Marc Schmidt

Kein Feinschmecker

»Darf ich Ihnen ein Amuse-Gueule anbieten?«
Ich blicke zu dem gedeckten Tisch hinüber und sehe wie der Gefragte skeptisch die Augenbrauen hebt. Das Ausbleiben einer Antwort deutet der Kellner als Erklärungsbedarf: »Das ist Französisch und bedeutet frei übersetzt Gaumenfreude, ein kleiner Gruß aus der Küche, wenn Sie so wollen.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, stellt der Kellner mit dem blütenweißen Hemd einen kleinen Teller auf den Tisch. Drei staubkörnchengroße Häppchen verzieren ihn. Als der Mann am Tisch sie sieht, zucken seine Mundwinkel abschätzig. Er fühlt sich wohl verschaukelt, zumindest setzt er einen fragenden Blick auf. Bestimmt fragt er gleich, ob der Kellner unterwegs etwas verloren hat...
»Wir haben hier für Sie Seeteufelcanapés mit in Honig und Sherry eingelegten Feigen.«
Der Gesichtsausdruck des Mannes sieht mittlerweile derart komisch aus, dass ich mir ein Lächeln nicht länger verkneifen kann. Er wirkt von dieser Extravaganz überfordert.
Verloren wandern seine Hände über die weiße Tischdecke, suchen Halt und finden auf Hochglanz poliertes Silberbesteck. Ein argwöhnischer Blick fällt auf den Teller, die Nase wird verzogen. Eines der Häppchen findet den Weg in den Mund. Ich muss mich zur Wand umdrehen, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen. Es sieht einfach zu komisch aus. Der arme Mann wäre mit einem gut durchgebratenen Burger und Fritten wohl glücklicher, danach sieht er zumindest aus. Naja, er hat sich hierfür entschieden…
Zu seinem eigenen Überraschen schmeckt es ihm, zumindest stopft er sich in Windeseile die anderen beiden Happen in den Mund und schluckt ohne groß zu kauen. Prompt erscheint der Kellner und nimmt den Teller an sich.
»War es recht?«
Ein Grunzen lässt eine Bestätigung erahnen. Doch irgendwie sieht der arme Mann jetzt noch hungriger aus als zuvor. Erwartungsvoll blickt er zu dem Kellner auf. »Ich will mehr«, tönt seine kratzige Stimme mit Nachdruck.
Der Kellner, ein echter Profi, verzieht keine Miene und entfernt sich mit den Worten: »Wie Sie wünschen. Ich serviere Ihnen nun die Vorspeise.«
Der Mann am Tisch taxiert mich mit seinem Blick. Ich weiche ihm nicht aus. Zwei kleine blaue Murmeln starren mich an. Wässrige Wieselaugen. Er sieht ganz zahm aus, gar sanftmütig; auf irgendeine Weise verloren, aber an sich ganz umgänglich. Das Geräusch von Weineingießen lenkt unser beider Aufmerksamkeit auf den unermüdlichen Kellner.
Der nächste Teller steht bereit.
»Der Herr, als Vorspeise: Ricotta-Paprika-Terrine mit Tomaten-Vinaigrette und Rucolasalat.«
Ich bin mir sicher unser Speisender hat die Hälfte des Satzes nicht verstanden, aber mustert mit regem Interesse den wohlangerichteten Teller vor ihm. Erneut ist die Platte in Windeseile leer geputzt und der arme Mann sieht noch immer nicht wesentlich satter aus. Die blauen Murmeln liegen mit einem trüben Ausdruck in seinen Augenhöhlen. Er sieht ziemlich niedergeschlagen aus. Wohl noch immer hungrig.
Der Vorspeise folgt eine Lauch-Kartoffelsuppe mit Trüffelaroma und als Zwischengericht Gebratene Jakobsmuscheln mit Gänseleberschaum.
Das hat zur Folge, dass unser Mann am Tisch einen zufriedeneren und satteren Gesichtsausdruck auflegt. Bis auf den kleinsten Rest hat er brav jede für ihn bestimmt neuartige Speise aufgegessen und wartet nun, beinahe andächtig, mit zusammengefalteten Händen auf den nächsten Gang.
Von all dem Zusehen und Rumsitzen beginnt nun auch so langsam mein Magen zu knurren, aber ich bin nicht zum Essen hier, nur um meinen Job zu erledigen. Aber diese Köstlichkeiten hätte ich auch gerne verköstigt. Allein dieser irrsinnig verführerische Duft! Auch wenn ich an sich kein Feinschmecker bin, in diesem Moment beneide ich den Mann um sein Mahl.
Das Hauptgericht lässt auf sich warten, wohl damit der arme Mann wieder zu Atem kommen kann. Jetzt, wie er so dasitzt und ins Nichts stiert, wirkt er noch verlorener. Wie ein Gestrandeter, oder noch besser, ein Eingeborener, der sich unversehens an einer reich gedeckten Tafel wiederfindet. Sein Gesicht, bislang eine starre Maske, zuckt nun unmerklich als würde es aus einem tiefen Schlaf erwachen. Ich sehe es genau. Hätte mich auch gewundert, wenn das Essen ihn so kalt gelassen hätte...
Seine Nasenflügel beben leicht, während seine Mundwinkel flackern wie eine Kerze im Wind. Mit seinen Gedanken scheint er meilenweit entfernt zu sein. Die ausdruckslosen blauen Murmeln sind inzwischen zu Eis gefroren.
Auch ich meditiere vor mich hin, bin gespannt auf den nächsten Gang.
Die Tür schwingt auf. Der Kellner trägt das Hauptgericht herein.
Rehnüsschen mit Himbeerjus, dazu Rahmwirsing und Zwetschgenknödel.
Im Gegensatz zu den anderen Gängen, zögert der Mann am Tisch nun, wartet ab. Ich frage mich, ob er schon satt ist.
Also ich bin hungrig! HUNGRIG! Und neidisch auf dieses Mahl!
Doch er, er sitzt da und guckt trübe durch die aufsteigenden Dämpfe. Es riecht so gut, dass meine Magenwände aneinander scheppern wie zwei kollidierende Hochseetanker. Das Grummeln muss er bis zu sich herüber gehört haben.
Die Vorstellung, dass auf mich zu Hause lediglich irgendein Fertiggericht aus der Mikrowelle wartet, lässt meinen eifersüchtigen Magen nicht zur Ruhe kommen. In diesem Moment hasse ich diesen privilegierten Dreckskerl, der mir hier was vorkaut. Bastard…
Da er das Ende herauszögert und leblos sein Essen anstiert, reizt er meine beschäftigungslose Zunge: »Was ist los, Kumpel? Schon genug?«
Zwei blaue Murmeln, nun tränenbenetzt, werfen mir einen verschwommenen Blick zu, der mir sofort ein schlechtes Gewissen bereitet.
»Hey, hey, hey! Lass dir ruhig Zeit...«
Ach, denke ich mir, was hetzte ich das arme Schwein denn?
Also verfalle ich wieder in Schweigen und lasse ihn essen.
Er atmet einmal tief durch und zittert leicht. Auch ich kann es riechen und es riecht so verdammt gut. Er greift nach dem Besteck und beginnt zu schneiden. Kleine Stücke. Penibel. Die Gabel findet ein Fleischstück – es muss butterzart sein, zerfließt geradezu. Ich ringe den Impuls nieder, aufzuspringen, ihm das Essen aus der Hand zu reißen und es selbst zu verschlingen.
»Wenn ich du wäre, würde ich das Essen genießen...«, knurre ich ihm zu.
Mit traurigem Blick lässt er die Gabel sinken, greift stattdessen nach einer gefalteten Serviette und tupft sich den Mund ab. Nach tiefem Durchatmen schreitet er erneut zur Tat. Nun findet die Gabel seinen Mund.
Wie es wohl schmecken mag?
Er seufzt leicht auf. Ich hasse ihn noch mehr.
Er lässt sich Zeit, isst teilweise mit geschlossenen Augen und langen Kauphasen.
Der Kellner schenkt zwei Mal Wein nach. Wie ein Geist fliegt er durch die Tür, mit immer neuen Kostbarkeiten in den Händen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hat der Mann am Tisch die Hauptspeise aufgegessen. Der Teller vor ihm sieht unbenutzt aus, so gründlich hat er ihn gesäubert, sogar abgeleckt hat er ihn am Ende...
Der Kellner gönnt dem Mann eine weitere Verschnaufpause, in der ein Espresso und ein großes Wasserglas hereingetragen werden.
Wenig später wird die Nachspeise aufgetischt: Grappa-Traubengelee mit Vanillecreme.
Zu meinem Glück lassen mich Süßspeisen kalt, aber dieses Arrangement... Ich hätte es probiert. Durchaus...
Doch meine Hoffnung, er würde mir etwas anbieten oder gar etwas übrig lassen, verflüchtigt sich. Wieder leckt dieser Mann ohne Manieren den Teller ab. Schamlos.
Danach sehe ich ihn das erste Mal an diesem Abend lächeln. Er lehnt sich zurück. Zufrieden reibt er sich über sein mittlerweile prall gefülltes Bäuchlein. Mit der Serviette wischt er sich den Mund ab und lässt sie anschließend achtlos zu Boden fallen.
Er rückt seinen Stuhl nach hinten und steht in aller Seelenruhe auf.
Sofort spannen sich meine Muskeln an. Ich bin direkt in Alarmbereitschaft.
»So! Gut war’s. Ich wär dann so weit«, teilt er mir mit.
Die blauen Murmeln glitzern wieder. Schelmisch.
So sieht ein zufriedener Mann aus, denke ich mir, als ich ihm die Handschellen anlege und in die Todeszelle überführe. Meine Kollegen wurden bereits informiert und erwarten uns. Sie wirken ungeduldig. Das Essen hat sich für ihren Geschmack extrem gezogen. Ohne weitere Zeit zu vergeuden bereiten sie die Exekution vor. Muss ich mir nicht ansehen…
Ich wünsche ihnen einen schönen Abend und beende meinen Dienst für heute.
Also eins steht fest: Sollte ich jemals auf dem elektrischen Stuhl landen, meine Henkersmahlzeit würde ich mir so ähnlich zusammenstellen.
Doch bis dahin muss ich wohl bei Fertiggerichten bleiben...
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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