vorhin, als Klinger eingestiegen war, nur dass jetzt niemand ein-, sondern die junge Frau ausstieg. Dabei knöpfte sie bei jedem Schritt ihren Mantel ein Stück weiter auf, um ihn, als sie am Gehsteig stand, mit einer eleganten Handbewegung, genau in der Art wie Klinger es sich vorhin vorgestellt hatte, über ihre Schultern zu werfen.
Langsam begann sich Klinger, weil die Straßenbahn wieder anfuhr, um seine Achse zu drehen, um die Frau im Blickfeld zu behalten. Er sah gerade noch, hinter dem durch die trübe Nebelsuppe wirbelnden Schatten des weggeworfenen Mantels, wie die Frau zwischen quietschenden und hupenden Autos die Straße überquerte mit nichts an ihrem Leib außer schwarzen Lederstiefeln, und er hätte das alles für einen Traum gehalten, wäre da nicht das Quietschen der Autoreifen gewesen, das Hupen und die beiden wild gestikulierenden Zeitungsverkäufer, denen vor Schreck die Zeitungen aus den Händen gefallen waren und die sich nicht satt sehen konnten an der nackten Frau, die eben vor ihren Augen vorbei stolziert war.
Klinger, der siebenundzwanzig Jahre alt war und sich vor einem Jahr von seiner Freundin, mit der er über zwei Jahre zusammen gewesen war, getrennt hatte, arbeitete in der Entwicklungsabteilung der VERMA AG, und war mit Thaler, Koller und Gertner, seinem Chef, seit einigen Wochen verzweifelt auf der Suche nach guten Ideen bezüglich eines Großauftrags aus Ungarn. Vorhin, als an der Straßenbahnhaltestelle kalte Nebelfetzen sein ungeschütztes Gesicht umweht hatten und er fröstelnd von einem Fuß auf den anderen gestiegen war, hatte er sich angesichts der drohenden Predigt Gertners eine halbwegs plausible Erklärung für sein Zuspätkommen zurecht zu legen versucht (was ihm jedoch nicht gelungen war); jetzt, in der Straßenbahn und im Warmen, saß er mit verschränkten Armen da, hatte sich gerade wieder nach vorne gedreht und grübelte kopfschüttend darüber nach, was es mit diesem mehr als merkwürdigen Vorfall gerade eben auf sich haben mochte.
Außer ihm saß in der Straßenbahn, abgesehen vom Fahrer, nur ein älterer Mann drei Bankreihen hinter ihm. Auch dieser hatte sich, als die Frau ausgestiegen war und ihren Mantel über ihre Schultern geworfen hatte, ebenso ungläubig wie Klinger, weil er auch seinen Augen nicht getraut hatte, umgedreht und der nackten Frau nachgesehen, bis sich ihre Konturen im Neben aufgelöst hatten. Dann hatte er sich sofort wieder in seine aufgeschlagene Zeitung vertieft und so getan, als wäre das soeben Vorgefallene überhaupt nicht geschehen.
Wahrscheinlich denkt er, dachte Klinger, dass hier ein Film gedreht wird. Jedenfalls blieb sein Kopf hinter der Zeitung verschwunden.
Klinger dachte im ersten Moment genau dasselbe. Allerdings hatte er in der Innenstadt schon einige Male bei Dreharbeiten fürs Fernsehen zugesehen, und deshalb wusste er, dass diese Leute nichts dem Zufall überließen. Erstens wurden die Statisten genauestens ausgewählt und stundenlang akribisch, auch für die kürzesten Szenen, zurecht gemacht, jedes wegstehende Haarsträhnchen wurde niedergezwungen, jeder nicht zum Gesamtbild passende Farbton entfernt oder überschminkt und vieles mehr, und zweitens bestand so gut wie keine Möglichkeit, sich dem Filmteam unbemerkt auf mehr als hundert Meter zu nähern. Klinger hatte aber weder ein Filmteam noch Absperrungen gesehen, also wurde hier mit Sicherheit kein Film gedreht.
Erst kurz vor der nächsten Haltestelle, an der er ausstieg, dachte Klinger, dass es eigentlich seltsam war, dass heute Morgen die Lichter der Straßenbahn und die Straßenbahn selbst genau in dem Moment aufgetaucht waren, als er sich diese angesichts der drohenden Predigt Gertners herbeigewünscht hatte.

2
Klinger stand einige Augenblicke unschlüssig in der Haltestelle, wartete, bis die Straßenbahn abgefahren war und ging dann langsam die Straße entlang, in der sich der Haupteingang der VERMA AG befand.
Nachdem er sich in der Trafik, die nur wenige Minuten von der Straßenbahnhaltestelle entfernt lag, eine Zeitung und zwei Päckchen Zigaretten gekauft, einige Zeitschriften durchgeblättert und mit einem freundlichen Gruß die Trafik wieder verlassen hatte, stand er am Gehsteig und ließ seinen Blick über die Fassade des Unternehmens streichen, die verwittert und alt und stellenweise abgebröckelt war. Die VERMA AG produzierte hier an diesem und an einem weiteren, an der südlichen Grenze des Landes gelegenen Standort Verpackungsmaschinen, die hauptsächlich am europäischen Markt vertrieben wurden, und die Firma hatte ihre besten Zeiten schon lange hinter sich.
Während Klinger sich eine Zigarette anzündete, auf die Uhr sah und zufrieden feststellte, dass ihm noch genau zwei Minuten Zeit blieben, stellte er sich die Menschen vor, die hinter dieser in den Nebel ragenden und sich etwas über dem dritten Stockwerk in Nichts auflösenden Fassade arbeiteten, wie sie wie Ameisen hin und her liefen und fleißig waren oder einfach herumsaßen, tratschten und darauf warteten, dass die Zeit verging. Die Straße war jetzt überfüllt von Autos, die im morgendlichen Stau dahin krochen und gespenstisch aussahen im Nebel, der dichter geworden war und gefräßig und nimmersatt alles bis auf die unmittelbarste Umgebung verschlang.
Klinger dachte an die junge Frau von vorhin und daran, als er sechs Jahre alt gewesen und mit der Tochter der damaligen Nachbarn in der kleinen Holzhütte seiner Eltern gesessen war, die zum Aufbewahren von Gartengeräten gedient hatte, um sich gegenseitig Märchen, die sie zuhause von ihren Eltern gehört hatten, zu erzählen. Wenn er sich recht erinnerte, hatte es da ein Märchen von einem Müllersohn gegeben, der in der Mühle seines Vaters in einem Mehlsack ein leises Wimmern vernommen hatte. Der Müllersohn war natürlich neugierig gewesen, was das für ein Wimmern war, hatte einen Blick in den Sack geworfen und dabei eine kleine, elfenbeinfarbene, gute Fee entdeckt, die ihm als Dank für ihre Rettung drei Wünsche gewährt hatte. Klinger, der die zuende gerauchte Zigarette wegwarf, konnte sich trotz angestrengten Nachdenkens nicht mehr erinnern, wie diese gute Fee in den Mehlsack gekommen war, auch nicht daran, was der Müllersohn mit seinen drei Wünschen angefangen hatte. Er wusste nur noch, dass sein Interesse an Märchen in den folgenden Jahren rasch gesunken, während das an der Nachbarstochter erheblich gestiegen war, und als er durch die beiden großen Glastüren in die weitläufige Empfangshalle der VERMA AG trat, den dort sitzenden Portier grüßte und seine Stechkarte in den engen Schlitz der Stechuhr steckte und das verzerrte Klingelgeräusch abwartete, dachte er an den Sonntagnachmittag, als er der Nachbarstochter den ersten zaghaften Kuss auf ihre Wange gehaucht hatte.
Sollte, dachte Klinger, als er zum Aufzug ging, mir eine gute Fee ebenfalls drei Wünsche gewährt haben?
Wenn das so wäre, dann hätten sich zwei bereits erfüllt, und mir bliebe nur noch einer, überlegte er, als die Türen des Aufzuges bereits geschlossen waren und die Kabine sich ruckartig in Bewegung setzte. Obwohl Klinger das Ganze, mit jedem Stockwerk, das er höher fuhr, immer mehr als Verkettung merkwürdiger Zufälle ansah, beschloss er dennoch, den dritten Wunsch, den es aber höchstwahrscheinlich gar nicht gab, nicht übermütig durch irgendeinen dummen Gedanken zu verschenken, und dabei fühlte er sich mit einem Male in seine Jugendzeit zurück versetzt. Er versuchte sich an die Gartenhütte zu erinnern, an den Garten seiner Eltern, an die Blumen und Sträucher, die im Sommer in allen erdenklichen Farben geblüht und herrlich geduftet und dabei stets unzählige Schmetterlinge angelockt hatten, und als er aus dem Aufzug stieg, nach rechts um die Ecke bog und den Gang entlang schlenderte, dachte er wieder an die Tochter des Nachbarn, konnte sich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie sie geheißen hatte.
Gertner saß hinter seinem Schreibtisch und war in eine Berechnung vertieft, blickte nur kurz auf, als die Tür zur Abteilung hinter Klinger mit einem halblauten Knacks ins Schloss fiel, sah auf seine Armbanduhr und murmelte etwas, das irgendwie wie „Guten Morgen“ klang.
„Morgen“, erwiderte Klinger, hängte seinen Mantel auf einen der freien Kleiderhaken an der Wand und schlurfte langsam zu seinem Platz, wo der Zettelkram und die Aktenordner noch genauso unordentlich dalagen, wie er sie gestern um halbsechs Uhr abends verlassen hatte.
Koller, der hinter seinem Computer saß und sich bedächtig am rechten Ohr kratzte, bemerkte Klinger nicht, drehte sich erst mühsam in seinem Sessel um, als Klinger ihn grüßte und selbst Platz nahm, seine Tasche unter seinen Schreibtisch schob, nach rechts aus dem Fenster blickte und nichts sah außer hässlichem Nebel und der spärlichen Beleuchtung des gegenüber liegenden Gebäudes.
Thaler kam, wenige Augenblicke nachdem Klinger seinen Computer gestartet hatte, mit zusammen gefalteten Zeichnungen aus der Werkstätte. Er hatte dort, wie auch die Tage zuvor, mit Kolleritsch, dem Meister der Schweißerei, eine längere Debatte führen müssen wegen unzulänglich und falsch geschweißter Nähte an einer Verpackungsmaschine Nachdem er seinen grauen Übermantel mit einer ärgerlichen Bewegung quer über seinen Schreibtisch geworfen hatte und sich anschickte, mit den Zeichnungen ebenso zu verfahren, sah er Klinger und wünschte einen Guten Morgen. Klinger starrte aber – derart in Gedanken versunken, dass Thaler ein zweites Mal, und diesmal lauter, „Guten Morgen“ sagen musste – aus dem Fenster, ehe er sich umdrehte und zurückgrüßte.
„Noch immer nicht ausgeschlafen?“, fragte Gertner und sah kurz von seinen Berechnungen hoch, „Jetzt kommt er schon so spät und schläft immer noch.“
„Habe gerade über etwas nachgedacht“, brummte Klinger und lächelte, weil er, als Thaler und Gertner über seine angebliche Ausrede auflachten, tatsächlich nachgedacht hatte.
Noch immer nicht war ihm klargeworden, was er von diesem seltsamen Dienstagmorgen halten sollte. Vor knapp zwanzig Jahren hatte er aufgehört, an Märchen, an gute Feen und ähnliche Fabelwesen zu glauben; allerdings las man ja immer wieder in Zeitungen von merkwürdigen Vorfällen, die sich rationell nicht erklären ließen. Wenn mir also, dachte Klinger, vielleicht doch eine gute Fee drei Wünsche gewährt hat, obwohl ich nicht an sie glaube? Wenn sie das nur aus dem Grund getan hat, um mir einen Hinweis zu geben, dass es Feen und gute Geister trotz meines Unglaubens gibt, das wäre eine wirklich unglaubliche Geschichte.
Mit einem Blick auf seine Armbanduhr und stolz darauf, dass er mit seinen siebenundzwanzig Jahren noch nicht ganz fantasielos war, beschloss er, an die gute Fee zu glauben, und er hielt an seinem vorhin gefassten Beschluss fest, den ihm gewährten dritten Wunsch durch keine Unachtsamkeit zu verschwenden – obwohl bei ihm ein leiser Zweifel zurückblieb, ob die Frau tatsächlich nackt gewesen war und ob er und der Mann mit der Zeitung in der Straßenbahn und auch die beiden Zeitungsverkäufer nicht doch irgendetwas anderes gesehen hatten.
Während Gertner und Thaler im Hintergrund lauthals über Schweißnähte und Kolleritsch diskutierten, darüber, dass es nun schon zum dritten Mal innerhalb nur eines halben Jahres zu derartigen Qualitätsmängeln gekommen war, dass in der Schweißerei grundsätzlich einige sehr schlecht ausgebildete Arbeiter beschäftigt waren, versuchte Klinger etwas Ordnung in das Chaos auf seinem Schreibtisch zu bringen und beschloss, seinen Kollegen nichts von alle dem zu erzählen.

3
Der Tag verlief genauso wie die Tage der letzten Woche. Obwohl in der Abteilung am frühen Nachmittag wieder eine lange Besprechung über den Auftrag aus Ungarn stattfand, wollte sich die gute Idee, die ihre Probleme gelöst hätte, einfach nicht einstellen.
Klinger hatte während der Besprechung ein- oder zweimal sehr vorsichtig an seine morgendlichen Erlebnisse gedacht, aber mit allen Mitteln hatte er sich davor gehütet, bezüglich der fehlenden Idee für den Ungarn-Auftrag irgendetwas Ähnliches wie einen Wunsch zu formulieren. Für so etwas seinen dritten Wunsch zu verschwenden, dafür hätte er sich nun wirklich bis an sein Lebensende geärgert. Es wird einem meiner Kollegen schon etwas einfallen, dachte er, denn so lief es doch immer. Hatte man, zu Beginn eines Projektes, in vielen Fällen über die später tatsächlich ausgeführte Lösung so gut wie keine Vorstellung gehabt und schienen die Probleme, vor denen man an diesem frühen Zeitpunkt stand, unüberwindlich und schlicht unlösbar, so hatte man im weiteren Verlauf der Projekte diese Probleme schließlich doch gelöst und es war ihnen immer wieder gelungen, den Kundenwünschen zu entsprechen. Warum sollte er also unnötig seinen dritten Wunsch dafür verschwenden?
Dennoch, oder gerade deswegen, war Klinger unruhig und nervös, als seine Kollegen und er an ihre Schreibtische zurückkehrten. Er beschloss daher, heute früher als geplant nach Hause zu gehen. Vielleicht fand er zuhause die nötige Ruhe, um sich den heutigen Tag – und den noch ausständigen dritten Wunsch – noch einmal ausführlich durch den Kopf gehen zu lassen.
Gedankenverloren holte er deshalb, kaum dass er sich auf seinen Sessel niedergelassen hatte, seine Tasche unter dem Schreibtisch hervor, ging, ohne den Computer abzudrehen, zur Kleiderwand, wo er sich seinen Mantel griff, und verließ – zu Gertner sagte er bloß „Ich muss heute früher gehen, wir sehen uns morgen“ – das Büro.
Gertner blickte von seinem Schreibtisch auf, sah Klinger entgeistert an, der wie ferngesteuert an ihm vorbei ging, und noch ehe er etwas erwidern konnte, war die Tür hinter Klinger bereits wieder ins Schloss gefallen.
Als Klinger auf der Straße stand und die kalte Winterluft einatmete, fühlte er sich mit einem Mal erleichtert, ohne wirklich zu wissen warum. Gedankenverloren schlenderte er in Richtung Straßenbahnhaltestelle. Der gefrorene Schnee knirschte unter jedem seiner Schritte. Um diese Tageszeit waren nur wenige Autos unterwegs. Ein paar Meter weiter sah er eine alte Frau mit einem Einkaufskorb die Straße überqueren. Ein zotteliger Hund trottete hechelnd hinter ihr her.
Klinger sah ihr nach, bis er hinter sich die herannahende Straßenbahn hörte. Er beschleunigte seine Schritte und erreichte die Haltestelle gerade, als die Straßenbahn einfur und die Türen sich öffneten. Er stieg in den Wagen und setzte sich auf einen der freien Plätze, legte seine Tasche auf den Sitzplatz neben sich und stellte mit plötzlich schneller schlagendem Herz fest, dass vier Reihen vor ihm sie Frau von heute Morgen saß.
Ein paar Augenblicke lang starrte er die langen, dunklen Haare entgeistert an, und erst das ruckartige Beschleunigen der Straßenbahn riss ihn aus seinen Gedanken. Dass es dieselbe Frau war, die heute Morgen ebenfalls mit ihm in der Straßenbahn gefahren war und dabei Strichmännchen auf die Fensterscheibe gezeichnet hatte, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Klinger wusste nicht, was er davon halten sollte. Dass es Zufälle gab, das akzeptierte er. Dass es eine Verkettung von Zufällen und merkwürdigen Vorkommnissen gab, das sah er auch noch ein. Was ihm heute jedoch bereits alles an Merkwürdigkeiten passiert war, das konnte, davon war er jetzt felsenfest überzeugt, nicht mehr mit rechten Dingen zugehen.
Die Geschichte mit der guten Fee kam ihm wieder in den Sinn, die Nachbarstochter, deren Name ihm immer noch nicht eingefallen war, und sein dritter, noch nicht eingelöster Wunsch. Er stand auf und ging nach vorne zu der Frau.
„Hallo“, sagte er, als er neben der Sitzreihe stand, in der sie saß, und sein Herz schlug ihm bis zum Hals, „Sie werden mit nicht glauben, was ich Ihnen jetzt erzählen werde.“
Die Frau drehte sich zu ihm und sah ihn einige Augenblicke lang verwundert an, dann begann sie zu schmunzeln.
„Was werde ich denn nicht glauben? Welche unglaubliche Geschichte wollen Sie mir denn erzählen?“
Klinger sah lange in ihre graublauen Augen, ehe er etwas erwidern konnte. Er hatte noch nie so helle, freundliche Augen gesehen.
„Darf ich mich …?“, begann er dann.
„Aber natürlich“, sagte die Frau, „setzen Sie sich und schießen Sie los.“
Selbst in dem trüben Licht der Straßenbahn und der nebelverhangenen Stadt glitzerten ihre Augen wie zwei Edelsteine.
Nachdem Klinger neben ihr Platz genommen und sich wieder gefasst hatte, begann er von heute Morgen zu erzählen. Dass er die Straßenbahn, mit er sonst üblicherweise fuhr, versäumt und sich daraufhin gewunschen hatte, dass eine andere käme, und dass diese wirklich, viel früher als laut Fahrplan, gekommen war, und er erzählte, wie sie – die Frau, neben der er jetzt saß und der er all das erzählte – aus der Straßenbahn gestiegen war, den Mantel ausgezogen hatte und vollkommen nackt im Nebel verschwunden war, und je länger er erzählte, umso mehr lächelte die Frau, und schließlich, als er von der Nachbarstochter erzählte und dem Märchen mit der aus dem Mehlsack befreiten guten Fee, lachte sie laut auf, und dabei schüttelte sie ihren Kopf, und ihre langen, dunklen Haare schaukelten hin und her, und Klinger blickte fasziniert in ihre Augen und er dachte: Wenn es wirklich so irgendetwas wie eine gute Fee gibt und wenn ich heute drei Wünsche frei habe, von denen zwei bereits erfüllt wurden, dann ist mein dritter Wunsch, die heutige Nacht mit dieser Frau zu verbringen.
„Das ist ja tatsächlich unglaublich“, sagte die Frau, „das ist die beste Geschichte, die ich seit langem gehört habe.“ Schmunzelnd griff sie mit einer raschen Handbewegung zu einer kleinen, roten Handtasche, die neben ihr am Sitz stand.
„Aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen“, sagte sie, während sie aufstand, „ich muss hier aussteigen.“
Klinger, abrupt aus seinen Gedanken gerissen, warf einen raschen Blick aus dem Fenster und erkannte durch den mittlerweile etwas dünner gewordenen Nebel die Plakatwand mit den halbnackten Frauen, die bereits heute Morgen seine Aufmerksamkeit erregt hatten.
„Aber“, sagte er verwundert, „was für ein Zufall. Ich muss auch hier aussteigen.“
„Dann können wir ja vielleicht noch ein Stück gemeinsam gehen“, sagte die Frau, und als die beiden kurz darauf am Gehsteig standen: „Ich muss jedenfalls dort lang“, und sie deutete in die Richtung, in die auch Klinger musste.
Der schüttelte nur leicht seinen Kopf und meinte: „Nach alledem, was mir heute bereits passiert ist, hätte mich gewundert, wenn wir nicht in dieselbe Richtung hätten gehen müssen.“
Wenig später standen sie vor dem Haus, in dem Klinger seine Wohnung hatte, und die Frau nahm einen Schlüssel aus ihrer Handtasche und sperrte die große, hölzerne Eingangstüre auf. Sie lächelte Klinger an und sagte „Ich wohne hier“, und der erwiderte „Sie werden es nicht für möglich halten, ich ebenfalls.“
Die beiden traten in das kalte, nur durch eine flackernde Glühbirne spärlich beleuchtete Stiegenhaus, in dem es, Klinger war das bereits morgens aufgefallen, penetrant nach verfaultem Obst roch. Unter den zum Teil offen stehenden Postfächern lehnte ein prall gefüllter, schwarzer Müllsack, auf den jemand mit weißer Farbe ein großes M gemalt hatte. Klinger warf einen Blick auf den Müllsack und nahm sich vor, den Hausmeister daraufhin anzusprechen.
Auch die Frau warf einen Blick auf den Müllsack, dann ging sie zu einem der Postfächer, sperrte es auf (es war die Nummer neun, wie Klinger feststellte), entnahm zwei Briefe und sperrte es wieder zu. Sie steckte die Briefe in ihre Handtasche und drehte sich zu Klinger.
Dieser suchte mittlerweile gar nicht mehr nach irgendwelchen Erklärungen für all das, was hier geschah. Für ihn stand fest, dass eine gute Fee ihm am heutigen Tag drei Wünsche gewährt hatte, und dass er dritte Wunsch soeben im Begriff war, in Erfüllung zu gehen. Ihn interessierte jetzt nur noch, in welcher Weise das alles ablaufen würde.
„Wenn wir uns heute schon über den Weg gelaufen sind und Sie auch hier in dem Haus wohnen“, sagte die Frau, „dann habe ich eine große Bitte an Sie.“
„Nur zu“, lächelte Klinger, „was kann ich für Sie tun?“
„Können Sie – ?“, begann die Frau, und Klinger dachte: Jetzt sagte sie: ‚Können Sie die Nacht mit mir verbringen?‘, und er hatte sich bereits ‚Aber ja, natürlich, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen‘ als Antwort zurecht gelegt, aber die Frau fuhr fort: „ – so nett sein und bei meiner Deckenlampe im Wohnzimmer nachsehen, ob ich da einen Kurzschluss habe? Gestern abends hat es nämlich einen großen Knall gegeben und ich bin im Finstern gestanden.“
„Waren Sie schon beim Hausmeister deswegen?“, fragte Klinger.
„Mir ist das Ganze um halbzwölf in der Nacht passiert“, sagte die Frau, „da wollte ich den Hausmeister nicht mehr belästigen.“
„Sehr vernünftig“, sagte Klinger. Er drehte sich zu den Stiegen und sagte: „Dann werde ich mal einen Blick darauf werfen. Welche Wohnung haben Sie?“
„Das ist wirklich sehr nett von Ihnen“, sagte die Frau, „ich habe die Nummer Neun. Im zweiten Stock. Und wenn Sie eine Haushaltsleiter haben, dann nehmen Sie die bitte gleich mit. Bei diesen hohen Zimmern kommt man mit einem gewöhnlichen Sessel nicht bis zur Decke hoch – das habe ich nämlich schon versucht.“
Für Klinger, der seit frühesten Schulzeiten liebend gerne an Elektrogeräten im Elternhaus herumgebastelt hatte, war die Angelegenheit mit der Deckenlampe überhaupt kein Problem. Eigentlich war nur ein kleines Drähtchen durchgeschmort, das ersetzt werden musste, und so hatte er die Lampe innerhalb kürzester Zeit repariert.
„Ganz lieben Dank“, sagte die Frau, als Klinger wieder von der Leiter gestiegen war, „bei diesem deprimierenden Winterwetter“ – und dabei machte sie eine flüchtige Handbewegung in Richtung Fenster – „benötigt man wirklich schon beinahe den ganzen Tag über Licht. Ich frage mich, wann wir das nächste Mal die Sonne wieder zu Gesicht bekommen.“
„Angeblich wird es am Wochenende freundlicher“, sagte Klinger.
„Achja?“, sagte die Frau, „na, mal abwarten. Ich heiße übrigens Tanja“, sagte sie dann beinahe übergangslos, und lächelnd streckte sie Klinger die rechte Hand entgegen. „Auf gute Nachbarschaft!“
„Ich bin der Manfred“, sagte Klinger, „ebenfalls auf gute Nachbarschaft.“
„Und nachdem jetzt die Förmlichkeiten ausgetauscht sind, was darf ich dir zum Trinken anbieten?“, fragte Tanja, „Ich möchte mich für die rasche Reparatur natürlich erkenntlich zeigen.“
Klinger dachte an die gute Fee und an seinen dritten Wunsch. Er lächelte und dann sagte er: „Wenn es dir keine Umstände bereitet, dann hätte ich gerne Tee.“
„Kein Problem“, sagte Tanja, „ist bei diesem Wetter sicher die beste Wahl“, und mit einem „Bin gleich wieder da“ drehte sie sich um und verschwand im Nebenzimmer.
Klinger sah sich im Zimmer um. Es war hell und freundlich eingerichtet. An der rechten Wand stand eine ältere Couch, davor ein niedriger Wohnzimmertisch. Er spazierte zur Bücherwand, ließ seinen Blick kurz über die Bücher – hauptsächlich Kriminalromane – streifen und schlenderte dann langsam zum Fenster. Der Nebel hatte sich in der Zwischenzeit noch etwas mehr gelichtet, und der Abendverkehr war voll im Gange. Langsam wälzte sich ein endloser Blechwurm von Autos durch die Stadt, die gespenstisch dalag in der fortgeschrittenen Abenddämmerung, nur matt erleuchtet vom trüb-orangen Licht der Straßenlaternen. Klinger kamen sie vor wie halbverblasste Farbkleckse auf dünnen, silbern glänzenden Spinnenbeinen, und während er das Fenster vor seinem Gesicht anhauchte und ein Strichmännchen auf die beschlagene Glasscheibe zeichnete, stellte er sich vor, wie diese Farbkleckse plötzlich langsam, dann aber immer schneller werdend, wie eine feindliche Armee von Außerirdischen, zu marschieren begannen. Er lachte, über sich selbst und seine Fantasie erheitert, kurz auf, wischte das Strichmännchen von der Scheibe, schlenderte zurück zur Couch und setzte sich.
Kurz darauf kam Tanja zurück ins Zimmer. Mit beiden Händen trug sie ein Tablett, auf dem Teegeschirr und eine dampfende Teekanne stand. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt einen seidenen Kimono, unter dem sich schemenhaft ihr schlanker, nackter Körper abzeichnete. Nachdem sie das Tablett auf den Wohnzimmertisch gestellt hatte, setzte sie sich auf die Couch neben Klinger. Mit einem Lächeln auf den Lippen und einer langsamen Handbewegung fuhr sie ihm durch sein Haar, und als sie ihren Kopf langsam zu dem seinen beugte und er wieder in ihre unglaublich graublauen Augen sah, dachte Klinger an die im Mehlsack gefangene Fee und an das Gartenhäuschen seiner Eltern und an die Nachbarstochter, und plötzlich fiel ihm der Name der Tochter ein. Auch sie hatte Tanja geheißen.


4
Als Manfred Klinger am nächsten Morgen erwachte und sich in dem breiten Bett schlaftrunken auf die andere Seite drehte, war diese leer. Er griff mit seiner rechten Hand nach dem Polster, der zerknüllt neben ihm lag, zog diesen zu sich und stopfte ihn mühselig unter seinen Kopf. Mit einem Lächeln nahm er das zarte Parfüm Tanjas wahr, nach dem der Polster roch.
Er dachte an gestern Abend und die Nacht mit Tanja, als ihn einige Augenblicke später ein lautes, dumpfes Geräusch im Nebenzimmer unsanft aus seinen Gedanken riss. Er schreckte auf und war mit einem Male hellwach. Mit einer raschen Bewegung drehte er sich herum und warf einen Blick auf den Wecker. Es war Viertel acht Uhr vorbei, also die Zeit, um die er normalerweise das Haus verließ.
Mit einem kurzen Schwung war es aus dem Bett. Er zog sich rasch an und ging in das Zimmer, von wo das Geräusch gekommen war.
Es war die Küche, und angenehmer Kaffeeduft erfüllte den Raum. Er lächelte wieder und setzte gerade an etwas zu sagen, als er vor sich einen Mann stehen sah. Klinger stockte und zuckte zurück. Augenblicklich begannen seine Gedanken zu rasen. Tanja hatte doch gestern mit keiner Silbe erwähnt, dass sie hier nicht alleine wohnen würde…
„Was zum – ?“, sagte er, stockte aber sogleich wieder, als er in dem Mann vor ihm Gertner, seinen Chef, erkannte.
„Guten Morgen, Herr Klinger“, sagte dieser mit fester, ruhiger Stimme.
Klinger stand da und war sprachlos. Die Tatsache, dass er hier auf seinen Chef traf, war aber gar nicht der Grund für seine Sprachlosigkeit, obwohl auch das ungewöhnlich genug war, es war die Tatsache, dass sein Chef eine reich verzierte Uniform trug. Fassungslos betrachtete Klinger den vor ihm Stehenden von Kopf bis Fuß, dann gewann er langsam seine Fassung wieder. Die Situation war wirklich absurd. Das alles konnte sich doch wohl nur um einen schlechten Scherz handeln.
„Guten Morgen, Herr Gertner“, sagte er deshalb so freundlich wie möglich, aber er merkte, dass seine Stimme zitterte.
„Bitte“, sagte sein Chef, „setzen Sie sich doch.“ Dabei machte er eine kurz angedeutete Kopfbewegung in Richtung der beiden Sessel, die beim Küchentisch standen.
Die Stimme war fest und duldete keinen Widerspruch, also setzte sich Klinger.
„Was machen Sie dennn hier in der Wohnung?“, fragte Klinger und betrachtete dabei die Uniform Gertners genauer.
Er erinnerte sich, vor einiger Zeit den Film Der Kurier des Zaren gesehen zu haben, in dem die Schauspieler ähnlich verzierte Uniformen getragen hatten. Selbst auf den langen Säbel hatte sein Chef nicht verzichtet, dachte Klinger. Bedrohlich baumelte er an einem ebenfalls reich verzierten Gürtel. Aber warum spielte er ihm dieses Theater vor? Hatte sein Chef sich heute einen Urlaubstag genommen und ging zu einer Veranstaltung, wo man derart alte Uniformen trug? Klinger dachte angestrengt nach, ob sein Chef vielleicht irgendwann einmal erwähnt hatte, dass er Mitglied in einem dieser Vereine war, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, alte Traditionen zu pflegen. Aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Und selbst wenn das so wäre: Was um Alles in der Welt machte er dann – bekleidet mit einer Uniform – hier in Tanjas Wohnung?
„Ich wohne hier“, riss ihn sein Chef aus seinen Gedanken.
„Sie … wohnen … hier?“, stammelte Klinger nach einer Schrecksekunde und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
„Aber – “, fuhr er beinahe tonlos fort, als Tanja im selben Moment in die Küche trat. Sie trug jetzt wieder den seidenen Kimono, den sie auch gestern abends getragen hatte.
„Ja, ich wohne hier“, wiederholte sein Chef. Seine Stimme war immer noch fest und ruhig wie zuvor, und mit einem kurzen Blick zu der eben in den Raum getretenen Tanja sagte er: „Und das ist meine Frau.“
„Ihre – ?“, begann Klinger, aber er kam einfach nicht weiter.
Ungläubig schüttelte er seinen Kopf. Das war einfach zu viel. Zuerst sein Chef in Tanjas Küche, dann die Uniform, und jetzt die Behauptung, dass sein Chef mit Tanja verheiratet wäre. Er lächelte, und sein Lächeln wurde immer breiter. Aber natürlich. Das alles war bloß ein Scherz, den seine Arbeitskollegen sich ausgedacht hatten. Er sah die beiden vor ihm Stehenden abwechselnd an und begann dann leise zu lachen.
„Also ich muss schon sagen“, sagte er, „der Spaß ist gelungen.“
„Ich verstehe nicht ganz“, antwortete sein Chef mit ernster Stimme, „wie Sie angesichts der Situation, in der Sie sich befinden, noch lachen können. Ihre Lage ist alles andere als zum Lachen.“
Klinger sah seinen Chef an und sein Lachen gefror mit einem Male. Nichts in Gertners Gesichtszügen deutete darauf hin, dass es sich hier tatsächlich um einen Scherz handelte. Er warf einen raschen Blick zu Tanja, aber auch diese stand schweigsam und mit ernster Miene da und machte keine Anstalten irgendetwas zu sagen. Klinger sah in ihre graublauen Augen und hoffte auf irgendein Zeichen, irgendeine Bestätigung, dass das alles bloß ein Scherz war. Aber die Augen, die gestern noch hell und freundlich gewesen waren, waren jetzt kalt und tot und undurchdringlich.
„Angesichts der Schwere Ihres Vergehens“, begann sein Chef und machte dabei einen kleinen Schritt auf Klinger zu, „bleibt mir nichts anderes übrig als Sie zum Tod zu verurteilen.“
Klinger saß einfach da und starrte sein Gegenüber fassungslos an.
„Sie haben meine Ehe entehrt“, sprach sein Chef weiter. „Sie haben mit meiner Frau die Nacht verbracht und damit meine Ehre mit Füßen getreten, und die einzige Möglichkeit für mich, diese wieder herzustellen, ist, Sie zu töten.“
Klinger schüttelte ungläubig seinen Kopf.
„Ich habe Ihre was – ?“, fragte er langsam. Dann deutete er auf die noch immer schweigend dastehende Tanja: „Aber sie wollte doch, dass ich ihr helfe – sie hat mich doch zu sich hier in die Wohnung eingeladen. Sie hat mir zu trinken angeboten, sie hat mich verführt.“
Seine Stimme war immer lauter geworden, und Klinger zitterte jetzt am ganzen Körper.
„Meine Frau kann nichts dafür“, sagte sein Chef, „es war alleine Ihr Wunsch, die Nacht mit ihr zu verbringen.“
„Mein Wunsch?“, fragte Klinger stirnrunzelnd.
„Es war ihr dritter Wunsch von gestern“, sagte sein Chef. „Sie hatten gestern drei Wünsche frei, und alle drei Wünsche sind in Erfüllung gegangen. Und der dritte Wunsch war, die Nacht mit meiner Frau zu verbringen. Erinnern Sie sich nicht mehr daran?“
„Aber …“, stammelte Klinger, „das war doch nur – “
„Genug jetzt“, schnitt sein Chef ihm das Wort ab, „genug mit dem Geflenne. Das alles hat jetzt keinen Sinn mehr, Sie haben Ihr Leben verwirkt.“
Damit zog sein Chef den an seiner Seite hängenden Säbel, hob diesen mit einer raschen Handbewegung über seine linke Schulter und hieb Klinger mit einem einzigen, raschen, ohne Zögern geführten Schlag den Kopf vom Leib. Der kopflose Körper, den noch ein kurzes Zucken durchlief, sank langsam nach hinten in den Sessel und fiel dann, wie im Zeitlupentempo, auf den verfliesten Küchenboden.
Tanja drehte sich zu ihrem Mann, der – den blutverschmierten Säbel schräg nach unten gerichtet – wie versteinert dastand. Sie sah ihn einige Augenblicke lang an, dann ging sie zu der Kaffeemaschine, um diese abzudrehen.
Draußen hatte es zu schneien begonnen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.01.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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