Mandy Bell

Hit the Ground

Hit the ground.


Sich umzubringen ist aus der Mode gekommen. Das ist irgendwie voll 80er. Oder 90er. Wer weiß, was die Kids dazu denken. Der Tatsache, dass ein Emo inzwischen vollkommen gesellschaftsfähig geworden ist, entnehme ich, dass Depressionen an sich gesellschaftsfähig sind. Man darf mies drauf sein, auch dauerhaft. Was macht da ein Suizid noch für einen Sinn? Früher hat man der Welt nicht gezeigt, wie mies man drauf ist, höchstens mittels Musik und dann war es ja Kunst und nicht ernst zu nehmen. Wer wirklich Lust hatte, sich umzubringen, hat damit vorher nicht die Menschheit genervt. Heute ist es so eine Art Lebenseinstellung. Eine Lebenseinstellung ist aber nun mal eine Lebenseinstellung und keine Sterbenseinstellung und somit der Selbstmord komplett aus der Mode. Ich war noch nie sonderlich modisch. Zwar auch nie altmodisch, aber ich scheiß auf das, was angesagt ist, ich hab keinen Bock mehr zu leben. Ich hab das ziemlich lange überdacht und komme zu dem Schluss, naja, nicht unbedingt, dass es „das Beste ist“, aber dass es zumindest keinen Unterschied macht. Ich hab echt lange überlegt, ob ich irgendjemandem fehlen könnte, hab aber niemanden gefunden. Meine Eltern haben mich vor ein paar Jahren rausgeschmissen. Keine Kontaktversuche seitdem, von beiden Seiten. Meine Brüder waren etwas cleverer, die haben vorher das Weite gesucht. Ich hab seit gut 10 Jahren nix mehr von ihnen gehört. Meine Exfreundin, nun ja, obwohl ich nichts dagegen hätte, wenigstens ihr damit weh zu tun, bin ich leider zu dem Schluss gekommen, dass es unwahrscheinlich ist. Sie würde es wohl von alten Freunden erfahren, in ein paar Jahren, wenn sie mal wieder in Deutschland ist, etwa so: „Ja, war schon ne verrückte Zeit – [langes in Erinnerungen Schwelgen] sag mal, was ist eigentlich aus dem Typ geworden, mit dem du damals zusammen warst? Wie hieß er noch mal?“ „Oh, Daniel? Keine Ahnung? Ich hab nichts von ihm gehört, seitdem ich das Weite gesucht habe.“ -------------------Und vielleicht, nur vielleicht, würde irgendwer aus unserem damaligen Freundeskreis davon gehört haben und es ihr dann sagen. Wie sie wohl darauf reagieren würde? Ich glaube nicht das Tränen fliesen würden, vielleicht kurz eine beklommene Stimmung. Ich könnte es ihr kaum verübeln. So viel Zeit wäre schon vergangen. Und wie könnte ich ihr etwas verübeln. Ich wäre tot. Ich werde tot sein. Das „Wäre“ bezieht sich eher auf die fiktive Situation, wie sie es erfährt, nicht auf meinen Tod an sich. Der ist beschlossen. Denn was soll ich schon hier wenn ich niemanden fehle. Es ärgert mich schon, dass meine Gedanken überhaupt nach diesen Szenarien suchen, aber ich will mir wohl sicher sein mit reinen Gewissen zu springen. Ich werden Springen. Das steht schon mal fest. Wenn ich schon gehe und mich niemand vermisst, sollte ich wenigstens einen Randspaltenartikel in der Berliner Morgenpost und eine aufwendige Straßenreinigung verursachen. Soviel bin ich mir wenigstens noch selbst wert.
Der Testversuch hat gezeigt, dass ich auch sonst niemanden fehlen werde. Seit Annie weg ist, seit circa 3 Monaten, vergrabe ich mich in meiner Wohnung, gehe nur abends zum Kellnern raus damit die Miete noch bezahlt wird. Das erscheint zwar in Anbetracht des Beschlusses recht sinnlos, aber ich wollte mir nicht noch mehr Gründe geben, falls ich es mir doch noch anders überlege und außerdem verbringe ich einen Großteil meiner Zeit damit auf mein Handy zu starren und auf den Anruf zu warten der nicht kommt. Von irgendjemand, der sich fragt, wo ich bin, was ich tue, ob mir etwas fehlt. Wäre doof, wenn mir dabei ein wütender Anruf meines Vermieters dazwischen käme. Traurige Bilanz nach 3 Monaten: Mein Dealer hat angerufen. Mein Ableben wird wohl sein Monatliches Einkommen um gut 40 Euro schmälern. Das tut mir richtig leid für ihn.
Ich bin mir selbst also noch einen Artikel und eine Straßenreinigung wert, ich der Welt allerdings nur noch Gras im Wert von 40 Euro im Monat, die Sache ist somit beschlossen.
Als Stichdatum habe ich mir den 5. April gesetzt. Ich dachte mir, wenn schon altmodisch und 90er, dann richtig und an Kurt Cobains Todestag sterben. Allerdings geh ich durch meine Methode sicher, dass ich nicht erst 3 Tage irgendwo vor mich hin verwese. Nicht dass ich deswegen als Leiche besser aussehen werde, aber irgendwie fände ich die Vorstellung nicht sehr angenehm von Ratten angefressen zu werden. Oder mit Maden überlaufen gefunden zu werden. Auch einer der Gründe für einen Sprung. Jetzt hab ich also noch ganze 2 Wochen mir ein passendes Plätzchen für meine Asphaltbegegnung zu suchen. Mein erster Gedanke war das Zoofenster. Beeindruckendes Gebäude und: Es bestünde die theoretische Möglichkeit von dem einzigen Menschen gefunden zu werden, der mich vermisst. Mein Dealer wohnt ganz in der Nähe. Nähere Studien zeigen aber, dass ich mich höchstens von der unteren Plattform stürzen könnte, was zwar den sicheren Tod bedeuten würde, aber doch irgendwie so aussähe, als würde ich das mit dem Selbstmord nicht richtig ernst meinen. Zwei Tage für die Katz. Was soll's. Nächster Anlaufpunkt: Der Steglitzer Kreisel. Ich könnte dem angelegenen Hotel aufs Dach springen und so noch ein paar eitle Touristen verschrecken. Leider hat sich herausgestellt, dass der Kreisel ein reines Verwaltungsgebäude ist und die Gefahr ist zu hoch an irgendwelchen Sicherheitsleuten zu scheitern. Ich will keinen Zweiten Anlauf. Im Tod zu scheitern ist wirklich das Erniedrigendste, was man überhaupt erfahren kann. Ein Grund mehr sich umzubringen und keinen Mut mehr dazu. Das ist echt Scheiße.
Next. Der Bahntower. Das hätte doch was. In meinen Abschiedsbrief stünde dann, dass ich die Bahn zwar für einen Drecksverein halte, aber aus Rücksicht auf die Fahrgäste darauf verzichtet habe mich auf die Gleise zu legen. Leider scheitert das Vorhaben am selben Grund wie schon die Idee mit dem Steglitzer Kreisel. Noch zehn Tage. Ich sollte mich vielleicht auf frei begehbare Gebäude begrenzen. Das Hochhaus im Ku'damm Karree. Ein Hauch von Konsumkritik garniert mit einer riesigen Sauerei. Begehung möglich, allerdings fällt der 5. April dieses Jahr auf einen Sonntag. Geschlossen für Konsumwütige – Geschlossen für Lebenabschliesende. In einen letzten Anflug von Hoffnung hab ich heute den Tag damit vergeudet, herauszufinden ob vielleicht verkaufsoffener Sonntag ist. Fehlanzeige. Auch der Kapitalismus macht mal Pause. Langsam verliere ich die Geduld. Heute Abend muss ich nicht arbeiten, gehe allerdings einen trinken aus Ernüchterung über die Planungsprobleme meines Asphaltaufschlags. So schwer kann es ja nun wirklich nicht sein. Mir bleiben gerade noch 5 Tage. Um wirklich niemanden über den Weg zu laufen, bei dem ich mich ausheulen und der letztenendes vielleicht noch meinen Entschluss ins Wanken bringen würde, fahre ich raus bis nach Marzahn um eine schrullige Kneipe zum Trinken zu finden. Der ideale Ort ist gefunden. Der Betreiber der Bar ist Russe, versteht kein Wort von dem was ich ihm erzähle, mein Russisch ist gerade gut genug um Vodka und Bier zu bestellen und ich der einzige Gast. Schätzungsweise ärgert es ihn, dass ich so lange bleibe, aber ich bestelle offensichtlich genug um den Aufwand zu entlohnen. Ich verlasse die Bar, es ist schon hell und ich sehe das perfekte Gebäude für meinen Sprung. Direkt an der Allee der Kosmonauten steht ein alter Plattenbau. Offensichtlich unbewacht. Im unteren Geschoss ein Automatencasino, in den Fenstern darüber nur Gerümpel und Treppen zu sehen. Ganz vereinzelt noch eine Gardine. Ich fahre in der Tram vorbei. Zu müde und zu betrunken um mir das jetzt anzusehen. In meine jetzigen Zustand würde ich wohl selbst da Aufsehen erregen. Ich verschiebe das Vorhaben auf den Nachmittag.
Der Nachmittag ist weg. Selbst der Abend verschlafen. 10 Anrufe aus der Bar, in der ich arbeite. Jetzt noch zu gehen macht auch keinen Sinn. Ich hab noch 3 ½ Tage zu leben, also scheiß auf den Job. Ich koch mir Kaffee. Er geht langsam zu neige. Vielleicht sollt ich doch noch ein letztes Mal welchen kaufen um die letzten Tage „lebenswert“ zu machen. Ich setze mich an den Rechner und google „Suizid“. Ich stoße auf einen Eintrag in „Stupidedia“ der mich tatsächlich amüsiert. Vor allem weil ich erst nach zwei Absätzen über den Schreibstil verwundert bemerke, dass ich nicht, wie gedacht auf „Wikipedia“ gelandet bin. Besonders gefällt mir die Bildunterschrift: „Man hat einen herrlichen Ausblick, wenn man von einem Hochhaus springt“ und die Weisheit: „Selbstmord ist die dauerhafteste Lösung für temporäre Probleme“. Ich bin gut drauf und probiere dieses Problem vorerst durch die erneute Lektüre von Kurt Cobains Biographie zu lösen. Schlafe darüber wieder ein. Ich öffne die Augen starre auf den Wecker und vollkommen ausgenüchtert und ernüchtert stelle ich fest, dass ich gerade noch zwei Tage zu leben habe. Zeit den Plattenbau zu besichtigen. Ich kaufe noch schnell Kaffee und laufe zur Haltestelle. Mit der Tram sind es gut 40 Minuten raus nach Marzahn. Ich schaue aus dem Fenster und verabschiede mich von meiner Stadt. Die wird mich auch nicht vermissen, aber vielleicht ich sie? Ich war immer Atheist, oder dachte es zumindest, es macht das Leben so viel leichter, aber in Hinsicht auf die „endgültige Sünde“ macht man sich ja doch so seine Gedanken. Ich finde das relativ unfair. Generell macht eine Religion ja zumindest den Tod leichter, nur eben nicht den, den ich gewählt habe. Ich bin da. Stelle fest, dass sogar das Automatencasino jetzt wohl ausgezogen ist. Schleiche mich hinter das Gebäude und steige durch ein kaputtes Fenster ein. Die Tür war mir irgendwie nicht geheuer. Steige die 350 Treppen hinauf und finde sofort die Dachluke und eine beistehende Leiter. Fast schon zu einfach stehe ich plötzlich auf dem Dach und habe einen fantastischen Ausblick, wie mir schon das Internet prophezeit hat. Ich setze mich hin und hole ein Notizbuch heraus um zu überlegen, wie ich meine letzten Stunden hier gestalte. Dann genieße ich noch den Sonnenuntergang und fahre nach Hause um ein letztes mal zu Schlafen. Erstaunlicherweise schlafe ich ganz ohne Probleme ein und habe eine wunderbare traumlose Nacht.
Der 3. April. Morgen ist es soweit. Ich packe meinen Rucksack. Eine Decke und ein gutes Buch (Herman Hesse: Unterm Rad – danach wollt ich schon beim ersten mal nicht mehr leben) für die letzten Stunden, eine Spraydose für die letzten Worte. Die Thermoskanne für den letzten Kaffee steht auch schon bereit. Ich plane etwa 5 Stunden auf dem Dach zu verbringen. Laut Wettervorhersage soll die Sonne um 19:46Uhr untergehen. Dann werde ich springen. Für heute habe ich geplant noch ein letztes Mal die Herr der Ringe Trilogie anzusehen um nicht zu sehr an den morgigen Tag zu denken. Wobei ich sagen muss: Ich bin erstaunlich ruhig. Ein etwas komisches Gefühl in Magen, aber auch davon nach der Pizza nichts mehr vorhanden. Teil eins und zwei vergehen wie im Flug, Teil drei kostet mich allerdings schon einige Anstrengungen. Ich beschließe doch noch für 2 Stunden zu schlafen, bevor ich auf dem Dach bewusstlos werde und meinen Tod verschlafe. Der Wecker klingelt um acht. Ich wasche ab, wasche ein letztes Mal Wäsche und hänge auf. Ich weiß nicht warum, aber es ist schon gut ein Jahrzehnt her, dass ich jemand anderen zugemutet habe, meine dreckigen Boxershorts anzufassen. Ich schau noch mal Nachrichten, stelle erneut fest, dass ich das richtige tue. Koche Kaffee und mach mich halb zwei auf den Weg. Das Wetter ist perfekt, die Sonne strahlt zum Abschied und – es ist bestimmt nur Einbildung – die Leute lächeln heute alle. Sie scheinen so viel glücklicher als sonst. Ich steige in die Tram und denke meine Letzten Gedanken. Nervös schreibe ich 40 Minuten lang mein Notizbuch voll. Für niemanden, total sinnlos. Ich verpasse fast meine Station, stolpere gehetzt aus der Bahn und da seh ich es: Ein weit absperrender Zaun rund um meinen Selbstmordtempel. „Was ist denn hier los“, frage ich einen der Passanten. „Det soll abjerissen werdn. Nich jehört?“ Geschockt falle ich in mich zusammen, hocke auf dem Bordstein und hole den Kaffee raus. 10 letzte Zigaretten, für die letzten 5 Stunden, 5 sind in Kürze geraucht. All die Planung. Am Ende scheitere ich am Ende. Noch ein Versuch? Aufschub? Undenkbar. Ich wurde eh schon langsam nervös. Die Zeit rast an mir vorbei, es wird 19:46 und ich sitze auf dem Bordsteig. Kurt Cobain schrieb in seinen Abschiedsbrief: „Its better to burn out, than to fade away“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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