Ursula Bleitner

Der Kilian

 
Als ich damals in diese Stadt kam, konnte ich nicht ahnen, dass ich ihm begegnen sollte.
An einem Nachmittag, ich hatte einen kurzen Spaziergang in der mir noch fremden Umgebung gemacht, sah ich ihn von ferne,
den kleinen Mann in seinen alten, verschlissenen Kleidern. Mit schleppendem Gang, leicht hinkend, kam er auf mich zu, ging vorbei
mit leichtem Gruß und verschwand wieder hinter der nächsten Wegbiegung.
 
Durch Zufall erfuhr ich einige Zeit später mehr über diesen Menschen:
Der schon sehr alte Mann, ein Kriegsveteran aus dem ersten Weltkrieg, lebte äußerst bescheiden in einer winzigen Kammer
über der Werkstatt eines Tischlers, führte mehr oder weniger das Leben eines Einsiedlers in der pulsierenden Stadt.
Kam dann der Zahltag, verließ er seine Behausung, um die Rente abzuholen; es war jedes mal für ihn wie ein Feiertag;
er gönnte sich seine Flasche Korn und dazu einen ganzen Hering! Die Leute wunderten sich schon nicht mehr, wenn sie diese Gestalt
sahen, immer gleich kam er daher im alten Mantel, aus dessen rechter Tasche, eingerollt in Zeitungspapier, der Fisch heraushing.
Aus der Flasche nahm er dann und wann einen guten Schluck. Auf Fragen antwortete immer wieder der Kilian, das war wohl sein Name:
„Junge, ich war doch in Frankreich damals, am „Schemines des Dames!“ – und damit war für ihn alles erklärt.
 
Jahre später erzählte mir die Tischlersfrau, dass der Kilian inzwischen im Altersheim gut versorgt werde. Ob es ihm dort aber wirklich
gut ergangen ist? - Fließend Wasser, regelmäßiges Essen, geregelter Tagesablauf, saubere Betten, Kameraden im Vierbett-Zimmer! -
wo war die Freiheit, die der alte Mann so liebte und kannte?
Als ihm dann, wie stets zu Weihnachten, des Tischlers Sohn am späten Nachmittag ein Geschenk brachte, bedankte sich der Kilian
mit den Worten: „Junge, es ist doch schon Schicht!“ und das war das Letzte, das er in seinem langen Leben gesprochen hat.

 

Ursula Bleitner (U) 2014

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