Stefan Kirschhöfer

Tränen

Es sollte unser schönster Tag werden. Seit einer Woche hielten wir unsere Abiturzeugnisse in den Händen und an diesem Abend fand der große Abiball in der Stadthalle statt.
Ich hatte noch genau vor Augen, wie Jule mir nach der Zeugnisausgabe um den Hals gefallen war. Endlich hatten wir es geschafft! Wochen und Monate des intensiven Lernens waren vorbei, wir hatten die Reifeprüfung bestanden. Ich musste zwar wenige Wochen später meinen Wehrdienst beginnen, aber für Jule begann erst mal eine freie Zeit. Noch dazu hatte sie ihren nötigen Numerus Clausus erreicht, um ihr Traumfach - Journalismus - studieren zu können. Sie hoffte nun noch darauf, einen dieser begehrten Plätze an der Universität zu bekommen. Ich selbst wusste noch nicht, was ich nach meinem Wehrdienst tun würde, aber es war ja noch Zeit genug, das zu entscheiden. Für Jule und mich war erst mal wichtig, dass wir es beide gemeinsam geschafft hatten. Wir waren beide total glücklich.
Seit knapp zweieinhalb Jahren waren wir zusammen.
Auf der Geburtstagsfete meines besten Freundes hatte es gefunkt. Martin wusste, dass ich auf sie stand, aber nicht den Mut hatte, auf sie zuzugehen und sie anzusprechen. Noch dazu war sie eine gute Freundin seiner Schwester, also hatte er einen Grund, sie einzuladen und uns auf einander loszulassen. Wir verstanden uns von Anfang an blendend und ich verlor meine Schüchternheit. Das Lied, bei dem wir zum ersten Mal miteinander tanzten, war "Maria", unser erster Kuss, der noch am selben Abend folgte, passierte bei dem Song "If You Want To Be Free" von Cat Stevens, den wir beide einfach klasse fanden. Der Song wurde auch unser gemeinsames Lieblingslied, fast jeden Tag, an dem wir zusammen waren, hörten wir es mindestens einmal.
Wir waren einfach total glücklich, und nichts konnte uns auseinander bringen. Sie war zwar in der 12. Klasse für ein halbes Jahr zum Schüleraustausch in Kanada und die sechs Monate waren für mich - ich glaube, auch für sie - verdammt hart, aber wir sind uns treu geblieben. Einmal pro Woche hatten wir kurz telefoniert, außerdem gechattet und uns Briefe geschrieben. Umso größer die Freude, als sie wiederkam - ich glaube, dieses halbe Jahr festigte unsere Liebe noch mehr. Keiner von uns wagte einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es ohne den anderen sein könnte. Ein paar Wochen vor dem Abitur hatten wir uns verlobt, wir hatten auch schon - vielleicht nicht unbedingt ernsthaft - Pläne für die Hochzeit geschmiedet. Denn wir waren fest davon überzeugt, dass uns nichts und niemand auseinander bringen würde.
Auch unsere Eltern standen voll hinter unserer Beziehung, verstanden sich auch untereinander ziemlich gut, was sicherlich auch daran lag, dass unser beider Mütter dem Vorstand der Schulpflegschaft angehörten und unsere Väter bei den Alten Herren des Fußballvereins spielten.
Am Abend vor dem Abiball war Jule bei mir gewesen und wir hatten zu zweit noch einmal unser Abitur gefeiert. Eigentlich wollte sie gegen Mitternacht nach Hause fahren, da wir aber beide Alkohol getrunken hatte, beschlossen wir, die Nacht gemeinsam bei mir zu verbringen. Gegen zwei Uhr machten wir das Licht aus und legten uns ins Bett - ich auf die Luftmatratze und sie in mein Bett. Wir redeten noch lange und nach einer Weile sagte sie, ihr sei kalt. Ich kroch also zu ihr unter die Decke und wir kuschelten uns aneinander. Ich weiß nicht, wie lange wir so lagen, redeten und uns zärtlich streichelten und uns wieder und wieder küssten, uns aufs neue unsere Liebe gestanden. Wir verbrachten eine wunderschöne Nacht gemeinsam, an die ich mich immer, mein ganzes Leben lang, erinnern werde. Es war die schönste Nacht, die ich bis dahin je erlebte.
Schließlich schlief sie in meinen Armen ein, wenig später übermannte auch mich die Müdigkeit. Mit einem Lächeln und ihrem Namen auf den Lippen schlief ich ein.
Am nächsten Morgen musste sie gleich nach dem Frühstück nach Hause, weil sie ihrer Mutter versprochen hatte, mittags mit ihr in die Stadt zum Einkaufen zu fahren. Mit einer Umarmung und einem intensiven Kuss verabschiedete ich mich von ihr, als sie ins Auto stieg. Sehnsüchtig sah ich dem Fahrzeug nach, bis es um die Ecke bog.

Den Nachmittag verbrachte ich mit der Vorbereitung auf den Abend. Ich war Sänger der Rock-AG und wir würden am Abend einige Nummern spielen, neben dem offiziellen Abilied auch ""If You Want To Be Free". Ich hatte die anderen überredet, dies Lied zu singen, weil es doch auch zum Abitur passte. Martin, der auch in der Rock-AG war und Schlagzeug spielte, hatte sich mir angeschlossen. Insgeheim wussten wir beide natürlich, dass ich dieses Lied ganz besonders für Jule singen wollte. Die Proben hatten das ganze zweite Halbjahr gedauert, ab März waren sie richtig intensiv geworden. Denn alles sollte perfekt klappen. Wir gingen an diesem Nachmittag alle Lieder noch einmal durch, und es klappte wunderbar.
Als ich wieder zu Hause war, war es Zeit, mich fertig zu machen. Auf das Abendessen verzichtete ich größtenteils, aß nur einen Joghurt, so aufgeregt war ich. Jule hatte mir ihr Kleid noch nicht gezeigt, es sollte eine Überraschung werden.
Um zwanzig Uhr sollte der Ball beginnen, eine Stunde vorher war ich zum Aufbauen da. Jule kam gegen halb Acht, als der Saal schon recht gut gefüllt war. Sie sah einfach traumhaft aus in ihrem roten Kleid, dass sie extra für diesen Abend gekauft hatte. Wir fielen uns in die Arme und hielten uns fest. Martin, der gerade am Klavier saß, spielte die ersten Takte des Hochzeitsmarsches, woraufhin einige laut zu lachen begannen. Ich drehte mich zu Martin um, aber er grinste nur breit. Ich sah Jule wieder an, und sie lächelte.
Etwas später war es dann soweit. Der Ball begann mit Ansprachen durch unseren Schulleiter, und Paul, unseren Stufensprecher, den wir alle nur "Imperator" nannten, weil er seit der 11. Klasse regelmäßig der einzige Kandidat für dieses Amt gewesen war und außerdem seit der Mittelstufe aktives Mitglied der Schülervertretung war.
Danach begann das Programm. Verschiedene Gruppen traten auf, einige Sketche wurden vorgeführt. Und zwischendurch spielten immer wieder wir von der Rock-AG. Zuerst stimmten wir das offizielle Abiturlied unseres Jahrgangs an, danach kam "Thank You" von Alannis Morissette, das von unserer Gastschülerin Kathryn, die für ein Jahr an unserer Schule war, gesungen wurde. Als Schlusspunkt des Programms folgte dann "unser" Lied. Bevor wir
begannen, sprach ich noch ein paar Worte. "Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, liebe Lehrer, liebe Freunde. Das nun folgende Lied passt auch zum Abitur, da wir ja alle nun in gewisser Weise frei sind. Gut, für einige beginnt bald der Wehrdienst, andere gehen studieren oder beginnen eine Ausbildung. Aber die Schulzeit, ein prägender Teil unseres Lebens, ist nun seit ein paar Tagen Geschichte. Und wir werden in die Freiheit des Lebens entlassen. Deshalb passt dieses Lied zu diesem Anlass. Es gibt aber noch einen zweiten Anlass, warum wir dieses Lied spielen. Einige von euch wissen, dass das Lied für mich eine besondere Bedeutung hat. Für mich... und für meine Jule. Seit einer gewissen Geburtstagfeier, auf der wir uns kennen lernten, ist dieses Lied ganz besonders ,unser Lied'. Ich hoffe, ihr verzeiht mir diese persönlichen Worte... Jule, mein Schatz, das folgende Lied ist ganz besonders für dich. Es soll dir aufs neue zeigen, wie sehr ich dich liebe... Nun folgt von Cat Stevens "If You Want To Be Free." Unter Applaus begannen wir zu spielen und Jule, die direkt an der Bühne stand, strahlte mich an." Ich sang das Lied mit sehr viel Ausdruck, ich glaube, es war besser als je bei einer Probe. Der ganze Saal klatschte im Rhythmus mit und mein Herz machte Freudensprünge. Nachdem das Lied zu Ende war, kam Jule auf die Bühne gestürmt und fiel mir in die Arme. Unter dem tobenden Jubel des ganzen Saales standen wir engumschlungen auf der Bühne. Wir beide konnten unsere Freudentränen kaum noch zurückhalten.
Nachdem der Jubel verebbt war, griff ich noch einmal nach dem Mikrofon. Ich hatte mir für den Abend nämlich noch etwas vorgenommen. Martin war außer mir der einzige, der etwas davon wusste. Ich kämpfte bereits mit den Tränen, und hatte Schwierigkeiten zu sprechen. "Mein Schatz", sagte ich, "in diesem Lied geht es um Freiheit, Freiheit, die auch wir beide gewonnen haben, dadurch dass wir dieses Schulziel erreicht haben." Ich musste eine kurze Pause machen. "Diese Freiheit mit dir zu erleben, ist das beste und schönste, dass ich mir vorstellen kann. Wir gehen jetzt seit zweieinhalb Jahren gemeinsam durchs Leben, haben viel durch gemacht, waren sogar ein halbes Jahr räumlich extrem voneinander getrennt. Doch die Zeit hat uns zusammengeschweißt. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen und will es auch gar nicht. Deshalb wollte ich dich, heute an diesem besonderen Abend und in diesem großen Kreis, fragen..." Wieder stockte mir die Stimme, die Tränen liefen mittlerweile ungehindert über mein Gesicht. Im Saal war es ruhig geworden. Ich sah Jule in die Augen und unsere Blicke trafen sich. Ich nahm mein Herz in beide Hände und presste die Worte heraus: "Willst du mich heiraten?" Im Saal wurde es totenstill. Jule sah mich an, stand mit offenem Mund vor mir, schlug die Hände vors Gesicht und drehte sich um.
Niemand sprach ein Wort. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Die Sekunden verstrichen, doch kamen sie mir wie Stunden vor. Dann drehte Jule sich wieder um, trat vor mich, nahm meine Hände, suchte meinen Blick und sagte laut und deutlich: "Ja, ich will!" Der ganze Saal brach in tobenden Jubel aus und Martin spielte am Schlagzeug einen lauten Wirbel. Noch minutenlang standen wir oben auf der Bühne, in den Armen des anderen versunken, bis wir uns aufrafften und die Bühne verließen.
Damit war das Programm beendet. Wie Martin es ausgedrückt hatte, begann nun der "feuchtfröhliche Teil" des Abends. Jule jedoch hatte sich entschlossen, nur ein Bier zu trinken und danach auf alkoholfreie Getränke umzusteigen, da sie schon am Vorabend bei mir ziemlich viel getrunken hatte. Das gleich galt für mich. In den letzen Tagen war bei uns genug Alkohol geflossen. Außerdem mussten wir beide noch nach Hause fahren.

Es wurde noch eine schöne Zeit bis zum Ende des Balles. Lange nach Mitternacht war es an der Zeit, aufzubrechen. Ich wollte den Jungs noch beim Abbauen helfen. Jule sagte mir, sie würde einige Freundinnen nach Hause bringen und dann wieder kommen. Die folgende Nacht wollten wir diesmal bei ihr verbringen. Ihre Eltern waren übers Wochenende weggefahren und hatten auch nichts dagegen. Ich verabschiedete mich mit einem Kuss von ihr, sah ihr noch bis zur Tür nach und ging dann zu den anderen, um die Bühne aufzuräumen.
Die Arbeit war schnell erledigt. Den Saal brauchten wir nicht zu säubern, dafür war eine Gruppe gebildet worden, die am nächsten Morgen die Arbeit machen würde.
Nach dem Aufräumen saßen wir noch am Tisch und warteten auf Jule. Die anderen hätten zwar schon nach Hause fahren können, aber sie wollten mich nicht allein lassen. Wir redeten über dies und das, und ich musste Martin in die Hand versprechen, dass er mein Trauzeuge werden würde. Ihm dies zu versprechen, fiel mir nicht schwer, dass hatte ich sowieso in jedem Fall vorgehabt. Die Zeit, die Jule weg war, wurde länger und langsam wunderte ich mich, wo sie blieb. "Sie wird wohl noch ein Schwätzchen halten", meinte Georg, unser Bassist.
Ein paar Minuten später klingelte mein Handy. Mandy war dran, eins der Mädchen, die bei Jule mitgefahren waren. "Komm schnell ins Sankt-Marien-Krankenhaus", sagte sie. "Wir hatten einen Unfall. Jule ist..."

Wenige Minuten später saßen wir auf dem Gang vor der Notaufnahme im Krankenhaus. Mandy war beinahe unverletzt geblieben und erzählte, was passiert war. Sie hatten schon drei andere nach Hause gebracht und fuhren in Richtung von Mandys Haus. Sie redeten über den Abend und wie es war. Trotz allem war Jule sehr aufmerksam gewesen und achtete auf den Gegenverkehr. Aber ein Auto sah sie zu spät. Der Wagen fuhr ohne Licht und fuhr fast Slalom. Er prallte genau gegen die Fahrerseite von Jules Auto. Der Fahrer des anderen Autos war, wie die Polizei mitteilte, stark alkoholisiert und außerdem nicht angeschnallt gewesen und verstarb später im Krankenhaus. Mandy hatte sehr viel Glück gehabt, und nur ein paar Abschürfungen sowie eine Beule am Kopf davon getragen. Jule hatte nicht so viel Glück. Ihr genauer Zustand war Mandy auch unbekannt, aber Jule war wohl ziemlich stark verletzt worden. Minuten verstrichen und auch diesmal kamen sie mir wie Stunden vor. Ich ging auf dem Gang auf und ab. Martin hatte in der Cafeteria Kaffee für uns besorgt, doch auch das heiße Gebräu konnte mich nicht innerlich beruhigen. Weiterhin lief ich hin und her. Jeden Arzt, jede Schwester, die vorbei gingen, fragte ich nach Jule. Doch niemand konnte - oder wollte - mir Auskunft geben. Es war zum Verrücktwerden, diese Ungewissheit.
Schließlich öffnete sich die Tür der Notaufnahme und zwei Schwestern gefolgt von einem Arzt kamen heraus. Ich wagte nicht, ihnen ins Gesicht zu sehen. Der Arzt trat vor mich hin. "Herr Reuters?" fragte er. Ich sah zu Boden und nickte. "Ihre Freundin hat viel Blut verloren und es war eine sehr schwere Operation. Sie liegt zur Zeit im Koma... im einem künstlichen. Sie hat sehr viel Glück gehabt. Aber... Sie brauchen sich keine Sorgen machen... sie wird es überleben."
In diesem Moment brach die ganze Anspannung aus mir heraus und zum zweiten Mal vergoss ich Freudentränen. Ich fiel dem Arzt um den Hals und sagte nur noch, wieder und wieder "Danke. Danke. Danke."

Als ich Jule einige Tage später das erste Mal besuchen durfte, strahlte sie mich schon an, als ich ihr Zimmer betrat. Sie lag im Bett und hatte ein Bein und einen Arm im Gips und auch am Rest ihres Körpers klebten noch viele Pflaster und Verbände. Aber ihr Gesicht sah wieder so fröhlich aus. Ich stellte die Blumen, rote Rosen, die ich mitgebracht hatte, in eine Vase auf den Tisch, dann setzte ich mich neben sie. "Ich wusste, dass ich überleben würde, schon im Augenblick des Unfalls", sagte sie. "Denn ich wollte dich nicht allein lassen. Ich liebe dich, Jörg." Ich lächelte, nahm sie in den Arm. "Ich liebe dich auch, Jule." Und zum dritten Mal vergoss ich Tränen - Tränen der Freude.

© Stefan Kirschhöfer, 08/08/02

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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