Peter Biastoch

Ein Horrortag

   Es war der 31.01. und eigentlich begann dieser Tag ganz normal. Lass mich einmal meine Augen schließen, um mir den zeitlichen Ablauf wieder in den Sinn zu rufen. Eine kleine Hilfe dabei ist natürlich auch mein Tagebuch, in dem ich kurze Stichworte notiert habe. So begann also dieser vergangene Freitag, für uns gegen sechs Uhr Morgens. Es folgten die üblichen, alltäglichen Dinge, wie „frisch machen“, frühstücken, Tageszeitung lesen, die üblichen Internetseiten aufrufen und E-Mails checken. Acht Uhr kam meine Post, die ich anschließend sortierte und mich damit auf die Zustelltour begab.
   Unterwegs fiel mir bereits auf, dass die Seitenscheibe meines Corsa, recht seltsam, zu klappern begann. Dazu muss ich wohl erklären, wie ich meine Post zustelle. Mein Zustellgebiet ist ja ein Dorf und da lohnt es sich nur in Ausnahmefällen, das Auto abzustellen, um zu den einzelnen Briefkästen zu laufen. Und so fahre ich nahe an diese Kästen heran, springe aus dem Auto und stecke die Briefe ein. Etliche Briefkästen sind aber glücklicherweise so nahe der Straße und so günstig angebracht, dass ich sie, ohne auszusteigen, durch die herunter gekurbelte Seitenscheibe, befüllen kann! So fahre ich fast täglich die gesamte Strecke mit herunter gelassener Scheibe.
   Wenn ich zwischendurch oft aussteigen muss, um an die anderen Kästen zu gelangen, knallt mir jedes Mal meine Tür zu, was natürlich auch Auswirkungen auf die Mechanik in ihrem Innern haben muss. So war es wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis das eintrat, was ich an diesem Tag feststellen musste. Meine Scheibe war aus ihrer Führungsschiene gesprungen und auch irgend ein Teil der Kurbelmechanik war kaputt gegangen. Somit ließ sich die Scheibe nicht mehr schließen.
   Als ich, nach meiner Zustellung, wieder zurück war, öffnete ich erst einmal die Verkleidung meiner Tür, um diese Scheibe wieder zu schließen. Dabei wurde mir klar, dass ich sie wohl nie wieder öffnen kann, ohne zu riskieren, dass sie wieder in den Türrahmen fällt. Alternativen? Eine kostspielige Reparatur, in einer Werkstatt.
   Meine Eltern kamen gerade in dem Moment nach Hause, als ich diese Tür zerlegt hatte um an die Kurbelmechanik zu gelangen. Natürlich fragten sie, ob etwas kaputt ist und ich erklärte, worin das Problem bestand. Irgendwann, in absehbarer Zukunft, würde ich sie wieder fragen müssen, ob sie mir beim Kauf eines neuen Gebrauchten (finanziell) helfen könnten, denn das mit dieser Seitenscheibe ist nur eines meiner aktuellen Probleme, mit diesem Fahrzeug. Schon im Frühjahr 2013 wurde mir in der Werkstatt gesagt, dass ich dieses Auto nicht noch einmal beim TÜF vorstellen brauche. So hatte ich zwar da noch die Hoffnung, dass ich bis zum Frühjahr 2015 hinkomme, aber in letzter Zeit häufen sich die Ausfälle!
   Aber zurück zum weiteren Tagesablauf. Nachdem ich mit dieser notdürftigen Reparatur fertig war, fuhr ich, gemeinsam mit meiner Margitta, zum Einkauf. Da wir bei dieser Gelegenheit noch mehrere Wege mit erledigen wollten, dauerte das Ganze einige Zeit.
   Wir hatten ja schon geplant, dass wir uns von unterwegs etwas zu essen mitbringen würden. So freuten wir uns bereits auf den frischen Döner, den ich beim Vietnamese geholt hatte. Da Margittas 88-jährigeTante ebenfalls eine kleine Portion Bratnudeln wollte, hielt ich auf dem Heimweg noch bei ihr an. Allerdings hatte ich den Schlüssel für ihr Grundstück vergessen und so klingelte ich am Gartentor. Als sich auch nach dem dritten Klingeln noch niemand sehen ließ, gaben wir es auf. Wir wussten, dass meine Schwägerin, kurze Zeit später zu dieser Tante wollte, um nach dem Rechten zu sehen und die Wohnung in Ordnung zu bringen. Also hielten wir noch einmal bei ihr an und gaben ihr unsere Einkäufe, für Maria (Margittas Tante) mit.
   Als ich beim Vietnamesen auf unsere Döner gewartet hatte, kam schon ein Rettungswagen mit Signal und Blaulicht vorbei gerast. Diesen sahen wir unterwegs, vor einem Haus stehen. Davor der Notarztwagen und ein Mann wurde gerade, auf einer Trage, aus dem Haus gebracht.
   Doch, als ich meinen Corsa in unsere Einfahrt lenkte, bekam ich einen echten Schrecken! Da lag doch mein Vater vor dem Tor seiner Garage. „Was ist denn mit meinem Vater passiert?“ habe ich vielleicht noch gesagt. Wir beide raus aus dem Auto und hin zu ihm. Er war nicht ansprechbar. Sein Gesicht war blau und fühlte sich kalt an und seine Hände waren noch kälter. Ich suchte nach dem Puls. Am Handgelenk – nichts. Am Hals. Ebenfalls nicht! Margitta lief ins Haus, um den Notarzt zu bestellen. Ich war erst einmal so von der Rolle, dass ich hinter ihr her ging.
   Da kam meine Mutter aus dem Haus und ich lief mit ihr zurück zur Garage. Noch einmal suchten wir nach irgendwelchen Lebenszeichen. Da kam Margitta, mit dem Telefon zu mir. Der Mann von der Notrufzentrale fragte, ob ich mich mit Wiederbelebung auskenne? „Leider nicht so, wie ich das gerne würde…“
   So erhielt ich von ihm genaue Anweisungen, was ich zu tun hätte. Da der nächste erreichbare Rettungswagen ca. 30 Minuten brauchen würde, folgten ich und meine Mutter dem, was wir aus dem laut gestellten Telefon hörten. Ich übernahm die Herzdruckmassage und Mutti versuchte nach 20 bis 30 meiner Pressungen, Luft in den Mund ihres Mannes zu blasen. Die Zeit verging endlos, ehe wir merkten, dass der Notarztwagen anhielt. Dann kam auch der Rettungswagen noch hinzu und man löste uns, nach und nach, bei der Wiederbelebung ab.
   Eines der beiden Geräte, die angeschlossen wurden, gab den Kommentar ab: „Elektroschock wird nicht empfohlen. Wiederbelebung anwenden.“ – oder so ähnlich. Man gab sich alle erdenkliche Mühe, doch, nach der vierten Ampulle Adrenalin und einer gefühlten Stunde Wiederbelebungsmaßnahmen, gaben die Rettungsmänner auf.
   Wir brachten Mutti ins Haus und warteten darauf, dass die Sanitäter ihre restlichen Arbeiten erledigten. Der Notarzt hatte mit Margitta bereits besprochen, dass er noch einige konkrete Untersuchungen machen müsse, um den Totenschein so ausstellen zu können, dass meinem Vater eine Obduktion erspart bliebe. So kam es dann auch. Als dieser Arzt zu uns herein kam, füllte er die erforderlichen Papiere aus und dann verabschiedete sich das gesamte Team mit Beileidsbekundungen.
   Als sie gegangen waren, folgte ich meiner Mutti, nach draußen. Dort lag er nun, neben der Garage, vor etwaigen Blicken von der Straße, verborgen. Mutti kniete neben ihm, bis ihr ihre Knie zu weh taten und sie sich auf eine kleine Holzbank setzte, die ich geholt hatte. Dort verbrachten wir dann gemeinsam die halbe Stunde, bis die Männer von Bestattungsunternehmen kamen und sich meines Vaters annahmen. Dazu gingen wir wieder nach drinnen und erledigten einigen Schriftkram, mithilfe eines der Beiden Bestattungsleute. Schließlich wurden wir noch einmal nach draußen gebeten, um Abschied zu nehmen…
   Samstag, der 01.02. morgens. Nach einer unruhig verbrachten Nacht, versuchten wir erst einmal einen normalen Tagesablauf zu beginnen. Dann kamen meine Posttaschen. Ich sortierte die Briefe und machte mich auf den Weg. Irgendwann unterwegs, hatte ich Briefe bei einem Haus zuzustellen, das an einem recht kräftigen Straßengefälle steht. Ich stellte das Auto ab, zog die Handbremse an und stieg aus. Doch kaum war ich um das Heck meines Corsa gegangen, merkte ich, dass er sich bewegte. Mein Versuch, die Tür zu erreichen, war zum Scheitern verurteilt. So konnte ich nur noch zusehen, wie mein Opel einen knappen Meter weiter, von einer niedrigen Stützmauer zum Stehen gebracht wurde.
   Ich steckte nun also erst einmal die Briefe ein. Dann klingelte ich an der Haustür. Doch niemand öffnete. So setzte ich also erst einmal meine Zustelltour fort und klingelt noch einmal, als ich in der Gegenrichtung noch einmal dort vorbei kam. Wieder war niemand da. Meine Versuche, den Hausbesitzer später telefonisch zu erreichen, scheiterten daran, dass er keinen Eintrag im Telefonbuch hat. Auch im Internet ist er nicht zu finden. Ich fuhr also noch einmal dort hin. Aber auch dieser Versuch war vergeblich. So probiere ich es nun, am heutigen Tag – drei Tage später – noch einmal. Mal sehen, ob ich heute mehr Glück habe. Schließlich will ich ja nicht, zu allem Überfluss, eine Unfallflucht verschulden. (Was ja eigentlich schon geschehen ist.)
   Zu meiner Rechtfertigung kann ich allerdings sagen, dass der einzige Schaden, der für mich erkennbar war, an meinem Auto ist. Der Mauerstumpf sah unberührt aus. Lediglich einen Pflanzenkübel hatte mein Corsa vom Fleck gerückt. Auch an ihm sind keine Spuren sichtbar. Na ja, mein Auto hatte schließlich nicht einmal Schrittgeschwindigkeit erreicht…
   Am Montag (also Gestern) bin ich mit meiner Mutter zum Bestattungsunternehmen gefahren, um dort noch die restlichen Formalitäten zu erledigen. Das dauerte auch nicht allzu lange und anschließend erhielten wir noch einmal die Gelegenheit, meinen Vater, aufgebahrt im Sarg zu sehen. Noch einmal Abschied zu nehmen. Das war natürlich ebenfalls noch einmal eine äußerst tränenreiche Begegnung… Mit halbwegs klaren Blick habe ich uns anschließend wieder nach Hause gefahren. Diese Fahrt unternahmen wir mit dem Lancia Y meines Vaters, dessen Schlüssel und Papiere ich von meiner Mutter erhielt, da sie keinen Führerschein besitzt. Nein, so wollte ich auf keinen Fall zu einem anderen Auto kommen!
   (Die Sache mit der Unfallflucht ist aus der Welt. Ich habe vorhin den Hausbesitzer angetroffen und alles geklärt. Er war sehr verständnisvoll und meinte nur: „Dieser Sockel bröselt sowieso schon lange, da muss ich nur ab und zu die Risse verschmieren.“ Uff, wenigstens eine Sorge weniger!)
   Inzwischen waren wir auf dem hiesigen Pfarramt und haben einen Termin für die Bestattung erhalten. Über die Preise für all das will ich lieber nicht reden. Aber, ein anderes Thema gibt es, in diesem Zusammenhang vielleicht zu erklären.
Bei all dem Trubel der vergangenen Tage, hinterfragte ich natürlich meinen ganz persönlichen Glauben. Aber nicht, wie viele das vielleicht machen, in Form einer Anklage Gottes: „Wenn es den lieben Gott gäbe, würde er doch so etwas nicht zulassen…“ Nein, meine Gedanken gingen da in eine völlig andere Richtung.
   Eines ist dabei völlig klar. Den emotionalen Schmerz dieses Verlustes, kann mir auch mein Glaube nicht nehmen! Und das ist auch richtig so. Denn schließlich ist es ja ein echter, tragischer Verlust, wenn jemand stirbt, den man liebt und geliebt hat! Der Verstorbene hinterlässt schließlich eine schmerzhafte Lücke, die umso größer ist, je mehr Gemeinsamkeiten man mit ihm hatte – je mehr man mit ihm in Liebe verbunden war.
   Wenn aber dieser akute, elementare Schmerz, ein wenig abklingt und man es schafft, sich ganz bewusst auf Gottes Wort zu konzentriert, kommt etwas zum tragen, das ich Hoffnung nenne. Die gesicherte Hoffnung, meinen Vater, eines nicht allzu fernen Tages, wieder zu sehen. Nein, nicht im Himmel, oder dergleichen, sondern ganz konkret, als lebenden Menschen, hier auf diesem Planeten! Das ist dann die Hoffnung, die mir Kraft gibt, über das derzeitige Leid und Elend hinweg zu sehen – in eine viel bessere Welt. Eine Welt, in der es all diese heutigen, negativen und schlimmen Dinge nicht mehr geben wird. Denn, wie heißt es in der Bibel, gegen Ende der Offenbarung? „…Gott wird bei uns weilen und er wird jede Träne von unseren Augen abwischen. Es wird kein Leid mehr geben, noch Tod und Trauer. Diese früheren Dinge werden vergangen sein.“ Und als Zusicherung heißt es dann: „Schreibe, denn diese Worte sind zuverlässig und wahr.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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