Alexander Vogt

Julia

Anmerkung des Autors: Diese Story schrieb ich noch in der gymnasialen Oberstufe und bekam damals schon von meinen LeserInnen zu hören, die Geschichte sei romantisch-kitschig. Und genau das war intendiert :-). Nachdem ich gerade begonnen habe "Zwei Leben - eine Liebe" von Kirsten Winkelmann (einen Roman aus Beständen meiner Frau) zu lesen, stelle ich fest, dass romantisch-kitschige Geschichten total aufregend sind! Ganz besonders, wenn man dadurch in seine Pubertät zurück katapultiert wird, wo jedes Gefühl unglaublich stark, jede Peinlichkeit unglaublich schmerzhaft, und jede Zuneigung unglaublich aufregend war! 
 

Julia


Das ganze Zimmer stand voll von Kisten und Kartons mit Büchern, alten Spielsachen und einstmals wohl dekorativen Sammlungen von Getränkedosen. Simone zog die warme Juliluft aus ihren offenen Fenstern ein und ließ sie wieder zischend entweichen. Es war ein ganzes Stück Arbeit, was sie vor sich hatte. Den Inhalt all dieser Kartons würde sie in ihrem Zimmer irgendwo unterbringen müssen, zumindest hatte sie sich das fest vorgenommen, denn all die Sachen, die sie nicht verstauen können würde, würden wohl unweigerlich auf dem Müll landen. Ihre Eltern kannten in solchen Dingen kein Pardon.
Es war ein Chaos sondergleichen, sie, die sie doch sonst so ordentlich zu sein pflegte, sah sich nun gegenüber von Bergen von Geröll und Kram, den sie irgendwann einmal in ihrem Zimmer aufbewahrt, dann aber schließlich in diese Kartons umgeräumt hatte um Platz für neue Dinge zu schaffen.
Ein Blick auf die Uhr ließ sie wieder aufatmen. Ihre beste Freundin würde in aller Bälde erscheinen, und ihr zur Hand gehen können.
Julias Pünktlichkeit war verblüffend. Der Sekundenzeiger ihrer Swatch hatte kaum die 3 Uhr überschritten, da ließ sich die Klingel mit hellem Glockenklang vernehmen. Simone ließ einen Stapel T-Shirts, den sie gerade in der Hand gehalten hatte auf ihr, kaum noch zu entdeckendes Bett, plumpsen und stürzte die Treppe zur Tür hinunter.
Die hölzerne Wendeltreppe polterte bei jedem ihrer Schritte bis sie dann in der Eingangshalle die Tür aufriss. Simone kniff die Augen zusammen, denn hinter Julia stand die grelle Nachmittagssonne.
„Komm rein. Oh, ich kann dich gar nicht sehen. Manchmal denke ich, es war keine schlaue Idee vom Architekten, den Hauseingang gegen Westen zu legen.“
„Mir gefällt es, euer Haus so zu betreten. Wenn die Sonne scheint, fällt das Licht immer so schön auf das glänzende Parkett hier in der Halle.“ Julia warf sich ihren schwarzen Zopf über ihre Schulter und lächelte ihre Freundin an, ihre blauen Augen strahlten dabei fröhlich. So fröhlich, das es Simone eine Bemerkung wert war.
„Du siehst so glücklich aus, oder meine ich das nur? Du scheinst dich ja wirklich auf das Chaos oben im meinem Zimmer zu freuen.“
„Ja,“ lächelte Julia „das tue ich. Du musst wissen, ich liebe es in großen Kisten zu wühlen und die ganzen verborgenen Schätze aus der Kindheit wieder zum Vorschein zu bringen.“
Simone seufzte theatralisch und ging schon wieder auf die Treppe zu. „Dein Gemüt möchte ich haben. Ich kann dir sagen, ich bin heilfroh, dass du mir bei dieser Arbeit hilfst. Nun komm schon, schließe die Tür, auf uns wartet noch eine Menge Arbeit.“
Oben angelangt setzte sich Julia auf die mit Kleidungsstücken und Büchern bedeckte Couch und legte die Hände in den Schoß, ihre Freundin versuchte ihre zwei gewaltigen Fenster noch ein wenig weiter aufzureißen, um für noch mehr Frischluft zu sorgen. Die weißen Gardinen blähten sich im Wind und kräuselten sich, dass sie einen lustig flackernden Schatten auf den himmelblauen Teppich warfen.
„Das sieht ja herrlich aus hier. Lauter Gerümpel.“ Meinte Julia und begann auf der Couch auf und ab zu wippen. „Es hat dich sicherlich einige Zeit gekostet diesen ganzen Krimskrams anzuhäufen und es wird uns nicht weniger Arbeit machen, es alles wieder irgendwie zu platzieren, so, dass es auch für fremde Augen ansehnlich ist.“
Sie sprang auf die Beine und schaute in die erste Kiste, sie griff hinein und entnahm ihr einen Teddybären, der fast so groß war, wie ein kleines Kind. „Oh, wann hast du den denn verpackt?“ Sie drehte und wendete den braunen Bären im Sonnenlicht und setzte ihn dann auf den Teppich. „Es ist wohl schon ziemlich lange her, das du all diese Dinge in die Kisten geräumt hast?“
„Nein, gar nicht.“ Sabine ließ sich auf ihr Bett fallen, auf dem ihre gesamte Garderobe lag. „Erst vor einem Jahr habe ich diese Kartons gefüllt. Aber du hast recht, wenn ich mir das alles hier so ansehe, frage ich mich, wie ich jemals soviel Platz hatte.“
„Wo sollen wir anfangen?“ Julia setzte sich auf den Teppich und sah zu ihrer Freundin auf.
Simone hob den Kopf ein wenig, sprang dann aber ganz auf die Beine.
„Weißt du was, ich werde uns erst einmal etwas zu trinken holen. Was hättest du gerne? Cola, Fanta, Apfelsaft, Sprudel? Wir haben alles da.“
Julia lächelte. „Wenn du mir schon gerne etwas anbieten möchtest, bringe mir eine Apfelschorle.“
„Wird gemacht.“ Simone schüttelte sich geschickt die Sandalen von den Füßen und lief auf Socken die Treppe zur Küche hinunter.
Julia zog sich auch ihre Schuhe aus und schob sie unter Simones Bett. Sie setzte sich wieder auf die Couch, ging dann jedoch zum offenem Fenster, um ein wenig über die Nachbarhäuser hinweg auf den nahen Wald zu gucken.
Es war ein wunderschöner Tag, eigentlich viel zu schön, um in der Wohnung zu sitzen, aber die großen Fenster nahmen dem geschlossenen Raum ihren Schrecken, außerdem hatte sie Simone versprochen zu helfen. Gedankenverloren blickte sie auf den Wald über die ziegelbedeckten Dächer der Häuser hinweg und verlor sich in einem Tagtraum.
 
Hinter sich hörte sie plötzlich, das jemand den Raum betrat. Julia wirbelte herum, ihr Zopf legte sich wieder auf ihre Schulter, von wo sie ihn gleich hinunter schubste. Der Junge, der den Raum betreten hatte, trug einen mächtigen Karton vor seiner Brust, und konnte augenscheinlich nichts weiter sehen, als diesen Karton, denn er machte nur winzige Schritte. Er war wohl fast Erwachsen, zumindest aber Siebzehn Jahre, schätzte Julia, zwei bis drei Jahre älter also als sie und Simone. Sie stand wieder mit der Sonne im Rücken. Der Junge stellte den Karton neben Simones Schreibtisch ab.
„Hier sind auch deine letzten Bücher und Spielzeuge. Der Karton hatte einiges an Gewicht, ich frage mich, wie du es geschafft hast, den in mein Zimmer zu bringen.“ meinte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er blickte sie an, kniff aber auch die Augen zusammen, weil ihn das Licht blendete. Julia sah ihn schüchtern an, er hielt sie für Simone. Der Junge war recht groß und hatte dunkle braune Augen und blondes Haar. Ein sehr hübscher Junge und obwohl ihr sein Gesicht genauso fremd war, wie seine Stimme, kam es ihr irgendwoher bekannt vor.
Der Junge bemerkte seinen Irrtum.
„Oh, hallo. Du wirst Simones Freundin sein. Sie erzählte uns heute Morgen am Frühstückstisch, dass sie ihre Freundin eingeladen hätte, ihr tatkräftig zur Seite zu stehen. Ich glaube, sie hat deine Hilfe auch bitter nötig sonst würde das Zimmer noch Wochen so aussehen.
Simone ist ein wenig, nun ja, nicht besonders fleißig. Allein deine Anwesenheit wird sie schon dazu verleiten aufzuräumen, entweder, um dich nicht alleine Arbeiten zu lassen, falls du das machen würdest, oder weil sie sonst ein schlechtes Gewissen bekäme, jemand zur Arbeit eingeladen zu haben, und sich dann doch nur faul in ihren Räumlichkeiten zu räkeln.“ Der Junge trat auf Julia zu und lächelte sie an, da wusste Julia auch, warum ihr sein Gesicht so bekannt vorkam. Es musste Simones Bruder sein. Sie stand da mit offenem Mund, Simone hatte in ihrer einjährigen Freundschaft mit ihr nie erwähnt, dass sie einen Bruder hatte. Sie hatte diesen Jungen auch noch nie gesehen.
Julia lächelte ihm schüchtern zu, weil sie nicht recht wusste, was sie mit ihm hätte reden sollen.
„Mein Name ist übrigens William, meines Zeichens leidgeprüfter Bruder deiner Freundin.“ Er nickte ihr freundlich zu. Er hatte ein nettes Lächeln.
In diesem Moment kam Simone mit einem Tablett auf dem drei Gläser, eine Flasche Cola, eine Flasche Wasser und eine mit Apfelsaft standen.
„Oh,“ Simone ging in die Mitte des Raumes und stellte das Tablett zwischen zwei Kartons auf den Boden. „Wie ich sehe, hat sich mein Bruder mit dir bekannt gemacht, ehe ich das konnte.“ Sie stellte sich neben ihren großen Bruder, dem sie nur bis zum Kinn reichte und stieß ihn leicht mit ihrem Ellbogen in die Rippen. Wenn man es wusste, so dachte sich Julia, war es ganz offensichtlich, das William Simones Bruder war. Sie hatten die gleichen dunklen Augen. „So, komm, ich habe euch etwas zu trinken mitgebracht.“ 
„Sehr zuvorkommend, Schwesterchen,“ William drehte sich zu dem Tablett mit Getränken um. „Sollte sich meine kleine Schwester in einem Jahr meiner Abwesenheit tatsächlich so gewandelt haben? Ich weiß noch genau, dass du mir vor meinem Abflug lieber auf die Schuhe gespuckt hättest, als mich jemals zu bedienen.“
Er lachte Simone an. „Deine klugen Sprüche habe ich sicher nicht vermisst, aber sie sind nun einmal ein Teil von dir, und dich habe ich vermisst. Irgendwie ist es doch ein beruhigendes Gefühl einen großen Bruder im Haus zu haben, auch wenn er einen manchmal ziemlich auf den Geist gehen kann.“
Simone umarmte William und drückt ihn wie ein großes Schmusetier.
„Eigentlich,“ meinte sie zu Julia „eigentlich ist er ganz nett.“ 
„Ich bin dir zum Danke verpflichtet, das du mich deiner Freundin gegenüber direkt ins rechte Licht rückst.“ Er schmunzelte Simone an und machte sich aus ihrer Umarmung frei.
„Wo ich gerade von deiner Freundin spreche, ich kam immer noch nicht in den Genuss, ihren Namen zu erfahren, sollte sie einen haben, und dass möchte ich doch schwer hoffen. Es wäre zu schade, wenn zu einem so hübschen Gesicht nicht ein ebenso hübscher Name gehören würde.“ 
Julia errötete und senkte leicht ihren Kopf. Sie wollte sich vorstellen, doch ihre Freundin kam ihr zuvor. „Du musst entschuldigen. Mein Bruder spricht  nicht nur gern ein wenig geschwollen, er ist auch noch ziemlich direkt, was gefährlich ist, da er alles so meint, wie er es sagt.“  
„Ich heiße Julia, schön dich kennenzulernen.“ 
„Das Vergnügen ist ganz meinerseits.“ William lächelte sie noch kurz an, dann ging er zu dem Tablett und schenkte sich ein Mineralwasser ein.
„Ihr habt jetzt die einmalige Gelegenheit euch euer Getränk machen zu lassen, gleich bin ich wieder fort.“
„Eine Cola und eine Apfelschorle.“ Simone setzte sich auf ihr Bett und deutete Julia neben ihr Platz zu nehmen. „Ist bereits in Arbeit.“ William schüttete die Getränke ein und reichte sie den beiden Mädchen. Julia sah zu ihm auf, als sie ihr Glas entgegen nahm. William schien irgendwie beschäftigt zu sein, er achtete nicht sonderlich auf die Gläser in seinen Händen. Er trank sein Mineralwasser noch im Stehen aus.
„Ihr entschuldigt mich jetzt bitte, ich habe noch einiges zu erledigen. Bevor ich mich meinen Schularbeiten widme, muss ich unbedingt noch dass neue Lied zu Ende schreiben. Mir geht diese Melodie seit gestern einfach nicht mehr aus dem Sinn.“ Er begann eine Melodie zu summen und verließ gedankenverloren das Zimmer. Julia blickt ihm nach.
Sie hätte ihn gern noch ein Weilchen hier bei Simone im Zimmer gehabt.
„Warum hast du mir nie erzählt, dass du einen Bruder hast.“ Julia strahlte Simone an.
„Nun, ich hielt es nicht für so wichtig, zumal er bis vor drei Tagen noch in Kanada war.“ 
„Dein Bruder war also als Austauschschüler unterwegs?“ 
„Erstaunt dich dass? Nach allem was er über diesen Austausch erzählt hat, spiele ich auch ernsthaft mit dem Gedanken, in zwei Jahren in die Vereinigten Staaten oder nach Kanada zu fliegen. Er was richtig verliebt in dieses Land. Er spricht jetzt natürlich auch fließend Englisch. Er konnte es vorher auch schon gut, deshalb ist er ja auch überhaupt erst geflogen, aber jetzt redet er so schnell, als wenn es seine Heimatsprache wäre.“
„Er sagte eben, er würde ein Lied schreiben wollen? Macht er dass als Hobby?“ Julia nippte an ihrer Apfelschorle.
„Oh, ja, er macht alles Mögliche. Ich möchte ja nicht mit meinem Bruder prahlen, aber es gibt fast nichts, was er nicht kann. Er ist ziemlich talentiert, ich war schon immer irgendwie neidisch auf ihn. Bevor er in Kanada war, hatte ich ständig Streit mit ihm, nunja, ich war eben noch etwas jünger und rebellischer, eigentlich war ich ein ziemliches Gör, aber wenn er Gitarre spielte, kam ich immer heimlich an seine Türe um zuzuhören.“ Julia lachte.
„Einen klasse Bruder hast du, doch nun lass uns anfangen aufzuräumen.“
 
 
                                                           Zweites Kapitel
 
Am nächsten Tag stand die Sonne auch wieder hoch am Himmel und ihr Platz wurde ihr nicht einmal von einer einzigen Wolke streitig gemacht. Die Hitze trieb auch Julia und Simone dorthin, wo sich alle Altersgenossen und Schüler im allgemeinen hingezogen fühlten.
Das Freibad im Baggersee war nahezu überfüllt. Auf der großen Liegewiese gab es nur noch wenige freie Stellen zwischen den ausgebreiteten Badetüchern. Das Wasser in Ufernähe war zwar beim hineinsteigen noch unangenehm kalt, war man aber erst einmal drin, gab es kaum einen Grund der wichtig genug gewesen wäre, um eines der Mädchen wieder hinaus zulocken. Die beiden Mädchen waren noch in Begleitung von Silvia und Lena, die ebenfalls in die neunte Klasse des Gymnasiums gekommen waren, dort. Sie alle schwammen vergnügt zu der auf dem Wasser treibenden Holzinsel, die aber in Wahrheit unter Wasser mit einer schweren Eisenkette am Grund des Sees vertäut war.
„Komm schon Julia, ich ziehe dich hinauf. Von hier aus kann man die ganze Gegend rund um den See herum erblicken.“ Silvia streckte ihre nasse Hand ihrer Freundin entgegen. Julia nahm sie dankend entgegen und zog sich auf die schwankende Insel hinauf.
„Es wird ganz schön kalt, wenn man aus dem Wasser herauskommt.“ Sie umschlang sich mit beiden Armen und blickte zitternd aber fröhlich lächelnd auf die sonnenbeschienenen Ufer ringsumher.
„Dein neuer Badeanzug sieht klasse aus, Lena. Wo hast du den gekauft?“ Lena stand nun auch sich selbst umarmend auf der Insel und blickte zu einer anderen schwimmenden Plattform hinüber, wo sich ein paar Jungen damit vergnügten, sich gegenseitig immer wieder von der Insel ins Wasser zu stoßen.
„Och, das war nur ein Sonderangebot, aber mir gefiel er gleich so gut, dass ich ihn kaufte.“ Sie drehte sich wieder den Jungen zu.
„Sagt mal, wollen wir zu den Jungen `rüberschwimmen, die scheinen auch in unserem Alter zu sein, vielleicht sind ja auch einige ganz nette dabei?“ 
„Ja, lasst uns hinüberschwimmen, die Jungs sehen doch ganz passabel aus, findet ihr nicht?“ Sabine tauchte mit einem Kopfsprung ins Wasser, die drei anderen Mädchen folgten ihr. Im Wasser, war es wieder viel wärmer, vor allem kurz unter der Wasseroberfläche.
„Seht mal, da kommen Mädels, die können gleich bei uns mitmischen.“ Einer der Jungen grölte dies laut über das Wasser, als er die Mädchen erblickte.
„Ja, wenn die sich gerne von uns ins Wasser schubsen lassen, können sie gerne mitmachen.“ Schrie ein andere Junge, bevor er ebenfalls ins Wasser gestoßen wurde. Simone hatte die schwankende Plattform als erste erklommen, wurde aber auch als erste wieder hinuntergestoßen, wobei sie laut kreischte.
Es war ein recht einfaches Spiel. Ziel war es sich so lange wie möglich auf der Plattform zu halten, ohne von anderen hinunter geschubst werden. Die meisten Jungen kannten bei diesem Spiel kein Pardon: Sie nutzten ihre Kräfte vollends aus. Es ging recht brutal zu, aber das schien keinen der Beteiligten zu stören.
 Julia hatte schnell die Lust verloren und kraulte zurück zur Liegewiese, von wo aus sie ihren drei Freundinnen zusah. Sie stieg aus dem Wasser, fröstelte wieder und lief zu ihrem Badetuch um sich kräftig abzutrocknen und sich dann darauf zu legen.
Eigentlich war es ein dämliches Spiel, es war so dämlich, dass sie sich fragte, was sie nur so lange dort gehalten haben könnte, wo ihre Freundinnen jetzt noch tobten. Wie kleine Kinder im Sandkasten, so spielte sie mit ihren Freundinnen am Baggersee. Allerdings unter einem anderen Motiv, eben jenem, nette Jungen kennenzulernen, die man daraufhin den ganzen Herbst und Winter nicht mehr sieht.
Sie legte sich auf den Rücken und verschränkte ihre Hände über ihrem Bach. Ihr blauer Badeanzug sollte noch ein wenig in der Sonne trocknen.
Zwei der Jungen waren ganz hübsch gewesen, vielleicht wäre es unter andern Umständen einmal ganz nett, sich mit ihnen zu unterhalten, aber auf der schwimmenden Insel waren sie einfach nur laut und brutal.
Julia schloss die Augen, wegen des hellen Sonnenlichtes. Die Schule war heute viel zu lang, dachte sie. Bei diesem Wetter musste sie immer während des Unterrichtes nach draußen auf die rauschenden Ahornbäume die rund um die Schule herum standen gucken, oder sie blickte zum Horizont und bekam ein schrecklich schönes Fernweh.
Irgendwo hinfliegen können, sich einfach auf den Schulhof stellen, die Arme ausbreiten, gen Himmel gucken, den Wind um das T-Shirt streichen spüren, die Augen schließen und sich vom Erdboden abstoßen. Frei irgendwohin fliegen zu können, direkt in die Sonne hinein. Über die grünen Berge und Täler, immer weiter, wie ein Vogel. Alle Dörfer und Städte unter sich zurücklassen, über sie hinweg fliegen, ganz allein.
Julia seufzte tief und lächelte dabei. Es war ein feiner Traum, der leider niemals Wirklichkeit werden würde, aber sie konnte davon träumen, und das war auch schon etwas.
 
Was mochte William wohl gerade machen? Bestimmt würde er nicht ins Freibad gegangen sein, oder doch?
Julia setzte sich auf und blickte um sich. Die roten Farbtöne, die sie durch ihre geschlossenen Augen gesehen hatte verflüchtigten sich. Julia blickte lang herum, sah die vielen Gesichter der Besucher. Die Wiese war so überfüllt, das es auch schwierig war ein bekanntes Gesicht zu finden. Julia fand ihn nicht. Schade, sie hätte ihn gerne mal in Badehose gesehen. Fast war ihr dieser Gedanke peinlich. Als sie gestern bei Simone war, hatte er ein kurzärmliges Hemd getragen. Ein Hemd, ja. Eigentlich ungewöhnlich, aber William sah darin gut aus.
Sie schüttelte ihren Kopf um den Gedanken loszuwerden. Es war immer noch der Bruder ihrer besten Freundin, und nicht irgend jemand aus ihrer Klasse.
„Julia,“ Simone kam lachend und pitschnass über die Wiese spaziert „wieso bist du schon so früh gegangen, wir hatten noch eine Menge Spass, ich hab zwar jetzt ein paar Schürfwunden am Knie und einen blauen Fleck irgendwo zwischen meinen Rippen, aber das war mir der Spass allemal wert.“
Simone beugte sich nach ihrem Handtuch hinab und trocknete sich damit ab.
„Gerade auf dich stehen doch die Jungen besonders. Manche waren richtig enttäuscht, dass du so früh fort geschwommen bist.“ Sie breitete ihr Handtuch wieder aus und legte sich darauf.
„Weißt du, mir ist einfach ein bisschen kalt geworden. Es freut mich aber trotzdem zu hören, dass mein Gehen nicht unbemerkt geblieben ist.“ 
„Kein Wunder, das dir kalt geworden ist, du bist ja auch nur Haut und Knochen.“ 
„Sei bloß still,“ lächelte Julia „ich gefalle mir so ganz gut.“ 
„Nicht nur du gefällst dir so wie es scheint, sie mal, da kommen Lena und Silvia, verfolgt von den Jungen von der Insel.“
Simone winkte ihnen. Die kleine Gruppe kam lautstark redend auf sie zu.
„Woll`n wir gleich zusammen an dem Imbissstand was essen?“ Fragte einer der Jungen, ein besonders großer, wenn er auch nicht älter war als die Mädchen.
„Ja, wir treffen uns dann dort. Ist es in fünf Minuten O.K.?“ 
„Klar, bis dann also.“  Die sechs Jungen verließen die Mädchen, derweil sie lachten und allerlei Unfug von sich gaben.
„Ich finde den Blonden ganz nett, den mit der gelb-schwarz gestreiften Badehose.“ Lena setzte sich, nass wie sie war, neben Julia auf ihr Badetuch. „Wer hat dir am besten gefallen, Silvia?“
„Ich finde den kleinen dunkelhaarigen ganz nett. Wie ist es mit dir, Simone?“ 
„Nun, besonders finde ich keinen, aber den Blonden fand ich auch ganz nett und den mit der lila Bermuda.“
„Was denkst du, wer am nettesten ist, Julia, du warst ja anscheinend nicht so begeistert.“
„Da magst du wohl recht haben,“ sie sah Silvia an „sie mögen ja alle ganz nett sein, aber, nun ja, vielmehr auch nicht. Sie sind genau wie die Jungen in unserer Klasse, findet ihr nicht.“
„Das stimmt,“ bestätigte Lena „aber sie sind nicht in unserer Klasse, sonst würden wir uns ja nicht für sie interessieren.“
„Das ist zwar eine eigenartige Regel, aber sie stimmt. Für Marcel oder Jan würdet ihr euch kaum interessieren, obwohl sie auch ganz gut aussehen.“
„Wieso `ihr´? Auf welche Jungs fliegst du denn?“ Silvia sah sie mit großen Augen an.
Julia bekam rote Wangen und Ohren und ärgerte sich darüber kolossal, weil sie gar nicht recht wusste warum. Hätte sie eben nicht an William gedacht, wäre ihr das nicht passiert. Dämlich, das sie ausgerechnet an ihn gedacht hatte. Sie schluckte.
„Ich finde die Jungen auch ganz nett, wirklich, aber...“ 
„Was, aber?“ Wollte Lena wissen.
„Naja, wir sehen sie doch sobald nicht wieder, oder? Die gehen doch auf ganz andere Schulen als wie wir.“ 
„Das stimmt schon,“ lachte Lena „aber das braucht uns doch heute nicht zu kümmern. Und jetzt kommt. Die fünf Minuten sind bald vorbei, und wir wollen die Jungen doch nicht länger als nötig warten lassen. Außerdem habe ich nach all den Schwimmen Hunger auf eine große Portion Fritten mit Ketchup bekommen.“
Die vier Mädchen sprangen auf, suchten in ihren Rucksäcken und Badebeuteln nach ihrem Geld und machten sich auf den Weg zur Imbissbude.
 
 
                                                           Drittes Kapitel
 
William stand in einer Gruppe anderer Oberstufenschüler und unterhielt sich mit ihnen fröhlich.
Julia stand bei Lena und noch einigen anderen Mädchen uns schaute unauffällig zu ihm hinüber. Er lachte gerade über irgend etwas und gestikulierte, anscheinend um etwas zu erklären. Seine Freunde um ihn herum hatten auch teilweise Oberhemden statt einfachen T-Shirts. Die älteren Jungen kleideten sich schon wie Erwachsene. Nun ja, die meisten von ihnen waren ja auch schon 18 Jahre alt. William war aber noch nicht ganz erwachsen, dass hatte Simone gesagt.
Eigentlich wollte sich Julia mit ihren Freundinnen unterhalten, aber sie sah immer wieder zu den Jungen herüber und musste sich beherrschen, um nicht völlig den Faden im Gespräch mit Lena, Birgit und Karin zu verlieren.
Der Pausengong schlug und alle Schüler setzten sich in Bewegung. Julias Klasse hatte nun Matheunterricht, eines ihrer Lieblingsfächer. Sie musste in die dritte Etage und beeilte sich nach oben zu kommen, was ihr in dem Schülerstrom nicht besonders leicht viel. Als sie aus dem Sonnenlicht in die dunkle Schulvorhalle trat, sah sie fast nichts mehr, weil es draußen so hell gewesen war.
Als sie oben vor dem Matheraum stand und sich ihre Klasse sammelte, sprach Mira sie an.
„Sag mal, Julia, wo hast du eigentlich deine Tasche, hast du sie schon in den Raum gestellt, bevor er vor der Pause wieder abgeschlossen worden ist?“ Julia erschrak. Sie hatte ihren Rucksack noch im Physikraum liegenlassen, der im Erdgeschoss lag.
„Ich habe ihn unten liegen lassen. Ich laufe ihn schnell holen, danke, dass du mich gefragt hast.“ rief sie Mira zu und stürzte die Treppen hinunter.
Die Treppen waren schon leer und die meisten Schüler bereits in ihren Klassen. Sie hoffte nur, dass der Physikraum nicht verschlossen war, sondern eine Klasse dort nun Unterricht haben würde, sonst wüsste sie nicht, wie sie an ihre Schultasche herankommen sollte. Sie lief den zu dem Trakt in dem der Physikraum lag. Hinter ihr hörte sie sich jemanden räuspern. Julia drehte sich im Laufen um, um die Person zu sehen, die sich geräuspert hatte. Sie erblickte niemanden, war aber so abgelenkt gewesen, dass sie, als sie um die nächste Ecke bog, geradewegs in jemanden hineinlief.
Sie stieß dumpf gegen den Jungen und fiel hin.
„Kann ich dir helfen, du scheinst es ja ziemlich eilig zu haben.“  Es war Williams Stimme. Sie fühlte sich an der Hand gegriffen und er half ihr auf die Beine. Ihre Hand kribbelte als William sie in seine nahm, um ihr hochzuhelfen.
„Ich...ich habe meinen Rucksack im Physikraum vergessen, und muss ihn schnell holen, ist der Raum denn noch nicht offen?“ Julia stand leicht zitternd da. William lächelte sie freundlich an.
„Nein, noch nicht, aber wenn du dich nur eine kurze Zeit geduldest, kommt unser Physiklehrer und wird uns die Türe öffnen. So hast du eine gute Entschuldigung, wenn du gleich zu spät zum Unterricht kommst.“
„Es tut mir leid, dass ich in dich hineingelaufen bin, ich habe gerade nicht aufgepasst.“ William lachte sie freundlich an.
„Dafür brauchst du dich wirklich nicht entschuldigen, aber sieh nur, dort kommt unser Lehrer.“ Er deutete mit dem Finger den Gang entlang. Der Physiklehrer öffnete die Klasse und ließ die Oberstufenschüler hinein. Julia griff sich schnell ihren Rucksack und stürmte wieder in größter Hast die Treppe hinauf. Sie kam zu spät: Die anderen waren schon im Raum. Ein Glück nur, dass der Lehrer sie ganz gut leiden konnte, sie war schließlich eine der besten Schüler in Mathe.
Als sie im Unterricht saß, war sie völlig unkonzentriert. Es war ihr peinlich, dass sie in William hineingelaufen war und sie dachte die ganze Stunde an wenig anderes.
Sie freute sich schon auf den heutigen Abend. Eine offene Jugendgruppe der Evangelischen Kirche fand jeden Freitag Abend statt. Es konnte jeder kommen und gehen, wie es ihm passte, wenn das offizielle Programm vorbei war. Im Programm wurde immer etwas gemeinsam gesungen und danach wurden Gesprächsgruppen gebildet um sich über ein Thema zu unterhalten, es wurden Spiele veranstaltet, mal einfach alberne, manchmal welche zum Nachdenken. Danach konnte man Tischfussball oder Billard spielen und Musikhören oder sich einfach mit den anderen unterhalten. Das alles fand im Gemeindehaus neben der Kirche statt. Als Christin lernt man viele nette Leute kennen, gerade zu solchen Gelegenheiten. Julia selbst war seit dem Konfirmandenunterricht Christ, und hatte seit dem schon viel mit Gott und anderen Christen erlebt.
 
Julia stand um fünf Uhr am Nachmittag vor dem Spiegel und betrachtet sich. Sie wollte sich noch fein machen, bevor sie zur Jugendgruppe ging. Sie sah in den Spiegel und übte ihr Lächeln. Sie machte allerlei Gesichtszüge nach und wollte mit Hilfe des Spiegels deren Wirkung auf andere testen.
Schließlich flocht sie sich ihren schwarzen Zopf zusammen und band sich ihr Haargummi darum.
Bald darauf stellte sie sich vor ihren Kleiderschrank und suchte nach dem Schulterlosen rotem T-Shirt und ihren kurzen dunkelblauen Shorts. So gefiel sie sich ganz gut. Sie suchte noch nach ihrem Sprühparfüm und war danach bereit, zur Busstation zu laufen um zum Gemeindehaus zu fahren.
                                                          
Viertes Kapitel
 
„Och bitte, komm doch einmal mit. Du solltest es dir wenigstens einmal anschauen, bevor du jeden Freitag zu Hause oder anderswo verbringst.“ Simone lehnte in Williams Tür. William drehte sich von seinem PC zu Simone um.
„Aber ihr seit doch alle jünger als ich. So wie ich es verstanden habe, werde ich dort der einzige meiner Altersgruppe sein und als solcher mitleidig belächelt werden, außerdem habe ich noch eine Menge vor. Ich muss bis Montag noch ein Referat über die `Grundlegung zur Metaphysik der Sitten´ von Immanuel Kant fertigstellen.“ Simone trat vom dem Türrahmen weg und tänzelte hinter ihren Bruder. Sie legte leicht von hinten die Arme um ihn und den Stuhl.
„Aber das ist doch Unsinn. Es sind viele in deiner Altersgruppe da, wirklich. Sie sind zwar nicht von deiner Schule, aber das wirst du bestimmt schon wissen. Was spricht dagegen sich einmal dort sehen zu lassen? Was dein Referat betrifft, dass wirst du auch noch am Wochenende leicht fertigstellen können.“
William seufzte und zog ein theatralisch gequältes Lächeln auf. Warum sollte er es seiner kleinen Schwester abschlagen. Er würde  wahrscheinlich zum ersten und zu letzten mal an diesem Abend dorthin gehen, aber wenn Simone wirklich etwas daran lag, warum sollte er sich verweigern. An diesem Abend würde er wahrscheinlich sowieso nicht mehr viel Produktives zu Wege bringen.
„O.K. Ich sehe es mir mal an, aber jetzt verschwinde, ich möchte noch etwas musizieren.“  „Au, fein.“ Simone löste ihre Arme und verließ das Zimmer. Es steckte keine tiefere Absicht dahinter, ihren Bruder mit zu der Jugendgruppe zu nehmen, sie wollte ihm eigentlich nur einmal die neue Jugendgruppe zeigen, die erst seit einem halben Jahr existierte, weil vorher die Mitarbeiter gefehlt hatten, eine solche Gruppe zu leiten.
William griff nach seiner Westerngitarre und setzte sich im Schneidersitz auf sein Bett. Er blickte durch das Nordfenster hinaus und ertastete dann in seiner Nachtischschublade seine Liedermappe.
Sie war weiß und enthielt fast zwei Dutzend von ihm geschriebene Lieder. Er suchte sich eines der neueren leicht melancholischen Lieder heraus und schlug die Saiten an. Die Gitarre war ein klein wenig verstimmt, aber das ließ sich leicht beheben. Er spielte und sang recht lustlos, denn die richtige Stimmung für diesen Text kam in ihm nicht auf.
„Take a look into my eyes and you find only affection for you.
There`s no reason to hide your tears, you know me, all my words are true.
There were times I felt as strange as you might feel today,
 just fold your hands and you get some comfort, god listens when you pray.
Now the band starts to play there last song.
Raise your head, you have been sad for too long.“
Vor seinem geistigen Auge sah er noch die Bilder der scheinbar endlosen Weite, wie er sie in Kanada direkt vor seinem Fenster hatte. Hier starrte er nur auf die Nachbarhäuser und den nahe gelegenen Wald. Dieses Lied hatte er nach einem Jungendpub Besuch geschrieben. Alkohol wurde in Kanada erst an 18-, in manchen Regionen erst an 21 Jährige verkauft. Das hatte ihn wenig gestört. Er hatte einige Bekanntschaften hinter sich lassen müssen, die ihm nun fehlten. Einige seiner neuen Freunde und Freundinnen dort vermisste er. Er seufzte noch einmal und legte dann die Gitarre neben sich behutsam auf sein Bett. Er ließ seinen Blick über das Instrument schweifen, aber seine Gedanken waren mit eben jenem Jugendpub beschäftigt, in dem er sich gerade zur Sofaecke gehen sah.
„William, what about your new song?“  Fiona, eines der Mädchen sah ihn fragend an, sie klopfte mit ihrer Hand auf den schmalen Platz neben sich. Er setzte sich neben neben sie. Es war sehr eng aber ebenso gemütlich. Jason, der auf der Couch rechtwinklig von ihm saß, ließ seinen letzten C-Akkord verklingen und reichte William die Gitarre. „Here, you can have it.“ 
„Oh no, do you really want me to sing? It´s O.K., but not unless you all sing with me together. I suppose you already know the text.“
„Yes, of course.“
Jason lachte. Sie alle hatten sein Lied schon viele male gesungen. Es war nicht das einzige, was in dem kleinem Ort seinen Runden in den Jugendpubs machte. In diesen christlichen Jugendpubs war primitive Techno und Dancefloor Musik verpönt, hier konnten noch alle selber singen. Wenn gerade niemand Rockmusik hören wollte, wurde einfach gesungen, und sie konnten es wirklich alle gut.
Fiona lehnt sich an ihn, als er spielte, es war wirklich eine schöne Erinnerung. Eine von vielen.
Laut, von dieser Gefühlswallung überwältigt, sprach er in seinem Zimmer: „Warum kann ich jetzt nicht dort sein. Kaum bin ich ein paar Wochen wieder zu Hause, schon wünsche ich mir nichts sehnlichster als wieder fort zu sein. Mark, Fiona, Jason, Liane, Johnny, Felice. Ich vermisse euch, könnt ihr euch das vorstellen? Wahrscheinlich sehe ich euch nie im Leben wieder, aber ich vermisse euch. Ich wünschte, ich hätte bei euch in eurem wunderbaren Land bleiben können.“
Er blickte wieder wehmütig aus dem Fenster. Diese wunderschönen Landschaften, die Berge, die Seen, all dies würde er lange nicht wiedersehen. William ergriff seine Gitarre am Hals und drückte sie sich an die Brust.
Heute abend würde er wieder unter Deutschen sein. Er lächelte müde und sprang dann auf die Zehen,  bald würde er gehen müssen, wenn er rechtzeitig zu Simones Jugendgruppe kommen wollte. Er sprach noch ein Gebet: „Oh Herr. Ich träume immer noch von Canada, wahrscheinlich werde ich noch lange davon träumen. Nehme mir diese Träume nicht und gib mir möglichst bald, in einigen Jahren, wieder die Gelegenheit dorthin zu kommen! Segne meine Freunde dort, und segne auch mich. Du bist überall gegenwärtig. Begleite mich gleich auch in die Jugendgruppe. Herr Jesus, ich danke dir, das du mich liebst und das ich zu dir beten darf. Amen“
 
 
                                                           Fünftes Kapitel   
 
„Sieh doch, Julia, da kommt Simone.“ Vera deutete zu einem der Fenster. Julia trat neben sie.
„Wen hat sie denn da mitgebracht, ich wusste gar nicht, das sie einen Freund hat. Julia lächelte Vera an, sie kam auch von einer ganz anderen Schule und kannte Simone bis zur Gründung der Jugendgruppe nicht.
„Das ist nicht ihr Freund, das ist ihr großer Bruder, er heißt William.“
Vera ging durch den überfüllten Raum mit den zwei Tischfussballtischen hindurch um die Tür zur unteren Etage des Gemeindehauses zu öffnen und Simone zu begrüßen. Julia folgte ihr zögernd. Sie fuhr sich unsicher durch ihr Haar.
„Hallo Vera, das ist ja ein netter Empfang. Du hältst mir doch sonst nicht die Tür auf.“
Simone lächelte spöttisch. Vera ging nicht darauf ein, sie musterte nur William schnell, der mit Blicken nach der Ursache des lauten Rumorens suchte, statt dessen aber Julia erblickte, die den Kopf schüchtern gesenkt hatte.
„Ich wusste gar nicht, das du einen Bruder hast.“
„Wie du siehst, habe ich einen, aber lass uns doch hineingehen, die Gruppenstunde geht ja schon in wenigen Minuten los.
Simone begrüßte auch Julia und William nickte ihr freundlich zu. In den Räumlichkeiten hielt William gleich Ausschau nach irgendwelchen Bekannten, die er tatsächlich fand: es waren zwei andere Jungen, die etwas jünger als er waren, aber sogar noch ein Stück größer.
Simone unterhielt sich mit Vera, die beiden Mädchen setzte sich auf zwei der vielen im Raum verteilten Stühle. Julia setzte sich dazu, beobachtete aber mehr das Geschehen umher. Sie erwischte sich ständig dabei, wie sie zu William hinüber sah.
Sie wusste auch nicht wieso, aber dieser Junge zog ihren Blick wie magisch an. Er war schon wieder sehr fein gekleidet, trug eine schwarze kurze Jeans mit Gürtel und ein kurzärmeliges dunkelblaues Oberhemd. Wie er wohl als Freund wäre?
Julia schüttelte ihren Kopf und kniff dabei ihre Augen zusammen. Absurd, so dachte sie. Warum musste Simone auch so einen blöden Bruder haben. Konnte er nicht klein, dick und hässlich sein, und furchtbar lispeln? Julia schämte sich gleich darauf für ihre bösen Gedanken. Eigentlich ärgerte sie es, das William sich mit diesen beiden Jungen, Jonas und Andreas unterhielt, als gäbe es nichts wichtigeres in der Welt, sie zum Beispiel! Sonst stand sie eher im Mittelpunkt des Interesses, aber da sie nun still bei Simone und Vera saß, interessierte sich niemand für sie. Julia stand auf und stellte sich an das Kopfende eines Tischfussballtisches, um dort Karin und Michael bei ihrem Spiel zuzuschauen. Nach einer Weile hatte sie endlich alles wieder vergessen und konzentrierte sich auf den kleinen Plastikball, der von einer Ecke zur anderen flog. Bald würde Thomas alle Anwesenden zusammenrufen um mit Ihnen gemeinsam zu singen und zu debattieren. Sie würde sich neben Simone setzen und William die ganze Zeit nicht angucken, auch nicht, wenn sie aus den Augenwinkeln bemerken würde, das er in ihre Richtung schaute. Sie würde ihn einfach nicht angucken.
 
Thomas, der Gruppenleiter rief schließlich alle zusammen. Er erzählte zuerst eine kurze Geschichte über Gottes Liebe zu den Menschen. Es war eine frei formulierte Geschichte in Anlehnung an die biblische Geschichte von dem reichen und korrupten Zöllner Zachäus, auf den Jesus persönlich zugegangen war, in einer Masse anderer Menschen. Zachäus kam zum Glauben, lud Jesus in sein Haus ein und machte alles, was er sich hatte zu Schulde kommen lassen aus Freude über Gottes Liebe zu ihm wieder gut.
Die Geschichte war in die Gegenwart versetzt worden. Es war eine überaus amüsante Geschichte, die nebenbei auch noch sehr belehrend wirkte, aber nicht im negativen Sinne. Bernd sprach darauf mit ihnen allen ein Gebet. Gebete befreien manchmal richtig, wenn man sich darauf einlässt, dachte Julia, als sie die Augen wieder öffnete. Gott hat uns wirklich zugehört und ist um uns in diesem Raum.
„Ich habe für uns ein paar Fragen entworfen, ich würde vorschlagen, wir machen vier Kleingruppen á fünf Leute.“
Bernd stand auf und gab den Jugendlichen Nummern von eins bis vier.
„Gruppe eins und zwei bleiben hier im Raum, Gruppe drei geht auf die Terrasse und Gruppe vier in den Nebenraum, ihr habt eine halbe Stunde Zeit.“
Die Gruppen standen auf. Julia blickte sich um, wer mit ihr auf die Terrasse gehen würde. Vera ging gerade durch den Ausgang, hinter ihr Michael und, verflixt, William!
Sie war die letzte, die auf die Terrasse trat. Es war warm und sonnig, der Wind rauschte durch die nahe stehenden Bäume und der einzige Platz, der am Terrassentisch noch frei war, war der neben William.
In ihrem Bauch kribbelte es nun und ihre Wangen wurden heiß. Julia stach sich wütend den Zeigefinger in ihren Bauch, als wäre dieser der Urheber allen Übels und setzte sich dann verspannt neben William. Ihr Herz klopfte auf einmal viel stärker als sonst und sie war nur darauf konzentriert jetzt nicht aufzufallen und normal zu atmen. Sie saß steif und unbeweglich auf ihrem Stuhl und hatte die Hände in den Schoß gelegt und ihren Kopf gesenkt.
„Tja, da sind wir nun. Da ich nicht im Bilde bin, wie ihr hier eure Kleingruppenarbeit gestaltet, fände ich es ganz nett, wenn mich einer von euch darüber aufklären würde. Wäret ihr so freundlich?“
William blickte um sich in die Runde. Simone hatte ihm erzählt, er wäre nicht der Älteste in dieser Jugendgruppe. Nicht, dass er es nicht befürchtet hätte, dass seine Schwester ihn einfach nur einmal dabeihaben wollte und dafür die wildesten Behauptungen in die Welt setzen würde nur um ihn zu überreden, aber er hatte zumindest darauf gehofft, das es noch andere Siebzehnjährige gäbe. Er sah Julia an, die die einzige der Jugendlichen war, die er beim Namen kannte.
„Was ist mit dir Julia? Wie handhabt ihr diese Kleingruppen?“
Als sie ihren Namen hörte durchfuhr sie einen Schock. Es war wie in der Schule, wenn man seine Hausaufgaben vergessen hatte und sich auf die Frage des Lehrers, wer die Hausaufgaben lesen wollte, keiner sich meldete und der Lehrer willkürlich einen aussuchte. Julia flüsterte zuerst mehr als dass sie sprach, bis sie sich wieder gefangen hatte.
„Ich, wir...wir haben einfach einen Schriftführer, der die Fragen stellt und aufschreibt. Dann diskutieren wir alle miteinander die Fragen.“ 
„Wer erklärt sich dazu bereit Schriftführer zu werden?“
William sah die zwei Jungen und zwei Mädchen der Reihen nach an. Vera meldete sich schließlich zu Wort.
„Wenn ihr nichts dagegen habt, werde ich Schriftführer.“ 
Die anderen gaben ihr Einverständnis.
 
                                                           Sechstes Kapitel
 
Es war eine scheußliche halbe Stunde, dachte Julia hinterher. Sie hatte sich die ganze Zeit darauf konzentriert nicht aufzufallen, hatte nur auf direkte Fragen etwas gesagt. Sie hatte sich völlig anders verhalten als sie es im Normalfalle in einer dieser Gruppen tat. Sie ärgerte sich darüber, was sie für ein Bild an William abgegeben haben musste, wahrscheinlich das `kleine Dummchen´ das selbst wenn es mal einen verwendbaren Gedanken hatte, sich nicht traute ihn auszusprechen. Der Ärger, der in ihr hochstieg, wurde auf William übertragen, der ja gar nichts dafür konnte.
Das Problem lag nur in ihrem Kopf, seine bloße Nähe hatte sie so in Aufruhr versetzt. Sie suchte sich eine stille Ecke in den kühlen Kellerräumen und betete: „Herr Jesus, was ist mit mir? Ich fühle mich ganz elend! William, Simones Bruder, du weißt doch...na, er spukt in meinem Kopf herum, ich stelle mich dämlich in seiner Nähe an, wo ich doch gerade zeigen möchte, wie ich wirklich bin. Herr, steh mir bei, lass mich lockerer auf ihn reagieren!“
Sie atmete auf. Den Gedanken aus welchen Gründen sie so auf William reagierte, verdrängte sie absichtlich aus ihrem Kopf! Sie weigerte sich diesen Gedanken genauer auszuführen, nicht nur, weil sie seit der Grundschule diese Gefühle nicht mehr in sich trug, sondern auch weil es der Bruder ihrer besten Freundin war, und weil er bestimmt nichts mit ihr zu tun haben wollte. Warum sollte sie ihn, der sicher besseres zu tun hatte, mit ihren Gefühlen belasten oder sich selbst gar falsche Hoffnungen machen?
 
Julia wollte gerade den kleinen Abstellraum im Keller verlassen, da hörte sie Gitarrenspiel und Gesang aus einem der zwei Nachbarräume.
Ihr Herz klopfte: Das musste William sein. Sie würde nicht ohne gesehen zu werden wieder aus dem Keller hinauskommen: der Raum, aus dem die Musik kam lag direkt am Flur. Sie verharrte mitten in der Bewegung und trat wieder zurück in das Dunkel der Abstellkammer. William sang so schön!
Sie verstand zwar kaum ein Wort des englischen Textes, aber die Musik und seine schöne Stimme klangen wunderbar. Ihr Herz klopfte die ganze Zeit und sie atmete flach.
`Gleich laufe ich zu ihm und umarme ihn´, dachte Julia. Sie schüttelte übertrieben verkrampft ihren Kopf, als würde sie dadurch den Gedanken los werden.
`Dieser Junge macht mich wahnsinnig´, zwang sie durch ihre zusammengebissenen Zähen heraus. Sie verzog gepeinigt ihr hübsches Gesicht. Sie hörte den schönen Gesang wie zum anfassen nahe und wollte am liebsten direkt zu dem Sänger laufen, blieb aber starr stehen.
`Hör auf zu singen und zu spielen, sonst verliebe ich mich noch in dich´, klopfte ihr Herz.
Der Sänger dachte nicht daran, er sang das furchtbare Lied bis zum bitteren Ende, ließ die Gitarre dann auf einem G-Dur Akkord ausklingen, seufzte und stieg leise summend die Treppe nach oben.
Julia blieb allein zurück und es brauchte viele Minuten, bis sie ihren Kopf wieder so klar hatte, das sie ebenfalls hochstieg.
Nun war es also doch geschehen, sie hatte sich verliebt, oh verdammt!
 
Julia überlegte, während sie eine Stufe nach der andern nahm, was sie jetzt tun sollte.
`Was macht dieser Junge noch? Es fehlt jetzt nur noch, das er schrecklich romantisch ist, alle kleinen Kinder von Herzen liebt und liebenswürdig und schüchtern ist. Verdammt, warum verliebe ich mich ausgerechnet in ihn, und nicht in irgend einen meiner Klassenkameraden? Die sind alle so gewöhnlich ich würde mir keine falschen Hoffnungen machen, ich würde einen normalen, unromantischen, langweiligen Jungen lieben.´
Julia öffnete die Tür aus dem Treppenflur hinaus und trat in die Räumlichkeiten, in denen die Jugendlichen umherliefen.
William war nicht zu entdecken. Draußen war er auch nicht, wie sie nach einem unauffälligen Inspektionsgang herausfand. Sie traute sich aber auch nicht, jemanden nach seinem Verbleib zu fragen: Er war gegangen, wahrscheinlich aus Langeweile.
Julia setzte sich auf einen der lackierten Klappstühle in die Sonne auf der Terrasse und fröstelte.
Den Rest des Abends dachte sie fast nur an die wenigen Minuten im Keller und manchmal auch, an die Kleingruppe auf der Terrasse. Sie fühlte sich Elend. Ob sie nun an einem Tischfußballspiel Teil hatte,  sich mit ihren Freundinnen unterhielt oder Gesellschaftsspiele mit ihnen spielte, so war sie doch niedergeschlagen.
Als es spät wurde, die Sonne war gerade untergegangen und es ging allmählich auf zehn Uhr zu, gingen die Besucher des Jugendkreises nach und nach. Julia saß alleine auf einer Bank der Terrasse und blickte in die Richtung, wo vor kurzer Zeit die Sonne untergegangen war. Simone trat aus der Terrassentür und setzte sich neben ihre Freundin.
„Sag mal, was ist los mit dir, du sahst den ganzen Abend schon nicht besonders glücklich aus.“
Sie rutschte an Julia heran und legte den Arm um sie, Julia zuckte ein wenig zusammen, ließ die leichte Umarmung aber über sich ergehen, es war ihr eigentlich sogar ganz angenehm.
„Och, nichts von Bedeutung.“
„Sag schon, an der Schule kann es bei dir ja nicht liegen! Hast du zu Hause Stress? Nein, das glaube ich auch nicht, du warst ja anfänglich noch gut gelaunt... Also entweder..“ Führte Simone ihren Gedanken zu Ende „..entweder, du hast heute einfach einen schlechten Tag, aus nichtigen Gründen, oder du hast Liebeskummer.“
Julia zuckte in Simones tröstenden Arm. Ihr schoss wieder dass Blut in die Wangen. Es war ein Scheißtag dachte sie. Simone hatte auch ein Gespür für ihre Gefühle, wie es sonst niemand hatte.
„Ach Unsinn, wie kommst du darauf, ich habe einfach nur einen schlechten Tag! Manchmal denkt man einfach, man kann nichts und ist zu nichts nütze.“
„Hast du schon mit Gott darüber gesprochen?“ Simone sah sie an. Nein, das hatte sie nicht. Sie war so mit ihrem Schmerz und Sorgen beschäftigt gewesen, das sie ganz vergessen hatte, wie befreiend ein Gebet wirken konnte, wenn man sich wirklich darauf einließ Gott durch die Ruhe zu sich reden zu lassen.
„Nein, du hast recht, ich werde, sobald ich Zuhause bin, mit Gott reden,“ meinte sie nun fröhlicher.
„Na siehst du, und was deine Gedanken angeht, du wärst zu nichts nutze, die kann ich dir auch nehmen. Ich bin froh, dass du meine Freundin bist und wenn dir dass nicht genug ist, Gott ist auch froh darüber, das es dich gibt.
Julia lächelte ehrlich: diese Gedanken zu nichts nütze zu sein, waren die Folge, das sie William liebte, der so sehr viel mehr Begabungen und Qualitäten aufzuweisen hatte als sie und sie ihm nichts zu bieten hätte.
„Jetzt brauchst du mir nur noch zu sagen, was ich gut kann, und ich bin wieder einigermaßen zufrieden.“
„Du kannst zum Beispiel ganz toll zuhören, wenn ich etwas zu erzählen habe, glaub mir, das können nicht alle. Du kannst schön singen, auch wenn du es noch so oft bestreitest, du singst viel schöner als ich! Du bist gut in der Schule, aber kein bisschen arrogant sondern hilfsbereit und verständnisvoll, du bist liebenswürdig und ehrlich und eine wunderbare Freundin!“
Julia lächelte Simone dankbar an: „Danke.“
„Nichts zu danken, und noch etwas: Ich musste nicht eine Sekunde überlegen, was du alles kannst und bist, daran siehst du, das alles, bis auf das letzte Wort wahr ist.“
„Ich danke, dir Simone. Ich bin auch froh, dass ich dich als Freundin habe.“
Julia lehnte sich zurück und blickte an den noch hellen Nachthimmel. Auch wenn dieser Abend ganz anders verlaufen war, als sie es sich vorgestellt hatte, so war sie doch froh darüber, dass sie sich nun über einiges im Klaren war. Irgendwo würde sie William außerhalb der Schule schon wieder sehen, und sei es durch einen Besuch bei Simone. Vielleicht würde sie ja auch alles, was sie empfunden hatte wieder vergessen, obwohl sie sich das im Moment gar nicht vorstellen konnte.
`Wir werden sehen´, dachte sie sich bei sich, vielleicht könnte es mit William wirklich etwas werden.
Sie wusste zwar nicht, wie sie es anstellen sollte ihm beizubringen, dass sie ihn mochte, aber irgendwie würde es schon gehen. Irgendwie.
 
                                                          
Siebtes Kapitel
 
Da stand er und lachte mit seinen Stufenkameraden zusammen, als gäbe es nicht wichtigeres. Und dieses Mädchen, dass er ständig anlächelte, was hatte sie mit ihm zu schaffen, dass er sie so lieb anschaute. Was müsste sie tun, damit er sie ebenso anschaute? Sie war ja nur die „Kleine“, Simones Freundin.
Julia war so verärgert und aufgebracht über William, das sie fast heulen wollte vor Kummer.
Ja, dachte sie, in meinem Alter schwebt man von der Gefühlswelt mal zwischen Himmel und Abgrund, man pubertiert ja schließlich, aber wenn man den Abgrund am eigenen Leibe zu spüren bekommt, ist dies etwas anderes, als wenn man sich nur die Predigt seiner Mutter anhören muss.
Sie fühlte sich sterbenselend. Sie war mit Simone verabredet, wollte zu ihr nach Hause kommen, und nun hatte dies eine Mädchen nur noch Augen für William, wie es schien. Sie lächelte ihn unentwegt an und versuchte ihn in eine Unterhaltung zu verstricken. Dieses blonde Gift. Sie war froh, als der Pausengong schlug, und sie endlich aus der Pausenhalle hinauskonnte. Was hatte diese blonde Kuh, was sie nicht hatte? Sie sah noch nicht einmal besonders gut aus, sie war höchstens älter als sie!
Vielleicht, so sammelte Julia ihre Gedanken, vielleicht reagierte sie nur übertrieben eifersüchtig.
Wieder saß sie im Schulunterricht und ärgerte sich, dass sie sich ausgerechnet in William verguckt hatte. Sie war so unkonzentriert das sie, als ihr Französischlehrer sie unverhofft aufrief, nur entschuldigend stottern konnte, dass sie geträumt und die Frage nicht mitbekommen hätte.
 
Bei sich daheim kniete sie auf ihrem Bett, und saß Richtung Fenster. Sie schloss die Augen und betete:
Jesus, was kann ich tun? Du weißt, ich habe mich in William verliebt, aber was soll nun werden? Wenn du es warst, der das veranlasst hat, dann hilf mir bitte einen Weg zu finden, aus dieser Liebe etwas zu machen, dass weniger einer Katastrophe ähnelt, als es es jetzt tut. Jesus, steh mir bei und begleite mich jetzt auch zu Simone.“
Später stand sie in Simones Zimmer, sie hatte sich anklippbare Ohrringe von ihrer Mutter geliehen und war aus sonst für einen Besuch bei einer Freundin viel zu fein herausgeputzt. So hatte sie ihre Entschuldigung auf die unvermeidbare Frage von Simone schon parat.
„Ich dachte, wir könnten heute ins Kino gehen, wir waren schon so lange nicht mehr da, vielleicht läuft ja heute ein guter Film.“
„Ja...ja! Das ist keine schlechte Idee, wir könnten wirklich einmal wieder ins Kino gehen. Du hast doch bestimmt an die Frühvorstellung gedacht?“
„Das ist mir eigentlich egal, wir haben heute ja Freitag, da dürfte ich auch etwas länger wegbleiben.“
„Ja, warum nicht einmal dann ins Kino gehen, wenn die Älteren auch gehen. Das wäre zwar unser erstes mal, aber ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht.“
„Was macht eigentlich dein Bruder so an seinen Abenden, lernt er immer noch für die Schule nach?“
„Mein Bruder? Ach, Unsinn, er schreibt gerade ein neues Theaterstück, sagte er mir. Worüber wollte er mir nicht verraten, aber ich wette, es ist irgendeine Liebesgeschichte. Sonst wüßte ich nicht, was er macht. Manchmal spielt er Gitarre oder sieht Fern, aber Besuch hat er selten. Warum fragst du?“
„Reines Interesse. Er hat sich also schon wieder richtig eingelebt?“
„Na ja, das kann ich auch nicht sagen. Er war halt immer schon ein wenig komisch. Jetzt sitzt er an manchem Nachmittag stundenlang in seinem Zimmer, und ich weiß nicht was er macht, manchmal erzählt er auch noch ganz schwärmerisch von Kanada und seinen Freunden und Freundinnen dort, dann wird er später immer ganz schwermütig...er ist schon komisch, steigert sich oft zu sehr in ein Gefühl hinein! Aber ich rede hier die ganze Zeit und schwatzte, soviel wolltest du sicher gar nicht wissen.“
„Och, das macht nichts, ich höre dich gerne erzählen.“ 
„Da bist du eine von wenigen! Meine Eltern stoppen mich immer, wenn ich in der Rede wieder ausbreche und von Dingen Rede, die im Grunde niemanden außer mir interessieren.“
„Wirklich, über mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen, wenn mich dein Mut zur langen Rede stören würde, wäre ich ja schließlich nicht deine Freundin.“
„Ich hoffe, ich darf das als Kompliment verstehen, ansonsten wäre ich jetzt beleidigt,“ lachte Simone.
„Wenn du willst, können wir ja mal zu William `rüber gehen, vielleicht verrät er uns dann etwas mehr über sein Theaterstück.“ 
„Warum nicht.“ Julia stand von Simones Sofa auf. Die beiden Mädchen gingen zu Williams Tür, die weit offen stand. William saß am PC und tippte einen Text, als er die Beiden bemerkte, ließ er den geschriebenen Text auf dem Bildschirm soweit nach oben fahren, dass man nichts mehr von ihm entdeckte.
„Warum machst du die Tür nicht zu, wenn du doch nicht willst, das einer ließt was du da gerade schreibst,“ fragte Simone ihren Bruder.
„Oh, das wird wohl eine meiner Angewohnheiten aus Kanada sein, die offene Tür meine ich: Dort wird eine geschlossene Tür zu einem Privatraum so wie ein übergroßes Verbotsschild angesehen. Die Türe zu schließen hieße, dass man unter keinen Umständen gestört werden möchte, es sei denn es brennt. Dort schließt man die Tür nur, wenn man sich umziehen oder schlafen will, oder dergleichen.“
„Schon gut, schon gut, ich wollte keine wissenschaftliche Analyse über deine offene Tür zu hören bekommen, verrate mir lieber, was du da gerade schreibst.“ Simone ging wieder zu Williams Stuhl und legte ihre Arme um ihn und den Stuhl, ihr Kinn lag auf Williams Schulter und sah über sie auf den leeren Bildschirm des Schreibprogrammes.
Julia sah die beiden an. Liebte sie William wirklich, oder hatte sie sich nicht alles nur eingebildet? Wenn Simone ihn so umarmte, war es einfach nur der Bruder ihrer besten Freundin, nicht mehr und nicht weniger. War es nur der Konkurrenzkampf und die aussichtslose Situation, ihn für sich gewinnen zu können, die ihn für sie so interessant gemacht hatte?
Oder war es wiederum nun diese Nähe und die gute Gelegenheit, die sie so ruhig stellte, und ihre Eifersucht und ihr Leid fortnahm? Nun war sie William ganz nahe, ohne gleich darum auffällig zu wirken: sie war sogar von Simone darauf hin angesprochen worden, ob sie mit zu William hinüber gehen wollte!. Er saß nun da, trug ein weißes Hemd, das er nur halb zugeknöpft hatte und lächelte lieb auf den Bildschirm.
„Ach, ist es das, weshalb du dich hier in mein Zimmer stiehlst und das kleine liebe Mädchen spielst?“
„Und wenn es so wäre?“ Simone drückte ihr Kinn noch fester auf Williams Schulter.
„Dann würde ich dem lieben, kleinen Mädchen sagen, dass sie dass überhaupt nichts anginge.“
„Wenn du es nicht sagst, halte ich dich noch lange so fest.“ 
„Wenn das deine schlimmste Drohung ist, habe ich keine Bedenken, dir nichts zu verraten,“ schmunzelte ihr Bruder.
„Julia möchte es auch gern wissen, sie könnte mir ja helfen, dich zu stören.“ William stöhnte theatralisch und löste die Arme seiner Schwester.
„Es reicht mir schon, wenn du alleine da bist: ich kann nicht schreiben, solange du dich hier herumtreibt, also werde ich dich und deine Freundin einweihen, damit ihr beiden Quälgeister möglichst schnell wieder verschwindet.“
William erhob sich, Julia ärgerte sich über das „Quälgeister“. Als wenn Simone und sie noch kleine Kinder wären!
„Ich schreibe gerade an einem Theaterstück zur Zeit der Renaissance, dass sich sicher auch im Deutschunterricht noch ganz gut verwenden lassen wird. Wenn ihr wollt, könnt ihr mir bei einer Szene, die ich gerade fast fertig geschrieben habe, assistieren. Es handelt sich dabei um eine Liebesszene.“
Julias Herz begann wieder zu klopfen.
„Wie meist du das, assistieren? Was sollen wir genau tun, wenn wir mitmachen würden?“
„Oh,“ William gab dem Computer einige Befehle, dann begann der Drucker Papier einzuziehen und zu bedrucken „Ich dachte daran, dass ich mit eurer Hilfe, die Glaubwürdigkeit und Emotionalität meiner Texte überprüfen könnte, indem wir einen Ausschnitt aus einem Akt, die dritte Szene, nachspielen. Ich gebe euch die Rollen und die Texte und ihr spielt mit mir zusammen die Handlung nach.“
„Toll, ich mache mit. Du auch, Julia?“ Sie blickte zu ihrer Freundin hinüber, die schüchtern im Türrahmen stand.
Julia nickte: „Ja, ich werde auch mitmachen.“
„Schön,“ freute sich William. „Also, bevor ich euch eure Rollen gebe, erkläre ich euch noch ein wenig über das Stück allgemein, wenn ihr nichts dagegen habt. Setzt euch!“
William wies auf sein Bett hin, was außer seinem Schreibtischstuhl die einzige Sitzmöglichkeit in seinem kleinen Zimmer war.
„Nun, in dem Stück geht es um einen jungen Handlungsreisenden, der sich in Florenz in eine Tochter der reichsten und mächtigsten Familie der Medici verliebt. Die Eltern seiner großen Liebe haben aus wirtschaftlichen und politischen Gründen aber eine andere Hochzeit geplant. Die Tochter jedoch flüchtet mit dem jungen Mann, die beiden können aber die Stadt noch nicht verlassen, weil die Medici die ganze Stadt, unter dem Vorwand der Befürchteten Spionage einiger Spitzel aus dem Vatikanstaat, haben abriegeln lassen. Es darf natürlich nicht  öffentlich werden, das ihre Tochter verschwunden ist, erst recht nicht aus welchem Grund! Ihr Ehemann aus der zweitmächtigsten Familie, der Pazi, würde sich auf die Hochzeit sonst nie einlassen. Geschichtlich gesehen ist auch nie eine Hochzeit zwischen den beiden Familien zustande gekommen, nur einige Messermorde.“
„Und? Was haben wir nun für Rollen?“ Simone sah William strahlend an.
„Du denkst wie immer sehr offensiv und praktisch...,“ William schmunzelte. „Wenn du mir einen Satz mehr gegönnt hättest, wäre dieser, den ich gerade spreche, überflüssig gewesen. Die Szene, die ich mit euch spielen möchte spielt auf einem der Landsitze der Medici in Florenz, die beiden Liebenden, ihre Namen sind übrigens Emilia und Claudio, sitzen in den Gemächern der Emilia. Emilias Zimmermädchen, die als einzige in die tragische Liebe ihrer Herrin eingeweiht ist, wacht über die Zimmer, daß niemand von dem Herrenbesuch Wind bekommt. Sie kommt hin und wieder in das Zimmer und sieht nach den beiden.“ William nahm die fertig ausgedruckten Seiten von dem Drucker.
Simone schmunzelte Julia an: „Na, was sagst du? Ich finde du solltest die Emilia spielen, ich müsste bei dieser Rolle bestimmt immer lachen und würde die ganze Spannung zunichte machen!“  Julia, die wieder ganz ruhig geworden war, wurde nun wieder in Aufregung versetzt: sollte sie die Rolle nehmen, ein zweites Mal würde sie bestimmt nicht gefragt werden, wenn sie ablehnte, und außerdem, was könnte es schon schaden?
„Wenn du sie nicht willst, von mir aus.“ 
„Na wunderbar, dann bin ich das besorgte Zimmermädchen.“
Simone sprang von dem Bett auf und verzog ihr Gesicht, so wie sie sich vorstellte wie eine alte besorgte Frau aussehen müsste. Ihre Stimme verstellte sie ebenfalls.
„Oh, Frollein, Frollein, ihr glaubt es nicht, dort draußen sah ich eben euren Herrn Bruder über die Flure eilen, versteckt euch, versteckt euch geschwind, das er euch nicht sieht.“ Sie lachte Julia an, William klopfte ihr mit den Dialogbogen leicht auf die Schulter.
„Ganz so sieht es nicht aus, außerdem ist mein Zimmermädchen wirklich noch ein `Mädchen´, was heißen soll, dass sie nicht älter als Emilia selbst ist. Die Mädchen damals wurden immer sehr früh verheiratet als sie noch jung waren, meist mit nicht mehr als 16 Jahren. Hier habt ihr eure Texte, einmal das Zimmermädchen Giuliana,“ er gab Simone zwei Seiten „und einmal die schöne Emilia.“ Julia blickte William genau an, als er ihr die Seiten gab, aber sie konnte nichts außergewöhnliches an seinem Gesicht oder dem Klang seiner Stimme feststellen, er war einfach nur freundlich zu ihr.
„Fangen wir gleich an? Komm, Julia, setzt dich zu mir auf das Bett. Simone, du stehst gleich hier am Bett, schaust aber in eine andere Richtung, stell dir vor, dort hinten wäre eine Tür. Dorthin wirst du gleich gehen.“ Die beiden Mädchen taten wie geheißen. Ein wenig komisch fühlte Julia sich schon William gegenüber auf seinem Bett zu sitzen.
William zupfte sein halboffenes Hemd auf seiner Brust zurecht und holte tief Luft um möglichst emotionsbetont seine Rolle lesen zu können.
„So sprich, mein Herz, mein Augenstern, was bedrücket dich gar so hart? Nicht ein einz`ges Lächeln sah ich heut auf deinen Lippen! Wo es sonst doch nur so wenig bedarf dir eines zu entlocken.“
Julia konzentrierte sich auf den Text.
„Ach, mein Schatz, so wenig sagst du, bräuchte es mich Lachend zu machen? So viel braucht es auch, mir ein Lachen zu nehmen. Du weißt um meine Sorge: meine eiserne Frau Mutter würde sich alle Haare ausraufen, wenn sie auch nur erführe, das ich dich, liebster Claudio, liebe! Oh wenn wir nur eine Lösung hätten, wenn du eine weißt so rede, wie soll es nun weitergehen?“
Sie hatte sich nicht einmal verlesen, trotz des schwierigen Textes, außerdem war es ihr sogar gelungen noch ein wenig die richtigen Textpassagen zu betonen.
„Oh, ich bin mir nicht Gewiss. Die Gefahr wär` groß, der Weg mehr denn mühsam, der Ausgang in weiter Ferne...für unser Glück vermag ich’s nicht zu bürgen, doch wenn du, meine Emilia, wenn du nur den Mut hättest, mir deine zarte Hand vertrauen würdest...“
„So sprich doch, mein Claudio, zögere nicht und rede. Nicht eine Bitte, die du dir ersinnen könntest, wäre ich bereit dir abzuschlagen. So sprich nur, ich sage zu!“
William war ganz in seinen Text vertieft und beachtete auch seine dazugeschriebenen Regieanweisungen. Er ergriff Julias Hand bevor er die nächsten Worte las. Julia verlor all ihre Konzentration und Selbstbeherrschung, ihr Herz blieb plötzlich stehen und sie stockte mitten im Atemzug, ihr schoss das Blut in die Wangen. `Oh bitte bemerkt es nur nicht, bemerkt es nicht´, bat sie stumm zu Simone und William.
„Auf denn, meine ängstliche Seele!...Meine Emilia, willst du, kannst du mit mir fliehen? Flüchten aus dieser Stadt, diesem verbittertem geldgierigen Haus, vor deinen Eltern, die dich weniger Schätzen, als das Geld, welches sie mit dem Verkauf deiner Seele und Körpers verdienen können? Willst du mit mir flüchten, in eine ungewisse Zukunft und fremdes Land, leben nur von dem Geld, dass ich mit mühsam verdiene? Emilia, meine Herzensdiebin, möchtest du meine Frau werden?“
„Das ist ja zum schießen,“ lachte Simone laut dazwischen. „Hast du wirklich all diesen schnulzigen Kram verfasst? So etwas hätte ich dir gar nicht zugetraut. Und die arme Julia muss dein Opfer spielen?“
Julia kämpfte mit sich selbst, William hatte ihre Hand immer noch nicht losgelassen, schien völlig in Gedanken zu sein.
„Wieso nicht? Eine bessere Emilia hätte ich zum Proben bestimmt nicht finden können. Außerdem fordert diese archaische Sprache doch geradezu eine solche `schnulzige´, wie du es nanntest, Überspitzung heraus.“ William lächelte seine kleine Schwester an, Julia schluckte, sie bewegte ihre rechte Hand keinen Millimeter, solange William sie in seiner hielt.
„So, wollen wir weitermachen? Wir sind noch nicht ganz fertig?“ Er sah die beiden an. Julia nickte, sie spürte, dass sie feuerrote Ohren haben musste. Sie hielt sich mit ihrer Linken den Text wieder vor die Augen.
„Ist es wahr? Hast du das gehört mein gutes Herz? Diese Worte? Oh du mein Claudio. Ich will! Ich will mit dir ziehen, wo immer es dich hin verschlägt! Hast mir mit diesen Worten mehr geschenkt, als ein anderer Mensch es je vermocht hätte: Ich will mit dir fliehen, nur nimm mich jetzt in die Arme!“
„Herrin, Herrin. Verzeiht, oh verzeiht, dass ich störe, aber ihr müsst euch sputen. Ich vernahm eures Vaters schweren Schritt. Er eilt zu euch. Herr Claudio, versteckt euch, verschwindet schnell!“
Simone unterbrach ihre gespielte Hektik wieder und quengelte belustigt ihren Bruder an:
„Och, das ist doch langweilig, gerade jetzt muss das Zimmermädchen die beiden stören, kann der Vater nicht wann anders kommen?“ William ließ Julias Hand los um zu gestikulieren:
„Sicher könnte er, aber du siehst doch schon an deiner eigenen Reaktion, das du nicht das bekommen hast, was du gerne sehen wolltest, so muss wie du später jeder, der auf diese Szene wartet, sich noch ein wenig länger gedulden. Die Spannung wird so doppelt erhalten: Das Liebespärchen muss noch fliehen und sie müssen sich noch ein wenig herzen. Darauf warten ja die Zuschauer nur.“
„Und wer wird später in diesem Theaterstück den Claudio, wer die Emilia spielen?“
„Nun, das weiß ich noch nicht. Ich bin selbst darauf gespannt, wer die Rollen annehmen wird.
Wie gefällt euch denn der winzige Ausschnitt, den wir gerade gespielt haben?“ Er sah Julia mit seinen schönen dunklen Augen an.
„Ich, ich finde es ganz schön, ja wirklich! Du hast es sehr schön geschrieben.“ Er lächelte sie dankbar an. „Danke. Ich werde mal sehen, was ich noch daran machen kann. Du hast übrigens eine ganz klasse Emilia abgegeben!“
„Danke.“
„Und jetzt? Willst du weiterschreiben?“ Simone blickte auf den PC-Bildschirm.
„Das hatte ich mir eigentlich gedacht.“
„Dann wollen wir dich nicht weiter stören. Woll`n wir gehen Julia?“
Julia erhob sich. „Tschüs,“ nickte sie William zu.
 
In Simones Zimmer setzte sie sich auf die Couch.
„Ich wollte ja eben nichts sagen, aber du warst ja total verspannt.“
Julia fuhr zusammen, bekam sich aber wieder rasch unter Kontrolle: „Ach, Unsinn. Ich war nur ein bisschen nervös, ich wollte mich ja schließlich nicht verlesen.“
Simone versah sie mit einem schwer zu deutenden Blick, fing dann aber wieder an zu Lächeln, es war ein richtiges Grinsen: „William gefällt dir, nicht?“
Julia war wie gelähmt, sie sagte nichts mehr.
Simone erhob sich von ihrem Bett und setzte sich neben Julia auf die Couch, sie legte den Arm um ihre Freundin und sprach leise in ihr Ohr.
„Meine beste Freundin hat etwas für meinen Bruder übrig...Julia...ich weiß nicht was ich sagen soll...mach dir nichts daraus: ich kann etwas für mich behalten, kein Wort wird über meine Lippen kommen.“  Simone gab Julia einen kleinen Kuss auf die Wange.
„Komm schon, das ist doch nichts Schlimmes. Weißt du was, wir gehen jetzt erstmal in die Stadt und kaufen uns Eis, und heute Abend gehen wir ins Kino, wie ausgemacht. Wir machen einfach den ganzen Tag nur was uns gefällt, O.K.?“ Sie gab Julia einen Rippenstoß.
„Komm, das wird uns Spaß machen. Oder schlage du `was vor, ganz wie du willst!“ 
Julias Bauch kribbelte immer noch und sie spürte das Blut an ihren Schläfen pochen. Simone wusste alles.
Ja, sie wollte mit ihr Eisessen und ins Kino gehen, bloß weg von hier. Sie wollte sich erst einmal sammeln.
„Wollen wir gehen?“ Simone fuhr mit ihrer Hand durch Julias Haar. Julia sprang auf.
„Ja, gehen wir.“
 
                                                           Achtes Kapitel
Julia wünschte sich nichts sehnlichster, als einfach nur bei William zu sein. Oh ja, sie saß neben ihrer besten Freundin Simone, der Kinosaal war verdunkelt, es lief Werbung und sie, sie dachte an William.
`Bin ich irgendwie annormal?´, Julia fasste sich mit beiden Händen an die Stirn und drückte sie hart an den Kopf. Sie lockerte den Druck wieder. Es war wie bei einer Akupunktur, dachte sie, Schmerz mit Schmerz bekämpfen, doch da bestand wenigstens noch Aussicht auf Linderung. Ihr Schmerz kam von innen, dann spannte sie ihre Muskeln und hielt sie gespannt um ein wenig ihres inneren Druckes loszuwerden. Der Kinosaal war dunkel und sie musste nicht befürchten, dass irgend jemand auf sie achtete. „Oh Gott, ich fühle mich furchtbar, eine echte Tragödie, jetzt wünsche ich mir schon, ich hätte ihn niemals kennengelernt. Ich...muss ständig an ihn denken und befürchte, er könnte eine andere Freundin bekommen. Oh Gott, hilf mir, ich komme mit diesen Gefühlen nicht klar,“ bat sie in einem geflüsterten Stoßgebet.
Simone lachte und zupfte Julia an ihrer Bluse, ohne sie anzugucken: „Hast du das gesehen, die Werbung ist vielleicht ätzend.“
Julia versuchte sich ein Lächeln abzuringen, was ihr nicht ganz gelang: „Jetzt werde ich auch noch schwermütig“, jammerte sie leise zu sich.
Der Film lenkte sie ab, sie vergaß, was sie den ganzen Tag beschäftigte, saß dann aber vor dem Schlafengehen wieder in ihrem Bett. Julia sprang auf um in das Badezimmer zu gehen. Sie stellte sich vor den Spiegel. Sie besah sich genau: Warum sah William sie nicht genauer an, so, wie man ein Mädchen, an dem man eben interessiert ist ansieht?
`Quälgeist´ hatte William Simone und sie genannt, wie Kinder. Sie war kein kleines Kind, sie war 15 Jahre alt! In ihrer Klasse war sie beliebt. Bestimmt war William sehr viel erwachsener als sie, aber...aber...
Julia seufzte, sie hatte sich viel mit Simone unterhalten, nach dem Kinobesuch. William würde am Samstag, also Morgen auf eine Party gehen. Eine Party von einem Mädchen aus seiner Stufe. Es war eine solche Art Party, zu der man hingehen konnte, wenn man Eintritt bezahlte. Die, welche eine Einladung hatten, kamen kostenlos hinein. Sie hatte mit Simone abgesprochen, dass sie dorthin gehen würden, der einzige Lichtblick, der ihr an diesem Abend blieb.
Um in der Bibel zu lesen war sie jetzt zu müde. Sie betete noch ein schnelles Gebet und schlief danach sofort ein.
 
„Geht das in Ordnung? Acht Uhr heute abend? Ich hole dich dann ab, steh` aber vor der Tür, ich habe keine Lust noch zu klingeln.“
„Keine Angst,“ lachte William ins Telefon „ich werde schon um zehn vor acht vor der Türe sein und nach dir Ausschau halten.“
„Du weißt, ich fahre auch noch Benedikt und Vanessa. Die hat übrigens eben noch nach dir gefragt.“
„Was du nicht sagst,“ William lächelte.
„Doch, ihr war sehr daran gelegen, von mir die positive Antwort auf ihre Frage zu bekommen, das heißt, sie war sehr froh, als sie erfuhr, dass du auch mitkommst,“ lachte Michael.
„Nicht das ich neugierig wäre, aber meinst du das so, wie ich meine, dass du es meinst?“
„Ich weiß zwar nicht, was du meist, was ich meine, aber wie ich dich einschätze: ja! Schätze dich glücklich darüber, ich zumindest würde es. Vanessa ist ein Schatz!“ 
„Ich bin `mal gespannt. Also, dann bis acht.“
„Tschau.“ William hörte es im Hörer klicken, legte dann auch auf.
Es ist ein schönes Gefühl sich beliebt zu wissen. Das war schon die dritte Party auf die er in dieser kurzen Zeit eingeladen wurde.
`Wenn es so weitergeht, wird es mir leichter fallen Kanada wieder zu vergessen, nunja, nicht zu vergessen, sagen wir: weniger daran denken zu müssen´, dachte er. Es war eine erstaunliche Erfahrung: je übler man sich aufgrund äußerer Umstände fühlte, desto mehr klammerte man sich an schöne Erinnerungen, umgekehrt galt das gleiche Gesetz.
Vanessa also. Sie war genauso nett wie Fiona. Fiona hatte ihn noch mit Tränen in den Augen umarmt, als er zu der Gangway des Flugzeuges gehen musste. Sie hatten sich sehr gemocht, doch was will man machen, es liegt ja eine halbe Welt dazwischen! William holte aus einer Schreibtischschublade ein Foto von ihr. `Like you, Fiona´ hatte sie darauf geschrieben. Er seufzte und drehte seinem Stuhl wieder seinem PC zu. Es waren erst sechs Uhr, noch zwei Stunden bis Michael, Vanessa und Benedikt ihn mit dem Ford abholen würden.
„William?“ Er dreht sich um, seine Schwester stand in der Tür und trat jetzt neben ihn.
„Sag, die Party heute Abend, wann geht die genau los?“ Er zog fragend die Brauen hoch. Simone lächelte verlegen zurück.
„Weißt du, bei mir in der Klasse ist zur Zeit tote Hose und ich habe noch etwas Geld übrig. Ich und Julia wollten auch vielleicht auf die Party gehen.
William schmunzelte nachdenklich. „Das ist aber gar nicht eure Altersgruppe, es werden alle etwa drei oder vier Jahre älter sein als ihr.“
„Du bist doch auch nur zwei Jahre älter als ich und Julia.“
„Ja, O.K., das stimmt schon, ich werde aber auch bald 18 und die meisten in meiner Stufe sind älter als ich.“
„Wir kommen schon zurecht, uns wird schon keiner krumm kommen.“ 
„Mm, passt aber auf euch auf, es wird dort zwar ganz manierlich abgehen, ja es wird sogar getanzt werden, was nicht selbstverständlich ist, aber du und Julia müsst schon aufpassen, hübsche Mädchen werden auch von Älteren nicht immer übersehen.“ 
„Blöder Spruch! Was glaubst du, interessiert uns an dieser Party? Außerdem kannst du ja immer noch dazwischen gehen, wenn dir was nicht passt, aber hüte dich ja davor! Wann also?“
„Bitte?“
„Die Party, wann sie beginnt, wollte ich wissen.“
„Ach ja, um acht.“
„Wir sehen uns, tschüss,“ Simone wandte sich um und verließ den Raum. William verzog seine Mundwinkel und kratzte sich am Kinn, Seine kleine Schwester und ihre hübsche Freundin wollten auf die gleiche Party wie er gehen, er hoffte nur, seine Stufenkameraden würden sich so rücksichtsvoll zeigen, dass sie die Beiden respektvoll behandeln würden. Es wäre ihm im höchsten Grade unangenehm, wenn jemand die beiden Mädchen im alkoholgeschwängerten Zustand `anmachen´ würde! Er würde sich dann genötigt fühlen einzugreifen. Wobei es bei Mädchen dieser Altersgruppe wohl Gang und Gebe ist, mit älteren Jungen zu flirten. „Es hat bestimmt schon seinen Reiz, so eine junge, niedliche Freundin zu haben“, murmelte William vor sich hin „aber Kinder, die noch gar nicht wissen, was sie da an ihren Freunden haben, in den Armen zu halten ist irgendwie nicht ganz in Ordnung. Nun ja, manche Mädchen sind schon früh reifer als andere, aber reifer heißt nicht erwachsener. Je eher sich ein Mädchen in einen Jungen verguckt, desto eher hört es auf ihre Persönlichkeit zu entwickeln.“ Er lachte über seine Gedanken, eine zwanzig Jahre alte Emanze, die sich selbst und ihre Lebensweise mehr liebte als sonst etwas auf der Welt könnte er auch nicht attraktiv finden, aber mit einem Mädchen zu tanzen, von dem er wüsste, das für sie dieser Tanz ihr Leben bedeutete, dass noch nicht einmal sechzehn Jahre alt wäre, könnte er auch nicht verantworten.
„Schön, dass ich mir über solche Kleinigkeiten Gedanken machen kann und keine ernsthaften Sorgen habe“, schmunzelte William und griff wieder in die Tasten.
 
„Komm, steig ein.“ Vanessa lachte ihn an und deutete auf den Platz neben ihr auf der hinteren Bank des Autos, William schwang sich in den Wagen.
„Ich bin mal gespannt, was Karin heute auf ihrer Party für Musik spielt.“
„Tanzmusik, Dancefloor und Rock, sagte sie mir,“ Vanessa lächelte ihn an.
„Das wäre mir sehr genehm,“ lächelte er zurück. Benedikt drehte sich von dem Beifahrer Sitz zu den beiden um: „Sag mal Vanessa, du hast doch noch keinen Tanzpartner für heute abend?“
Vanessa blickte William verschmitzt an, dann wieder Benedikt. „Weißt du, ich wollte heute `mal mit William tanzen, es sei denn, du hättest da etwas einzuwenden.“ 
„Oh nein, ich wäre der letzte, der da etwas einzuwenden hätte, meine Christina würde mir den Kopf abreißen, wenn ich ein anderes Mädchen nur schief angucken würde.“
 
Die Räumlichkeiten der Party waren brechend voll, Simone und Julia zogen sich in eine Ecke des größten Raumes zurück. „Schrecklich laut hier, findest du nicht.“ Simone fuhr sich durch ihr Haar, Julia nickte nur unsicher, wohl fühlte sie sich wirklich nicht. Am liebsten würde sie wieder gehen, es war einfach nicht ihre Gesellschaft.
„William wird bald kommen, er fährt mit Freunden zusammen...komm schon, lächle, mach dir einfach einen schönen Abend.“
Zwei ältere Jungen traten auf sie zu. „Na ihr zwei Hübschen, hättet ihr Lust ein Bisschen mit uns auf die Tanzfläche zu kommen? Ich heiße Mark und das ist mein Freund Thorben.“ 
„Angenehm, ich heiße Simone und das ist Julia.“ Simone legte ihre Hand auf Julias Rücken und schob sie ein Stückchen vor, Julia lächelte gekünstelt. `Wären wir doch nicht hergekommen...ach ich stelle mich nur wieder an, es ist doch alles ganz wunderbar, sogar die Musik ist passabel,´ dachte sie sich und ließ sich von Simone führen.
Der blonde Junge drückte sie, direkt als sie die Tanzfläche erreichten, an sich. „Na, Julia, was treibt dich hierher, ist doch eigentlich nicht ganz deine Altersgruppe. Nicht, das du mich falsch verstehst, aber woher wusstest du von der Party?“ 
„Der Bruder von meiner Freundin ist eurer Stufe.“ Der Junge lächelte freundlich und überrascht, er hob den Arm, dass Julia unter ihm hindurch tanzen konnte.
„Wie heißt denn der Bruder deiner Freundin?“ 
„William.“ Der Junge lachte auf und nicht tanzend in Simones Richtung: „das ist Williams Schwester? Schau einer an, sie sieht viel älter aus als ich sie mir vorgestellt habe.“
„Kennst du William, ähm...?“
„Thorben, ich heiße Thorben. Klar kenne ich ihn. Bevor er ein Jahr in Amerika war, kannte ich ihn sogar noch ein wenig besser, Schulfreunde eben, aber seine Schwester habe ich nie zu Gesicht bekommen.“  Thorben blickte sich wieder nach Simone um.
„Wann glaubst du kommt William?“ Julia sah den älteren Jungen erwartungsvoll an.
„William? Keine Ahnung, aber sicher bald. Hast du besondere Interessen für ihn?“  Julia  schoß gleich wieder das Blut in die Ohren und sie hasste sich dafür.
„Nein, Quatsch.“ Thorben blickte ihr ins Gesicht. Ein leichtes Grinsen machte sich auf seinen Zügen breit: „So? Ich wünsche dir zumindest viel Glück bei ihm, Vanessa hat es in letzter Zeit auf ihn abgesehen.“ 
Julia wurde übel: sie war schon wieder erkannt worden! War sie denn so leicht zu durchschauen? Bald würde es jeder wissen! Ein anderes Mädchen machte William schöne Augen, aus seiner Stufe? Ob William sie wohl auch mochte, wie sie wohl aussehen würde?
In diesem Moment betrat eine neue Gruppe Jugendliche die Partyräumlichkeiten. Der lachende Junge zu deren Spitze, bei dem sich eine schönes brünettes Mädchen eingehakt hatte, war William.
 
                                                           Neuntes Kapitel
                                  
Julia war schlecht. Sie entschuldigte sich beiläufig bei Thorben, nachdem sie noch eine Minute mit ihm getanzt hatte, und zog sich in einen Nebenraum zurück. Sie ließ sich in eine noch unbesetzte blaue Couch sinken und atmete tief durch.
„So eine Scheiße, was bilde ich mir eigentlich ein. Ich komme hier mit Sabine auf die Party mit der blauäugigen Hoffnung, William besser kennen zu lernen. Das ich, die kleine schüchterne Prinzessin vielleicht von dem großen strahlenden Märchenprinz bemerkt und zum Tanz aufgefordert werde. Ha!
Ich hätte keinen Ton heraus bekommen, wenn er mich gefragt hätte. Wie albern! Warum hätte er mich überhaupt zum Tanzen auffordern sollen? Aus Mitleid? Ich bin so doof. Oh lieber Gott, ich bin so doof. Warum musste ich denn William kennenlernen? Gott, das ist gemein, so gemein...,“ Julias Stimme wurde immer brüchiger, bis sie in ein unartikuliertes Klagen überging. Eine heiße Träne lief er die Wange hinunter. Hoffentlich würde sie so keiner sehen.
„Julia, da steckst du! Jul...du weinst ja, was ist los?“ Simone warf sich neben ihr auf die Couch.
„Lass mich in Frieden. Ich will jetzt allein sein,“  sie stieß Simones Arm fort, bevor sie ihn um Julia legen konnte.
Simone sah hilflos auf ihre weinende Freundin.  „Ich...vielleicht...können, ich meine...“
„Ich will einfach nur kurz allein sein. Bitte Simone. Ich bin eben so albern.“ 
Schweigen. Dann stieß Simone die Luft durch die Nase aus. Ein heftiges Lachen brach aus ihr hervor. Sie konnte sich kaum noch einkriegen.
 
Julia war völlig verwirrt und vergaß darüber sogar ihre Tränen. Sie starrte Simone, die sich den Bauch hielt und kaum noch Luft zu kriegen schien, an. Das Lachen war so ansteckend, das sie mitlachen musste, wenn auch unter Tränen.
„Albern...Julia, du bist ein Schatz...albern...“ Simone quiekte vor Vergnügen. „Du sitzt hier im Hinterzimmer auf der Couch und weinst und sagst du bist albern.“
„Ich verstehe nicht,“ schluchzte Julia „was daran so komisch ist?“ 
„Du bist komisch, ich finde dich so komisch. Du bist so süß, Julia!“ 
Simone unterdrückte ihr Lachen kurz und zwang sich einen ernsten Satz zu sagen: „Ich gehe jetzt auf der Stelle zu William und sage ihm, dass wir hier sind und ob ich nicht mal mit ihm tanzen könne.“
Simone fing sich wieder: „Mich kennt ja hier fast niemand. Dann werde ich William fragen, ob er nicht auch mal mit dir tanzen will.“
„Nein!“  Julias Herz schlug auf einmal wie wild.
„Doch,“ Simone sah sie mit einem durchdringenden Blick und einem winzigen Lächeln an. Sie war jetzt wieder von ihrem Lachkrampf geheilt.
„Du bekommst ja von allein keinen Ton heraus und wartest brav, bis dich ein Junge fragt. Dann tanzt du mit ihm und starrst die ganze Zeit zu William hinüber, wenn du es nicht unterdrücken kannst. Wegen wem bin ich denn auf diese Party gegangen? Warum habe ich dich denn hierher gebracht?“
Julia wurde ganz anders. Ihr ganzes Blut schien ihr in den Kopf gestiegen zu sein: Ihr Puls raste und in ihrem Magen wurde ihr ganz flau, wie vor einer wichtigen Schularbeit! Es war ein Gefühl aus Angst und Freude, die sich unzertrennlich miteinander verbanden und von ihr völlig Besitz ergriffen.
„Ich kann jetzt nicht mit William tanzen, ich habe sicher ganz rote Augen und...“ 
„Du wirst sofort mit ihm tanzen, wenn ich es dir sage! Du tanzt mit ihm und wenn er dir nicht mehr gefällt, dann vergiß ihn ganz schnell. Julia, du bist zu schüchtern, zu kompliziert. Vom versteckten Anlächeln und geheimen Anhimmeln wirst du nie einen Jungen für dich gewinnen, nie!“ 
Sabine nahm Julias schönes Gesicht in ihre Hände, wischte ihr eine kleine Träne aus dem Auge und küsste sie auf die Wange. Komm schon, du machst das schon. Und selbst wenn alles schiefgeht, die Welt ist voll von hübschen Jungen und davon ist mindestens einer für dich.“
In Julia stiegen wieder die Tränen hoch, diesmal aber vor Freude. Sie war glücklich über ihre tolle Freundin. Als Simone das merkte, packte sie Julia unsanft am Handgelenk und zog sie auf die Beine.
„Danke, Simone.“ 
„Komm mit! Albern....pffff,“ Simone unterdrückte wieder ein Lachen.
 
„William?“ Thorben stieß ihm den Ellbogen leicht in die Seite. William stellte sein Bierglas wieder auf die Fensterbank. „Bitte?“
„Du, ich weiß ja nicht, ob es dich interessiert, aber es ist so: Ich habe eben mit einem total hübschen Mädchen getanzt, das sagte, es wäre mit deiner Schwester hier.“
„Und?“ William bemühte sich trotz seinem Lächeln, dass schon den ganzen Abend auf seinen Lippen glänzte, einen möglichst gleichgültigen Blick zu zeigen. „Stehst du jetzt auf sie und willst von mir wissen, wie sie heißt?“ 
„Auch, Quatsch. Eher anders herum! Das Mädchen fragte, wann du denn kommen würdest und ob ich dich kenne.“ 
„Oho,“ Williams Lächeln wurde breiter „und nun denkst du, du kannst mal meine Reaktion abwarten und gucken, ob ich auf sie stehe? Oder ist es vielmehr dein Wunsch, dem Lieben kleinen süßem Mädchen einen Wunsch zu erfüllen, indem du mich auf sie aufmerksam machst, oder willst du bloß kuppeln?“
„Multiple choice, hä? Gut, ich entscheide mich für Punkt eins deiner Liste.“ 
„Gut, danke für die Info.“  William langte wieder nach seinem schmalen Bierglas und nahm einen Schluck.
„Und? Willst du die Kleine nicht mal zum Tanz auffordern? Vanessa wird schon nichts sagen.“ 
„Also doch! Thorben!“  William hob, als wolle er mahnen, die Stimme „halt deine Finger da raus.“ 
„Pah, dann eben nicht. Wenn du aber mal eine zu viel haben solltest heute Abend: mir kannst du immer gern eine abtreten,“ meinte Thorben lachend.
William schmunzelte zurück. „Ich werde auf dein Angebot zurückgreifen, wenn ich mir vor lauter Mädchen nicht mehr helfen kann.“
Die Beiden hatten sich laut unterhalten müssen, die Musik schluckte sonst vieles, obwohl sie nicht unangenehm laut war, ganz im Gegenteil.
William kamen nun seltsame Gedanken. Thorben sagte zwar viel, wenn der Tag lang war, aber er dichtete sich selten etwas zusammen. Julia hatte also Interesse daran gehabt, über seine Ankunft zu erfahren, vielleicht...oder war es wie Simone sagte, dass sie ein wenig Geld übrig hatte und in ihrer Klasse gerade tote Hose war?
„William?“  Er dreht sich um und sah seiner kleinen Schwester direkt in die Augen. „Na, was treibt ihr beiden hier so?“ 
„Du wirst jetzt auf der Stelle mit Julia tanzen!“ 
„Wie bitte, wieso...?“ 
„Doch, weil ich es dir so sage! Keine blöden Kommentare. Einfach nur tanzen. Ohne Hintergedanken.“
„Wenn ich dir damit einen Gefallen tue.“  Simone knuffte ihn in den Bauch: „Red` keinen Quatsch. Julia ist irgendwo dahinten,“ Simone deutete hinter sich. Dann stellte sie sich mitten unter Williams Freunde.
„Hy, ich bin Simone.“
„Hy, ähm, ich bin Michael.“ 
„Freut mich dich kennen zu lernen. Benedikt kenne ich ja schon.“  Benedikt lächelte ein wenig geistesabwesend.
„Lasst euch nicht von meiner kleinen Schwester anbaggern,“ lachte William. „Hau schon ab!“ Sabine deutete einen Fußtritt in seine Richtung an.
 
Julia sah entzückend aus. Sie schien sich sichtliche Mühe zu geben, sich cool an die Wand zu lehnen und in die Menge zu gucken. Sie hatte eine hautenge Jeans und ein knappes violettes T-Shirt an, das ihre Formen noch mehr betonte. William zog fragend die rechte Braue hoch. So hatte er Julia noch nicht gesehen!
Dennoch war ihre Kleidung so gewählt, dass sie überhaupt nicht auffällig wirkte, kein bisschen aufdringlich: sie war einfach nur passend gekleidet. Eine einzelne schwarze Locke hatte sich aus ihrem Haar gelöst und war ihr in die schöne Stirn gefallen. Vielleicht war es das bisschen Bier, was er getrunken hatte, aber William musste kurz die Luft einziehen.
„Hy Julia.“ Das Mädchen verlor sofort den gleichgültigen Gesichtsausdruck als es ihn ansah und wurde rot und verlegen, lächelte ihn aber wundervoll an. Sie war wirklich ein sehr schönes Mädchen.
 
„Hy William.“ Julia blickte zu ihm auf. Der große Junge hatte wieder ein Hemd an. Glänzend und schwarz, so wie seine eng anliegende Jeans. Seine dunklen Augen zogen ihren Blick wie magisch an. Ihr Herz klopfte.
`Lieber Gott, lass mich jetzt nichts falsches sagen´, betete sie stumm.
„Du möchtest gerne mit mir tanzen? Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Wollen wir?“ Er streckte ihr seine Linke entgegen. Julia nahm sie an. Hoffentlich merkte er nicht wie ihre Hand zitterte.
Wieder einmal hatte sie ihre Hand in seiner.
Als William ihr den rechten Arm sanft um die Taille legte und sie ihm die Hand auf die Schulter, spürte sie sein Parfüm. Ein leichter und würziger Duft. Ihr Herz pochte wie wild.
Sie trat ihm beim ersten Tanzschritt leicht auf den Schuh, aber William lächelte nur.
„Schön siehst du aus.“ 
„Danke,“ in Julias Magen fing alles an zu kribbeln und das Gefühl durchfuhr dann ihren ganzen Körper. Sie war total verliebt, dass wusste sie jetzt.
„Ich habe noch nicht besonders oft getanzt, “ meinte sie nach ein paar Schritten.
„Das macht nichts, ich bin auch noch Anfänger. Ich glaube nur, wir machen so auf uns aufmerksam, wenn wir weiter so distanziert Tanzen, was meinst du.“  Julias Wangen wurden noch roter, wenn das überhaupt noch möglich war.
Sie schaute auf die anderen Paare, die tatsächlich viel dichter tanzten. Julia hatte es bisher peinlichst vermieden, William zu nahe zu kommen. Wenn sie Williams Blick richtig deutete, amüsierte es ihn, aber eher angenehm. Vielleicht mochte er ja doch ein wenig Schüchternheit.
Auf seine Bemerkung hin trat sie näher an ihn heran. William nahm sie nun auch fester in den Arm.
Julia schluckte. Sie hätte ihn am liebsten an sich gedrückt, wie ein großes, warmes, duftendes Kopfkissen. Er war so lieb. Jemand stellte die Musik in diesem Augenblick noch lauter und Julia ließ sich einfach nur noch führen. Eine Ballade, jetzt spielte die Musik eine Ballade.
Sie stand dicht an ihn gelehnt, ihre Brust ganz vorsichtig an seiner. Wenn sie jetzt noch ihren Kopf an seine Schulter legen könnte...
 
Es war ihr egal, wenn die anderen sie vielleicht angucken würden. Ganz bestimmt mochte er sie. Auch wenn er ganz besonders höflich war, so hätte er nicht jetzt den dritten Tanz mit ihr begonnen. Ihr ganzer Körper war mit einer wohligen Wärme erfüllt.
„Du kannst gut tanzen.“  Julia hob leicht aus ihrem Tagtraum gerissen den Kopf und sah ihn an. Am liebsten hätte sie ihn jetzt geküsst. Sein Mund sah gerade lieblich aus, dass sie ihn gern mit ihren Lippen verschlossen hätte. Sie spürte zunächst nicht, dass sich ihre Augen ein paar Sekunden in den seinen verloren. Als sie es merkte, riss sie ihren Blick los und ihr überglückliches Lächeln strahlte noch mehr.
Wenn sie jetzt doch nur so mutig wie Simone wäre, könnte sie ihm einfach für sein Kompliment auf die Wange küssen, ohne sich dabei groß ängstigen zu müssen, was er von ihr denken würde. Aber William wusste, dass das nicht ihr Stil war, sie würde es auch nie wagen.
Sie lächelte ihn geradeheraus an und wollte ihren Blick wieder senken, als ihr auffiel, das William auch rote Wangen hatte.
Sie lächelte wieder und ihr Herz gab einen kräftigen Stoß von sich, als wolle es ihren Gedanken bestätigen. Das Atmen wurde ihr immer schwieriger.
„Danke, dass du mit mir tanzt,“ meinte Julia, bereute es dann aber fast sofort wieder, weil es ihr so albern vorkam.
William lächelte, sagte aber nichts. Julia sah ihm noch einmal in die Augen. Er war so süss, sie würde ihn nicht so leicht wieder aus ihrer Tanzumarmung freilassen, entschied sie. Sie würde es nicht fertigbringen ihn jetzt gehen zu lassen. Ihr Herz jagte und ihr ganzer Körper brannte innerlich. William tanzte so fließend, dass Julia das Gefühl hatte zu schweben, einfach getragen zu werden von seinen starken Armen.
„William, ich finde dich total süß, oh...,“ Julia blieb der Atem stehen. Es war ihr einfach herausgerutscht. Es war, als hätte jemand anders diesen Satz gesagt, sie konnte es nicht glauben, dass sie es gewesen war.
Ihr wurde schwindelig. Sie blickte William nur an. Sein schönes Gesicht schimmerte matt, seine Wangen waren nun auch tief rot. Als seine Augen, sein Mund näher kam, sie seinen Atem spürte, fing alles um sie herum an sich zu drehen. Er küsste sie. Julia war unfähig sich zu rühren.
Ihre Lippen berührten sich. Kurz, ganz kurz und doch schien es Julia eine kleine Ewigkeit. Sie spürte ihren Herzschlag in den Ohren, wie er von innen gegen ihr Trommelfell zu drücken schien. Ihre Arme wurden schlaff, ihre Beine gaben nach. Allein Williams Arm um ihre Taille hielt sie auf den Beinen.
Julias Mund stand offen und sie blickte ihn an. Sie streckte ihren Hals zu ihm hinauf, ihre Lippen kribbelten in feuriger Erwartung. William kam ihr entgegen. Sie schlang ihm ihre Arme um den Hals.
Sie würde ihn nie wieder loslassen können. Sie konnte keinen Gedanken mehr fassen, nur den Wunsch ihn zu küssen.
 
Simone betrachtete die beiden auf der Tanzfläche, auf ihrer Wange stand eine winzige Träne. Sie zwinkerte sie weg. Sie war so gerührt von den Beiden und wusste nicht, was sie jetzt denken sollte. Hatte sie jetzt ihre beste Freundin an ihren Bruder verloren? Nein!
Simone lächelte beglückt. Sie war nicht mehr gerührt und bewegte sich wieder leichtfüßig zu den älteren Jungen. Gleich zwei machten ihr schöne Augen. Keiner von beiden schien ihr wirklich interessant, aber sie wollte eben an diesem Abend ihren Spaß haben. Sie wusste schon wann Schluss war, wie weit sie gehen durfte.
 
„Ich liebe dich.“ Julia blickte ihm von unten in die Augen. Sein ganzer Körper kribbelte. Julia war so süß, lieb, anziehend, so.... wie hatte er es nur geschafft sie die ganze Zeit zu übersehen? `Gott, wieso ist sie mir nicht aufgefallen? Danke, dass ich es jetzt weiß.´
Sie war die ganze Zeit für ihn nur eine Freundin seiner kleinen Schwester gewesen, bis zu diesem Abend.
„Und ich, ich habe mich gerade in dich verliebt,“ sagte er ihr. Er gab ihr noch einen Kuss auf den Mund. Julia drückte ihn an sich. Sein Arm lag immer noch um ihre schlanke Taille. Er spürte ihre Wärme und ihren zarten Duft.
„Und wie soll es nun weitergehen...? Willst du mit mir gehen?“  Die glutroten Wangen des Mädchens leuchteten ihn an, als er sie fragte.
„Komm wir tanzen noch. Immer weiter. Komm!“  Sie zog weiter auf die Tanzfläche hinaus. William gab sofort nach.
 
`Er lieb mich, oh Gott, er liebt mich. Ich will mit ihm gehen, will ihn kennenlernen. Wenn er auch nur annähernd so toll ist wie ich jetzt glaube, ist er besser als alle Jungen, die ich jemals kennen gelernt habe. Er ist sogar Christ. Oh danke Gott´, dachte sie im stillen Gebet und legte ihren Kopf auf seine Schulter und seinen Hals während sie tanzten. Sie war glücklich.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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