Georg Scherer

Tears

Es gibt Geschichten, die erzählt man einfach, um sein Publikum bei Laune zu halten. Es gibt Geschichten, die erzählt man, um eine Botschaft zu vermitteln. Und es gibt Geschichten, die erzählt man, weil man sie nicht mehr für sich behalten kann. Diese ist keine davon, und doch alle zugleich.
 
Teile davon sind wahr, andere hingegen sind es nicht. Ich werde nicht vorher ankündigen, welcher Teil wahr ist und welcher nicht, weil dies zum Einen meine persönlichen Erinnerungen sind und es zum Anderen jedenfalls für mich zum Teil den Reiz der Geschichte ausmacht, zu überlegen was davon wirklich einmal genauso passiert sein könnte.
 
Aus diesem Grund bitte ich darum, mich als einen Geschichtenerzähler zu sehen, der seine mehr oder weniger interessante Erzählung in einer Bar oder ähnlichem zum Besten gibt, seiner Ankündigung nach ist natürlich alles genauso passiert, aber in welcher Geschichte, egal welcher, ist dies schon der Fall? Warum dieses Szenario, wo ich doch genauso mit dieser Situation hätte beginnen können? Nun ja, weil diese Geschichte wie gesagt teilweise wahr ist, meine Erinnerung und nicht die einer Person in der Geschichte ist. Hört zu oder lest meine Worte, ich kann nicht mehr tun als hoffen, dass man ihr mich versteht. Wenn nicht, dann habe ich es immerhin geschafft euch bis zu dem Punkt zu unterhalten, an dem ihr aufgegeben habt, oder nicht?
 
Das größte Problem, bei einer Geschichte, die immerhin in den Grundzügen der Wahrheit entspricht, ist immer der Anfang. Im Prinzip müsste ich, um alles verständlich zu machen, bei meiner Geburt anfangen, schließlich macht man dort die ersten Erfahrungen auf dieser Welt, oder? Alles ist einem selbst irgendwie wichtig, aber es würde langweilig werden.
 
Also, wo soll ich anfangen? Ich habe noch nicht einmal verraten, worum es eigentlich geht, vielleicht wäre dies ein guter Anfang. Vielleicht raubt es jedoch auch die Entwicklung der Erzählung, weil es schon etwas vorweg nimmt. Ich beginne einfach damit, dass ich in einer Bar sitze.
 
Der Ort spielt keine Rolle, genauso wenig mein Alter. Meine Handlungen und Gedanken sind an keine Zahl gebunden, die auf einem Blatt Papier steht, nur eins ist wichtig: Ich fühle mich, als wäre es gestern gewesen. Doch damit genug der Ankündigungen. Ich will schließlich eine Geschichte erzählen und nicht mein langweiliges Leben hier ausbreiten.
 
*****
 
Es ist spät, die Bar lehrt sich. Schon den ganzen Abend spielt eine Zwei-Mann-Band auf einer behelfsmäßigen Bühne, mit jedem neuen Lied sieht man ihnen an, wie sehr der anfängliche Schwung bereits an Durchschlagskraft verloren hat. Spielen sie nun wirklich schon dasselbe Lied zum fünften Mal, oder kommt es nur mir so vor? In Gedanken über alles Mögliche versunken sitze ich auf meinem Stuhl und trinke nun bereits schon mein viertes Bier.
 
Ich habe kein Zuhause, in dem jemand auf mich wartet, noch nicht einmal einen Ort, an dem ich mich wohlfühle. Tagsüber geht es zur Arbeit, am Abend versuche ich die Zeit totzuschlagen bis ich müde genug bin, um schlafen zu können.  Was kann man tun, wenn man keine Perspektive mehr hat, kein Ziel, für das es sich lohnt zu arbeiten? Natürlich, ich könnte mich mehr anstrengen, die Karriereleiter hochklettern, aber für was? Dafür, dass ich danach im Anzug statt im T-Shirt an der Bar sitze und Bier trinke?
 
Etwas tippt mir auf die Schulter, erschrocken drehe ich mich um. Eine wunderschöne Frau steht vor mir, in meinem Alter, aber irgendwie gehört sie nicht hierhin. Trotzdem habe ich das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben, vor langer Zeit... Sie scheint den ganzen Raum wie die Sonne zu erhellen, doch weil sich niemand sonst zu ihr dreht weiß ich, dass nur ich es sehen kann.
 
Wie soll ich sie beschreiben, so dass man sie sich vorstellen kann? Ich könnte sagen, sie hatte glatte, bis knapp über die Schulter reichende kupferbraune Haare. Doch dann würde man sich eine Frau vorstellen, die ebenso wenig mit ihr gemeinsam hat, wie ein Terrier mit einem Pudel. Sie hatte das schönste Lächeln dieser Welt, aber auch dieses kann man sich erst vorstellen, wenn man sie gesehen hat.
 
Sie ist nicht wie die Anderen, sie sticht aus der Menge heraus, wie das einzige schwarze Schaf der Herde. Sie ist aber nicht das schwarze Schaf, sondern jemand, bei dem ich mich nicht traue, ihre Ausstrahlung durch meine ungenügenden Versuche der Beschreibung herabzusetzen. Sie war anders als die Anderen, das muss als Beschreibung genügen. Bis heute weiß ich jedoch nicht, warum ich scheinbar der Einzige bin, der sie so sieht.
 
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich sie ansehe, völlig regungslos. Ihr Blick ist wie der einer Medusa, lässt mich scheinbar ewig versteinert zurück. Sie gibt mir Zeit darüber nachzudenken, wo ich sie schon einmal gesehen habe und darüber, warum sie sich nicht in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Langsam taucht eine Erinnerung in meinen Gedanken auf: Vor einem knappen Jahr, es war genau wie jetzt Winter, habe ich nach der Arbeit einen flüchtigen Bekannten ein paar Kilometer mitgenommen, weil sein Auto gerade in der Werkstatt war. Er hatte verzweifelt bei mir geklingelt und weil ich sowieso zur Arbeit musste, habe ich ihn für eine Flasche Bier am nächsten Abend mitgenommen.
 
Er wurde von ihr empfangen, mehr als ein flüchtiges „Hallo“ war jedoch nicht drin gewesen. Die Art, wie sie meinen Bekannten angesehen hatte, sagte bereits alles über eine definitiv sehr intime Beziehung aus, ich wollte sie auf keinen Fall weiter stören. Also habe ich mich so schnell es ging wieder auf den Weg gemacht, bevor ich unfreiwilliger Zeuge der genauen Art ihrer Beziehung wurde.
 
Wir hatten soweit ich mich erinnern kann nicht einmal unsere Namen ausgetauscht, trotzdem beschäftigte mich dieses Ereignis noch Wochen danach. Irgendetwas war an ihr gewesen, was ich nicht zuordnen konnte, aber sie war bereits vergeben, also gab es keinen Grund, sich irgendwelche Hoffnungen zu machen. So wurde die Erinnerung an sie langsam, aber unaufhaltsam immer schwächer, bis ich sie schließlich vergessen hatte.  Erst jetzt, als sie Angesicht zu Angesicht vor mir stand, kam die Erinnerung zurück.
 
Sie sagt etwas, ich verstehe nicht ein Wort. Trotzdem antworte ich mit einem wie paralysiert wirkendem Nicken, woraufhin sie mich mit einem aufforderndem Blick zum Aufstehen zwingt. Dem kritisch blickenden Wirt lege ich einen Schein auf die Theke und sie zieht mich an einer Hand hinaus aus der Bar. Sie sieht mich erstaunt an, doch ich kann mir nicht vorstellen warum. Erst die frische Luft, es ist mittlerweile Nacht geworden, bringt meinen Verstand wieder zum Laufen.
 
„Danke, dass du mich begleitest. Ich weiß, dass wir uns kaum kennen, aber ich habe niemanden...“
Ihre Stimme ist klar, aber schwach. In meiner Erinnerung lacht sie, ehrlich und glücklich. Etwas hat sie verändert, im Nachhinein scheint selbst das Lächeln, welches sie mir in der Bar zugeworfen hat, schwerfällig und gezwungen. Ihr Gesicht ist wie ein Gemälde: Wunderschön, aber vollkommen ohne Regung.
 
„Was ist mit Robert? Ihr wart so vertraut...“
Ich weiß, wie sehr sie meine Frage verletzt, doch jetzt ist es für Vorwürfe zu spät. Demnächst werde ich besser aufpassen, ich will sie aus einem Grund, den ich mir nicht erklären kann, beschützen. Egal was passiert ist, es war definitiv Zufall, dass sie mich ausgewählt hat, um sie zu begleiten, ich weiß noch nicht einmal wohin. Sie läuft einfach in irgendeine Richtung und ich folge ihr.
 
Bei ihrer Antwort merke ich ihrer Stimme an, wie schwer es ihr fällt, nicht zu weinen. Ich unternehme nichts und höre einfach nur zu.
„Ach Robert, das ist mittlerweile schon ein ganzes Jahr her, oder? Ich erzähle besser nichts von Liam, Martin, Iryus, Philipp... Weißt du wie schwer es ist, auf der Suche nach dem eigenen Glück immer mehr zu verlieren? Wahrscheinlich liegt es an mir, aber keine dieser Beziehungen hat länger als einen Monat gehalten. Die Gründe dafür scheinen unterschiedlich, aber letztendlich laufen sie auf das gleiche hinaus: Soviel mir alle geboten haben, tief im Herzen wusste ich bei allen von Anfang an, dass sie nicht die Richtigen sind. Und mit jedem weiteren ist ein Stück von mir mitgegangen, nun ist beinahe nichts mehr übrig...“
 
Ich frage nicht, warum sie mir das erzählt, obwohl ich ihr nach wie vor anhöre, wie schwer es ihr fällt, darüber zu sprechen. Sie spricht deutlich und klar, aber mit jedem ihrer Atemzüge scheint sie eine Bleikugel mit sich zu ziehen, mit jedem einzelnen Satz scheint sie unter der Last ihrer Worte ein wenig kleiner zu werden. Trotzdem wundere ich mich noch nicht einmal, warum sie es erzählt, es scheint seltsam passend.
 
Ein paar Minuten gehen wir beide einfach nur nebeneinander her und schweigen. Es ist kein unangenehmes Schweigen, sondern eines,  welches mehr aussagt, als alle Worte der Welt. Ich weiß nicht, wie es man es aufgefasst hätte, wenn uns jemand begegnet wäre. Ich kannte immer noch nicht ihren Namen, aber in wenigen Minuten hatten wir die Nähe des Anderen akzeptiert. Wir halten nicht unsere Hände oder Ähnliches, sondern waren einfach nur füreinander da und laufen. Wohin, weiß keiner mehr von uns.
 
„Ich hasse es, wenn Männer mir Rosen schenken“, sagt sie plötzlich.
Ganz leise nur, vielleicht hat sie vergessen, dass ich noch da bin. Als sie mich jedoch ansieht, weiß ich, dass sie es nicht vergessen hat und eine Antwort erwartet. Wahrscheinlich hätte ich fragen sollen, woher oder warum sie scheinbar zusammenhanglos dieses Thema anschnitt, doch ich nickte nur und lasse eine halbe Minute verstreichen.
„Was sollen sie denn sonst tun, um dir zu zeigen, dass sie dich mögen?“
 
Sie zuckt mit den Schultern.
„Ist das nicht ihre Aufgabe, das herauszufinden? Würdest du dich wertgeschätzt fühlen, wenn du von dem x-ten Mann einen Strauß Rosen geschenkt bekommst? Zeigt es nicht, dass ich ihnen im Grunde egal bin?“
„Nein.“
Diesmal antwortete ich ohne Pause, falle ihr beinahe ins Wort.  Ich bin selbst überrascht über meine direkte Erwiderung.
 
„Rosen sind teuer, sie wollen dir zeigen, dass du es ihnen wert bist. Sie schenken dir Rosen, weil sie dir zeigen wollen, dass du ihnen nicht egal bist.“
„Und dennoch ist es genau das, was man jedem schenkt.“
Ihre Worte waren endgültig und ließen keinen Widerspruch zu. Ich musste natürlich meine Position verteidigen, aber in der Seele verstand ich sie. Rosen waren gut für eine flüchtige Bekanntschaft, aber die wahre Liebe sollte etwas Besonderes sein.
„Ich werde es mir merken“, beendete ich das Thema leise für mich.
 
Zufall oder nicht, wir waren unbewusst in Richtung des Stadtparks gelaufen, der in der Dunkelheit eine bedrohliche Stille verbreitete. Sie hatte sich davon jedoch nicht abschrecken lassen und sich auf eine Bank, neben einem kleinen Brunnen gesetzt, der im Winter jedoch kein Wasser führt.  Wie selbstverständlich setze ich mich neben sie, jedoch in gesellschaftsfähigem Abstand. Wie gerne hätte ich sie umarmt, um ihr Wärme und Geborgenheit zu schenken, doch wie würde sie dies auffassen?
 
Genau in diesem Moment taucht hinter einem der  Wolken am Himmel der Mond auf. Gestern war Vollmond gewesen, so verbreitet er ein helles, weißes Licht, welches ihr Gesicht beinahe glänzen lässt. Wie eine Perle im See oder eine Sternschnuppe am Himmel sieht sie nun aus. Um sich vor der Kälte zu schützen, hat sie die Beine angezogen und ihre Arme darum geschlungen, ich kann mir nicht anders helfen, als sie mit einem Mädchen vergleichen, vielleicht zwölf Jahre alt, vielleicht aber auch schon älter. Ich weiß nicht, wie Mädchen in diesem Alter sind, damals war ich genauso alleine gewesen wie in diesem Moment.
 
Sie sieht aus wie ein echter Engel, doch ich sage nichts. Soll ich ihr sagen, dass ihr Anblick mich an in dieser Winternacht wärmt? Soll ich ihr sagen, wie wunderschön sie ist? Ihr sagen, wie gerne ich meine Wärme mit ihr teilen würde? Ihr sagen, wie viel ich dafür geben würde, noch einige Stunden, Tage mit ihr zu verbringen? Doch ich kenne nicht die richtigen Worte, ich lege mir hunderte unbeholfene Versuche im Kopf zurecht, nur um sie wieder zu verwerfen. Nein, ich kann es ihr nicht sagen, ich würde es riskieren müssen, dass sie danach geht. Für immer. Verletzt und noch ein wenig einsamer wie zuvor. Also schweige ich.
 
Wir sitzen mindestens eine Stunde auf der Bank, ohne, dass sich jemand bewegt. Sie blickt in die Dunkelheit, als würde dort ein interessanter Film laufen. Ich weiß, was die meisten Anderen in meiner Situation getan hätten. Sie hätten sie ausgiebig betrachtet, Wetten mit sich selbst auf ihre Körbchengröße abgeschlossen und versucht, die Gelegenheit ihrer an sich gezogenen Beine genutzt, um vielleicht einen Blick unter ihren Rock erhaschen zu können. Ob es mir nun jemand glaubt oder nicht, aber ich tat nichts davon. Eine ganze Stunde lang starre ich auf ihr Gesicht, jede einzelne Bewegung eines Muskels ist störend. Ab und zu verschwindet der Mond hinter einer Wolke, dann warte ich darauf, dass er wieder hervorkommt. Dann betrachte ich sie weiter, als wäre sie eine lebende Göttin.
 
Ich sitze da, erstarrt wie jeder Mann, wenn er mit einer Frau zusammen ist, die ihm etwas bedeutet. Oder jedenfalls mir ist immer so gegangen. Vielleicht ist auch das der Grund, warum es scheinbar endlos lange gedauert hat, bis diese Starre einmal gelöst wurde. Vielleicht aber habe ich nur etwas länger als andere gewartet, um mir sicher sein zu können.
 
Liebe hat viele Formen, mittlerweile habe ich gelernt, dieses Wort zu hassen.  Es wird viel zu oft und viel zu schnell verwendet, sodass man dabei völlig vergisst, wofür es eigentlich stehen sollte. Viele würden mir auch heute noch widersprechen, wenn ich sage, dass Liebe nicht davon handelt, dass man mit jemand anderem ein Bett teilt. Und auch nicht davon, dass man völlig blind für alles Andere über die Straßen läuft, unzählige Küsse austauscht und meint, die Welt würde nur einem selbst gehören, schließlich ist man gerade glücklicher als je zuvor.
 
Nein, sie handelt vielmehr davon, wie sich zwei Menschen grenzenloses Vertrauen schenken, bereit sind, das Leben an sich miteinander zu teilen, besonders die schlechten Tage. Liebe ist das, was Eltern ihren Kindern gegenüber empfinden sollten, das was ein Bauer mit seiner Frau teilt. Sie haben vielleicht nicht die Möglichkeit, sich die Welt zu Füßen zu legen, aber das brauchen sie nicht. Sie teilen zwar dasselbe Bett, aber für ihre Beziehung ist es kein Grundstein, nach Möglichkeit in jeder freien Minute miteinander zu schlafen, ihre Gefühle brauchen keine immerwährende Bestätigung. Sie lieben sich, weil sie das Leben mit dem anderen teilen, nicht nur Auszüge davon.  Liebe ist, wenn man sich gegenseitig Kraft, Vertrauen und Durchhaltevermögen schenkt.
 
Auch dies gehört zu den Dingen, an die wohl die wenigsten Menschen denken, wenn sie neben der möglichen Liebe ihres Lebens sitzen. Es werden mir auch nur die wenigsten glauben, wenn ich  nun behaupte, dass ich dennoch dazu gehöre. Aber ich für mich weiß, dass es die Wahrheit ist und – sie weiß es auch.  
 
Sie – Hatte ich ihren Namen wirklich niemals erfahren? Hatte sie sich nicht doch vorgestellt, als wir uns vor einem Jahr kurz getroffen hatten? Sie wusste meinen, aber ich kann mich an Ihren nicht erinnern. Soll ich sie danach fragen? Doch ich traue mich nicht, die nun schon über eine Stunde andauernde Stille zu durchbrechen. Ich traue mich nicht, ihr eine Frage zu stellen, auf die sie mir die Antwort vielleicht schon lange gegeben hat. Sie soll einfach weiter in meiner Nähe bleiben, mehr brauche ich nicht.
 
Ich weiß nicht, ob mir meine Gedanken ins Gesicht geschrieben standen oder nicht, jedenfalls hat sie zum ersten Mal an diesem Abend ein Lächeln auf den Lippen, als sie mich ansieht. Ein bitteres zwar, welches von Leid und Schmerz erzählt, aber es ist immerhin ein Lächeln. Beinahe will ich ihr sagen, wie schön sie damit aussieht, doch ich finde wieder nur die falschen Worte. Es gibt keine richtigen Worte.
 
Das Lächeln zersplittert wie ein Spiegel, als sie auf einmal ihren Mund zu Worten formt, die sie niemals hatte aussprechen wollen. Woher ich das weiß? Das tue ich nicht, aber ich fühle es.
„Hier sitze ich nun, in der kalten Nacht, allein. Natürlich, du bist da, ich meine mein Herz... Ich habe Fehler gemacht, die man niemals wieder gut machen kann, Andere mehr verletzt, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ich fühle mich wie eine Mörderin...eine Mörderin der Seelen.“
 
Sie spricht von ihren unzähligen Beziehungen, über die sie heute schon einmal ein paar Sätze verloren hatte. Ihre Stimme scheint wie die Schaumkrone auf einer Welle im Ozean zu gleiten, völlig synchron mit ihrer Umgebung. Ich stelle mir einen Vogel vor, der durch die Lüfte fliegt, leicht und unbeschwert. Doch ich weiß, dass dies ein Wunschdenken ist. Der Vogel wird von etwas gejagt, es sieht leicht aus, doch er fliegt so schnell er kann. Der Wille zu entkommen schwindet, doch er fliegt weiter, mit letzter Kraft.
 
Ich habe es nicht gemerkt, aber zu irgendeinem Zeitpunkt muss sie näher zu mir gekommen sein, ich  meine mich erinnern zu können, dass ich mich am Anfang etwas mehr als eine Armlänge entfernt von ihr hingesetzt habe. Nun trenn uns nur noch eine Handbreit.  Wahrscheinlich hätte ich es auch in diesem Moment noch nicht gemerkt, wenn sie sich nicht langsam zu mir gebeugt hätte, als hätte sie keinen Halt mehr und würde durch eine Windböe zur Seite kippen.
 
Wie ferngesteuert schließe ich meine Arme um ihren in Zeitlupe fallenden Körper und ziehe sie an meine Brust. Sie scheint keine Reaktion zu zeigen, doch irgendwoher weiß ich, dass es ihr gut tut. Ich bin mir sicher, dass ich mir nicht nur einbilde, wie sehr sie mich in diesem Moment braucht. Ich beschütze sie mit allem, was ich habe.
 
*****
 
Eine Frau in den Armen halten zu dürfen ist wunderschön, besonders wenn sie Schutz sucht, vor sich selbst und vor der Welt um sie herum. Für diese Zeit ist man für sie das Einzige auf der Welt existierende, ihr Hüter. Versteht mich nicht falsch, ich finde keinen Gefallen daran, wenn sie traurig und seelisch schwach ist. Wenn ich die Möglichkeit bekomme, sie in diesem Moment in meinen Armen halten zu können, spüre ich ihren Schmerz als wäre es mein eigener. Es wird sogar noch deutlich schlimmer, sollten sie und ich ein Paar sein, oder ich sie immerhin lieben.
 
Jemanden lieben und Liebe von dieser Person empfangen könnte unterschiedlicher nicht sein. Unerfüllte Gefühle sind ein anderes Thema, aber wenn man die Chance bekommt, derjenige zu sein, der in Ihren schwachen Momenten ihr Beschützer ist, ist es beinahe dasselbe wie eine erfüllte Liebe ,nur noch ein wenig intensiver.  In Märchen werden die Prinzessinnen und schönen Frauen immer gerettet, ausnahmslos von einem mutigen Prinzen. Aber die reale Welt sieht anders aus.
 
Dort werden sie oft für immer alleine gelassen, obwohl sie eine Rettung nötiger als alles Andere hätten. Dort wehren sie sich oft mit aller Kraft dagegen, gerettet und beschützt zu werden, auch wenn sie tief in ihrem Herzen wissen, dass sich dadurch nichts lösen wird. Ich kann davon erzählen, weil sich Männer und Frauen in ihren schwachen Momenten ähnlicher sind, als sie es jemals zugeben würden. Das äußere Bild mag ein anderes sein, aber in der Seele fühlen beide denselben Schmerz, brauchen beide jemanden, der sie rettet.
 
Insofern ist der Grund, warum es wunderschön ist zusammen mit einer in diesem Moment schwachen Frau zu sein kommt nicht etwa daher, dass ich mich darüber freuen würde, dass sie traurig ist. Ich freue mich darüber, bei ihr sein zu können, den Schmerz mit ihr teilen zu dürfen und ihren vielleicht ein wenig zu lindern. Die Vorstellung, sie alleine lassen zu müssen, ihrem Leiden nur zusehen zu können, ist unerträglich. Es ist gleichzusetzten mit einem Schlag ins Gesicht, nur dass die eigene Seele dabei in Flammen aufzugehen scheint.
 
Bei ihr sein zu können, wenn sie mich wirklich braucht, der Auserwählte zu sein, ihr den Schmerz abnehmen zu dürfen, sie dann in meinen Armen halten zu dürfen ist bei weitem die intensivste und nachhaltigste Verbindung, die ein Mann und eine Frau eingehen kann. Natürlich ist es mit nichts aufzuwiegen, mit der Geliebten ein Bett teilen zu dürfen, aber letztendlich ist es nur die Bestätigung der Liebe. Man teilt Alles miteinander was man geben kann. Aber eines kann man erst miteinander teilen, wenn man sich wirklich vertraut, bereit ist, auch die verletzliche eigene Seele, bei der man nichts mehr verstellen kann, dem Partner restlos offen zu legen: Die Schwächen, von denen jeder von uns mehr besitzt, als er es sich selbst eingestehen würde.  
 
Vielleicht ist der Grund dafür, dass Worte niemals die Schönheit von wahrer Liebe beschreiben können. Vielleicht ist der Grund dafür, dass starke Gefühle und Emotionen etwas Einzigartiges sind, gemacht für die Ewigkeit, Worte hingegen immer wieder beliebig zusammen gesetzt werden, als wären sie nichts weiter als Bauklötze, mit denen man als Kind so oft gespielt hat. Vielleicht ist der Grund  dafür etwas vollkommen Anderes.
 
Ich weiß nur, dass ich es erlebt habe.
 
*****
 
Sie scheint nicht zu wissen, dass ich überhaupt da bin, mit feuchten Augen starrt sie wie verloren in die Dunkelheit. Wie in Zeitlupe sinkt ihr Kopf auf meine Schulter, sodass ich sie nicht mehr beobachten kann, dafür spüre ich nun ihren schwachen Atem an meiner Brust.
 
Sie legt ihr Kinn auf meiner Schulter ab, ich spüre ihr Gewicht auf meiner rechten Seite, als würde sich ein wilder, scheuer Vogel auf meine Schulter setzten. So, als wüsste er nicht, dass es sich um eine Schulter handelt, sondern mehr wie auf einer Tischkante, oder dem oberen Ende einer Bank. Ihre Nackenmuskeln sind verkrampft, die Adern am Hals treten leicht hervor. Erst, als sie das gesamte Gewicht ihres Kopfes abgelegt hat, entspannt sie sich langsam. Noch immer bin ich mir nicht sicher, ob ihr meine Anwesenheit bewusst ist.
 
Ich kann es  nicht sehen, aber ich fühle, dass sie weiterhin die Nacht beobachtet, der Mond glänzt in ihren Augen und gibt ihnen etwas Magisches.  Auf einmal spüre ich ihre Hände an meinem Rücken, sie streichen die Wirbelsäule nach oben und bleiben schließlich am Halsansatz stehen.  Sie verschränkt ihr Finger für einen Moment, löst sie dann jedoch wieder und überkreuzt ihre Hände, hinter mir. Sie fährt weiter nach außen, bis ihre Unterarme kurz unterhalb meines Nackens verschränkt sind, ich habe nun keine Möglichkeit mehr sie loszulassen.
 
Ihr Atem ist weiterhin schwach, ihre Umarmung kraftlos, aber ich weiß, dass ich sie niemals würde lösen können. Obwohl sich äußerlich nichts verändert hatte, spüre ich das Schlagen ihres Herzens deutlicher wie nie zuvor, jedoch auch die Anstrengung, die sie jeder weitere Atemzug kostet. In einem Film würde man sie nun röcheln hören, sie würde leise Stöhnen und die Augen mit der ihr verbliebenen Kraft geschlossen halten, um sich nicht selbst sehen zu müssen.
 
Doch dies ist kein Film, sie stöhnt weder leise, noch kann man ihre Atemzüge hören. Ich sehe nicht, ob sie die Augen geschlossen hat, aber in meiner Vorstellung schimmern ihre Augen weiterhin im Schein der Nacht. Ich drücke sie an mich, um ihr Schutz zu geben, ihr zu zeigen, dass ich bei ihr bin. Sie nimmt mein Geschenk an und sinkt in meiner Umarmung etwas tiefer, ich bin der Einzige, der sie davon abhält in sich zusammenzufallen.
 
Meine Arme sind das Einzige, was sie noch daran erinnert auf der Welt zu sein, sie fühlt meine Anwesenheit, spürt, dass ich in ihrer Nähe bin. Wenn sie mir erzählt hätte, was sie im letzten Jahr, in den letzten Tagen erlebt hat, würde ich ihr nun mit geflüsterten Worten gut gemeinte Ratschläge erteilen, so wie ich es immer getan habe. Ich war stets der Meinung gewesen, dass diese helfen würden, doch nun wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie falsch ich damit gelegen hatte.
 
Schmerz durchzuckt meine Glieder, meine eigenen Atemzüge werden so schwer, als würde ein tonnenschweres Gewicht auf meiner Brust ruhen. Ohne es beeinflussen zu wollen oder anfangs den Grund dafür zu kennen wird mein Herzschlag unregelmäßig, immer wieder scheint mein Körper durch zu viel Druck auf mein Herz explodieren zu wollen, nur um kurz darauf wieder kraftlos zusammenzusinken.  
 
Es dauert einen Moment bis ich registriere, dass sie weint. Ihr leises Schluchzen wird beinahe vom Wind übertönt, ihre Tränen laufen langsam über ihr Gesicht, bis sie mich erreichen. Jetzt weiß ich, woher der plötzliche Schmerz kommt: Es ist ihrer, ich bin dazu auserkoren, ihn mit ihr zu teilen. Für immer.
 
*****
 
Eine Frau in Tränen ist das Wertvollste der Welt, aber nur, wenn man jede einzelne Träne von ihr spürt, als wären es die eigenen, als wären es Tropfen aus reinem Feuer, die sich ihren Weg durch das eigene Herz brennen. Eine Umarmung sagt mehr als millionen Worte, sie wissen zu lassen, dass man ihren Schmerz spürt, bereit ist, ihn abzunehmen, ist das, was man im Volksmund wohl Magie nennen würde. .
 
Habt Ihr jemals darüber nachgedacht, warum die Tränen eines Drachen hunderte von alten Geschichten und Heldensagen wert sind? Obwohl ein Drache niemals etwas anderes war, als die mächtigsten Wesen der Welt, mit tausenden von gelebten Jahren, stark genug, um ein Erdbeben auszulösen, weiser als alles Könige dieser Welt zusammen? Niemand würde es wagen, sich die Stärke eines Drachen anzumaßen und dennoch gibt es Erzählungen darüber, wie die Tränen eines Drachen aussehen.  
 
Die Auswirkungen einer Drachenträne sind so unterschiedlich wie die Farben des Regenbogens. Der Grund für die vielen Geschichten über diese ist hingegen fast immer gleich: Es macht keinen Unterschied, wie stark oder weise man ist, eine einzelne vergossene Träne kann magisch sein. Nicht, wie dies die Magie eines Drachen ist,  mit der er riesige Lichtstrahlen erzeugt und Feuer speit, sondern wie ein Blick der Geliebten die Welt verändern kann.   
 
Aus demselben Grund werden die Tränen einer Frau, die man liebt, für immer schön sein. Nicht, weil sie leidet, sondern weil  man selbst ihren Schmerz lindern kann. Nur, wenn man selbst bereit ist stärkeren Schmerz als jemals zuvor zu erfahren wird sie fühlen, dass man bei ihr ist. Nur für sie.
 
*****
 
Ich spüre wie ihre Tränen von ihrem Kinn auf mein T-Shirt tropfen, ich fühle wie das Salz in ihren Tränen beginnt, eine dicke Kruste auf meinem Rücken zu bilden. Worüber sie weint weiß ich nicht, noch nicht einmal, warum sie sich ausgerechnet mich ausgesucht hat, um ihre Traurigkeit zu lindern. Wir kennen uns eigentlich kaum, doch in diesem Moment ist es uns beiden vollkommen egal.
 
Die Zeit vergeht oft schneller, als man es sich träumen lassen hat, genauso wie es Momente gibt, in der sie dahin kriecht, sich wie dickflüssiger Klebstoff an jeder Kante festzukrallen scheint, sich weigert, die Zeiger der Uhr sich weigern, noch ein Stück weiter zu rücken. Beides erlebt man immer wieder, eine Möglichkeit scheint nahezu immerwährend präsent, obwohl jedes Kind schon weiß, dass die Zeit stets gleich schnell vergeht.
 
Ich halte sie in meinen Armen und spüre die Zeit verrinnen. Nicht schneller, nicht langsamer, sondern genauso, wie es sein sollte. Natürlich wünsche ich mir, sie für immer bei mir halten zu können, doch die vergehende Zeit gibt mir das Gefühl, etwas zu bewirken. Ihre Tränen versiegen langsam, ich drücke sie weiter an mich. Bis ihr Atem wieder vollkommen gleichmäßig ist.
 
Sie hebt ihren Kopf ein wenig an, nur ganz leicht, sodass ich das Gewicht nur noch angedeutet an meiner Schulter spüre. Es ist das Zeichen, sie loszulassen, sie hat nun wieder genug Kraft, um sich selbst zu halten. Bereitwillig komme ich ihrem Wunsch nach, ich will sie nicht zurückhalten. Ihre Lippen bewegen sich, doch sie spricht zu leise, als dass ich sie verstehen könnte.
 
Sie schließt die Augen, ich sehe, dass sie sie mit Kraft zusammenpresst. Als sie ihre Augen wieder öffnet, ist ihr Gesichtsausdruck gefasst, aber ihre Lider sind von einem feuchten Schleier überzogen, der mir zeigt, dass sie weiterhin um ihre eigene Kraft kämpft. Ihr Blick ist verschleiert, sie scheint durch mich hindurch zu sehen. Der Mond ist hinter einer Wolke verschwunden und so wird sie für mich zu einem schwarzer Engel, gemacht für die Ewigkeit.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.01.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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