Irene Beddies

Wendel: Krank




Seit unser kleines Gespenst wieder allein in seinem Pappkarton wohnte, übernachtete es öfter einmal im Keller hinter dem Gurkenglas, weil es sich nach Paul sehnte, mit dem es viel Spaß hatte.
Eines Morgens hörte Wendel nicht Pauls Stimme, sondern die Stimme seiner Mutter, die nach ihm rief. Verwundert wachte er auf und schaute hinter dem Gurkenglas hervor.
„Bitte, kleines Gespenst, kannst du mit nach oben kommen, Paul ist sehr krank.“
Wendel war noch nie oben in der Wohnung gewesen. Er fürchtete sich, dass er dort in die Sonne kommen könnte. Deshalb fragte er: „Scheint auch nicht die Sonne durch die Fenster?“
„Warum willst du das wissen?“, fragte Pauls Mutter.
„Wenn Gespenster in die Sonne kommen, werden sie schwarz“ erklärte er.
„Aha, das wollen wir dir nicht antun. Aber sei unbesorgt. Wir gehen durch die Küche. Da kommt nie ein Sonnenstrahl hin, denn sie liegt nach Norden. Im Flur ist kein Fenster, da brennt nur eine Lampe. Paul soll im Dunkeln liegen, sagt der Arzt. In seinem Zimmer ist das Rollo herunter gelassen.“
Wendel folgte der Mutter die Treppe hinauf durch die Küche und den Flur in Pauls Zimmer.

Da lag der kleine Junge im Dämmerlicht im Bett. Er hatte einen dicken Schal um den Hals und war bis zum Kinn zugedeckt. Er sah kläglich aus. Seine Augen waren geschwollen, sein Gesicht hatte lauter rote Flecken.
„Mama, ich habe solchen Durst“, jammerte Paul, als er seine Mutter kommen hörte.
„Das macht das Fieber. Ich hole dir schnell Apfelsaft. Möchtest du auch etwas essen?“
„Nein, mein Hals tut zu weh.“
„Rate mal, wen ich dir mitgebracht habe.“ Ehe Paul sich mit Raten anstrengen musste, rief das kleine Gespenst leise „huhuuu“. Ein glückliches Lächeln huschte über Pauls Gesicht.
Als er seinen Apfelsaft getrunken hatte, fielen Paul die Augen zu. Wendel war natürlich ebenfalls müde und sehnte sich nach seinem Ruheplätzchen im Keller. Aber da er nicht wusste, wie er wieder in den Keller kommen sollte, legte er sich neben Paul auf das Kopfkissen und fiel ebenfalls in tiefen Schlaf.
Er merkte nicht, wie Pauls Mutter mehrmals kam, wie sie ihrem Sohn Fieber maß und ihn mit Milchbrei fütterte. Aber auch Paul und seine Mutter merkten nicht, wer da auf dem Kopfkissen lag, denn das kleine Gespenst hatte seine Augen geschlossen, so dass nichts Schwarzes zu sehen war auf dem weißen Kissenbezug.

Als die Mutter das Kopfkissen aufschütteln wollte, fiel Wendel auf den Teppich.
„O sieh mal, dein kleiner Freund hat hier neben dir geschlafen. Er ist nicht einmal aufgewacht, als ich das Kissen geschüttelt habe.“
„Kannst du ihn nicht aufheben und wieder in mein Bett legen?“
„Nein, Paul, das geht nicht. Wie soll ich ein Wesen aus Hauch und Schleier anfassen?“
„Dann  lass ihn auf dem Teppich liegen. Aber tritt nicht drauf und sag Papa Bescheid, er soll vorsichtig sein, wenn er reinkommt.“

Wendel schlief weiter bis zur Gespensterstunde. Paul schlief  ebenfalls ganz fest und ruhig. Sein Fieber war zurückgegangen. Er sah schon viel besser aus. Nur die roten Flecken im Gesicht waren nicht verschwunden.
Diesmal konnte Wendel aus dem Zimmer in den Keller zurück finden, denn die Mutter hatte vorsichtshalber alle Türen ein wenig offen gelassen. Schnell schlüpfte er durch das Kellerfenster und schwebte in den Wald, um der Eule von Pauls Krankheit zu erzählen.

© I. Beddies


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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