Patrick Rabe

Holundersaft und Markenbeine

Tanz in den Mai! Wie hatte ich mich auf diesen Monat gefreut. Schon in den letzten Apriltagen war es schmeichelnd warm gewesen und das satte, helle Grün der Bäume und Sträucher füllte Herz, Gemüt und Hormonspiegel mit neuem Leben. Am 28. April sagte ich zu meinem Freund Freddy Dan: „Der Maien, der Maien, wir haben den Maien!“ Freddy meinte milde lächelnd: „Ruhig Blut. Es sind ja noch ein paar Tage!“ Freddy Dan interessierte sich für Asiye, die Ex-Freundin von unserem gemeinsamen Freund Jean le Mar, was ich unmöglich fand. Die Beiden hatten sich erst vor Kurzem getrennt und sowohl Jean als auch Asiye hingen irgendwo noch aneinander. Freddy Dan sah das knallhart: „Wieso; die beiden haben sich doch getrennt!“
 
Jedenfalls, am 30. April wollten wir zu dritt in den Mai feiern, Freddy, Asiye und ich. Ich verstand mich gut mit Asiye, sie war eine herzliche, temperamentvolle Türkin, die noch dazu blendend aussah. Dennoch hielt ich mich für immun ihren Reizen gegenüber. Wäre ja auch überhaupt nicht in Frage gekommen, wegen Jean.
 
Gegen halb neun radelte ich zu Freddy. Die Sonne ging langsam unter, der Himmel war blau mit gold-rosa bestrahlten Wölkchen und die Apfel- und Kirschbäume blühten ihre wehe Pracht.
Vor Freddys Haus stand ein Apfelbaum, dessen blühende Krone zunächst meinen Blick auf sich zog. Deshalb sah ich erst, als ich mein Fahrrad zum Stehen brachte, wer da zu Füßen des Baumes im Halbdunkel stand. Es war Asiye, die auch eben angekommen war. Sie breitete die Arme aus und rief freudestrahlend: „Hey, Patrick, schön dich zu sehen!“ Ich lief auf sie zu und umarmte sie. „Schön, dich zu sehen, meine Kleine!“, entgegnete ich und drückte sie an mich. „Witzig, dass wir zusammen angekommen sind!“ Asiye nahm mich am Arm und wir klingelten bei Freddy. Der Summer seiner Haustür ertönte, und wir traten ein.
 
Freddy Dan stand im Türrahmen und grinste verschmitzt. „Willkommen in meinen bescheidenen vier Wänden!“, rief er. Freddy geleitete uns durch sein mit Büchern, Zetteln und Krimskrams übersätes Wohnzimmer auf die Terrasse. Er war Doktor für Latein und Altgriechisch und hatte früher in der Türkei alte Inschriften übersetzt, weswegen er auch ein paar Brocken Türkisch konnte. In seiner Referendariatszeit am Johanneum hatte er einen Backflash von einem Jahre vorher genommenen LSD-Trip gekriegt und war in der Psychiatrie gelandet. Seitdem war er Lebenskünstler, Dichter und freier Schriftsteller, so wie Jean und ich auch. Zusammen waren wir die Gruppe Holitzberg, die in der Vergangenheit unter anderem das Ella gerockt hatte, ein Kulturzentrum in unserem Stadtteil. Genau dort wurde auch heute in den Mai getanzt.
 
Asiye und ich kämpften uns auf die Terrasse durch. Dort standen halb bedeckt von wuchernden Pflanzen ein Tischchen und drei Stühle. Asiye schwenkte ihre Tasche. „Ich muss mich noch umziehen!“, rief sie. Freddy geleitete sie ins ebenfalls hoffnungslos zugestellte Bad und kam dann wieder zu mir heraus. Es war inzwischen ganz dunkel geworden und das Aroma eines aufregenden Frühlingsabends lag in der Luft. Freddy entzündete eine Kerze und holte Tee und drei Becher. Dann ließ er sich auf den mir gegenüberliegenden Stuhl plumpsen. „Geiles Wetter, watt?“ rief ich überschwänglich. „Mir fast schon ein bisschen zu warm, aber hast recht, sehr anregend, fast mediterran.“ Freddy goss den Tee ein. Er war etwas wetterfühlig. Im selben Moment wurde die Terrassentür aufgestoßen und Asiye erschien mit aufmerksamkeitserheischender Geste. Sie hatte sich umgezogen und trug nun statt ihrer Hose einen verboten kurzen Rock und schwarze, durchsichtige Strümpfe, die ihre Beine gut zur Geltung brachten. Darüber trug sie ein Jäckchen und ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein großes, glänzendes Tigergesicht abgebildet war. „Yeah; die Tigerin von Eschnapur!“ rief ich mit Gröhlstimme.  „Ich habe auch noch Nachbarn!“, flüsterte Freddy Dan, ergänzte aber dann: „Na, watt solls, heut ist Tanz in den Mai.“ Asiyes Outfit verschlug uns beiden den Atem, wir kaschierten das mühsam.
 
Nun tranken wir Tee und plauderten. „Was sagt ihr zu meinen Beinen?“, fragte Asiye. „Extrem sexy!“, bekannte ich zwischen zwei Schlucken Tee. „Ja, sehr wohlproportioniert!“, lobte Freddy anerkennend.  „Ja.“, lachte Asiye, „Meine Beine sind meine Marke!“ „Wow, echte Markenbeine!“, flachste Freddy, und in seinen Augen flackerte ein geiles, kleines Feuerchen. „Und ich hab noch mehr Marken!“, grinste Asiye und streckte ihre Brüste raus. Das Feuerchen in Freddys Augen drohte zum Schwelbrand zu werden, doch bald nahmen sie wieder die distinguierte Doktorenwürde an. „Wollt ihr noch `n Rotwein?“, fragte er. „Zum vorglühen?“ Ich sah ihn kritisch an. „Aber nicht, dass aus dem Vorglühen ein Verglühen wird!“ „Ach was!“, wiegelte Freddy ab, „Hab 5 Semester bei Dionysos studiert!“ Er goss den Rotwein in unsere Teebecher und wir tranken genüsslich.
 
Ich erzählte mit einer gewissen Machoeleganz von der Zeit, als ich noch den Beinamen ‚Vino‘ geführt hatte, junger Bohemien gewesen war und sowohl ständig geschrieben als auch literweise Rotwein in mich reingekippt hatte. Kam immer gut, so ein Prahlen mit alten, wilden Zeiten, besonders vor Frauen. Dass ich mittlerweile nahezu Abstinenzler war und schon bei geringen Mengen Alkohol ins Lallen kam, verschwieg ich lieber. Ich beließ es aus ebendiesen Gründen auch bei einem Glas. Auch Asiye blühte auf. Sie erzählte von ihren Discoerfahrungen und schwärmte von Läden wie dem Starnight, dem Pickenpack, dem Zungenkuss. Auch ich hatte in all diesen Lokalitäten gefeiert und hatte Asiye dort auch manchmal gesehen. „Wäre doch witzig gewesen, wenn du mich damals angesprochen hättest!“, sagte sie, „Dann wären wir jetzt vielleicht verheiratet und hätten Fünflinge!“ Ich lachte, merkte jedoch, wie Freddy etwas ins Hintertreffen geriet. „Ist ja schön, eure gemeinsame Vergangenheit. Kann ich leider nicht mitreden. Während ihr euch da in Ekstase getanzt habt, habe ich nach alten Inschriften gesucht.“ Er warf jetzt ein paar Sätze Türkisch ein, um auch bei Asiye zu punkten, Asiye lachte hell auf und korrigierte seine Aussprache.
 
Ich fühlte mich sehr wohl hier auf der Dan’schen Terrasse bei diesen beiden netten Leuten. Die letzten Wochen waren sehr kräftezehrend gewesen. Ein guter Bekannter hatte sich das Leben genommen, was mir noch wie ein Stein in der Magengrube lag und auch Jean war seit der Trennung von Asiye in der Krise und hing mit seinen Selbstzweifeln  und seinem Gedankenkarrussel zentnerschwer an mir. Ich wollte endlich einmal keine Probleme haben. Frei sein. Mich amüsieren. Unbeschwert, lustig, energiegeladen; so wie es diese letzte Aprilnacht von uns zu fordern schien. Und wirklich: Hier und jetzt gelang es mir, loszulassen, Spaß zu haben, eine gewisse Jugendlichkeit wieder zu entdecken. Es schien fast so, als seien wir eine verschworene Bruderschaft, die sich auf die Fahnen geschrieben hatte, das „Mark des Lebens in sich aufzunehmen“, wie der amerikanische Dichter Thereau einmal geschrieben hatte. Es fühlte sich an wie ein feierlicher Neubeginn. „Wir sind nur einmal jung!“, rief Asiye freudig erregt. Nachdem wir unseren Rotwein ausgetrunken hatten, zogen wir los.
 
Unser Ziel, das Ella, war ein bunkerähnliches Backsteingebäude, das mitten innerhalb einer begrünten Wohnsiedlung aufragte. Hier lebten viele Migranten, ebenso viele Deutsche mit Alkohol-und Drogenproblemen und einige Bürger. Dennoch hatte die Siedlung etwas positives, quirliges, und das Ella mit seinen Kulturangeboten war der Mittelpunkt dieser kleinen Welt. „Eigentlich“, hatte Freddy Dan einmal gesagt, „sieht es nicht wie ein Bunker aus, sondern wie eine Burg.“
 
Wir erklommen die steilen Stufen zum Eingang. Von drinnen war Lachen und Stimmengewirr zu hören. Christina Giulia Freud, die Chefin des Ella, saß persönlich an der Kasse. Als sie uns erkannte, rief sie begeistert: „Ach, ihr seid das!“ Sie machte uns einen günstigen Preis und drückte uns den Hausstempel auf die Hand. Freddy, Asiye und ich lachten uns an. „Wir kommen sogar günstiger rein!“, staunte Asiye, „Ihr müsst ja bei der einen Stein im Brett haben!“ „Nein“, grinste Freddy, „Das machen alles deine Markenbeine!“
 
Wir traten in den Vorraum. Links war eine kleine Bar aufgebaut. Dahinter  stand eine hübsche ca. Dreißigjährige und wies mit anpreisender Geste auf das Angebot: Brezeln, Salzstangen, Sekt, Bier, diverse Weine und – Holunderbionade. Ich merkte den Flirt in ihren Augen, als sich unsere Blicke trafen. Mich durchrieselte ein angenehm prickelndes Gefühl, denn offengestanden war ich auch hergekommen, um zu flirten und eventuell ein Girl klar zu machen, denn ich war seit 5 Jahren Single und extrem ausgehungert.
 
Als ich den Discoraum betrat, wurde ich jedoch ernüchtert. Die meisten Leute hier waren jenseits der 40, 50 oder 60. Scheißegal, ich genieß den Abend trotzdem! Das Licht war schummerig und die Leute vom Ella hatten einen  Spiegelball aufgehängt, der seine Muster an die Wände warf. Tische und Stühle waren aufgebaut, und der DJ, ein ca. 50-jähriger Mann, hantierte an seinem Gerät (Wohlgemerkt: Ich meine das Mischpult!). Gerade lief ein Song, der auch oft auf NDR 90,3 gespielt wurde, ich hasste ihn abgrundtief. Eine kräftige Frauenstimme chantet die ganze Zeit etwas wie „Opasack, Opasack!“ Grässlich. Immerhin kam ich bald auf den Gedanken, dass es auch heißen konnte: „Opa sagt, Opa sagt“. Während wir uns an einen der Tische setzten, strickte ich bereits an einer Umdichtung dieses Songs.
 
Asiye und Freddy vertieften sich in ein Gespräch, mir jedoch war es aufgrund der lauten Musik zu anstrengend, darauf einzusteigen, und so ging ich für uns alle Verpflegung holen. Natürlich hoffte ich auch auf einen Flirt mit der hübschen Bedienung, der einzigen passablen Frau hier auf dieser Party. Die Lady grinste mich an und händigte mir ein paar Brezeln und drei Holunderbionaden aus. Ich fummelte nervös das Geld aus meinem Portemonnaie und gab es ihr. Freddy und Asiye begrüßten mich jubelnd, als ich von der schweren Mission der Nahrungsbeschaffung zurück kehrte und nahmen ihre Brotzeit in Empfang. Wir stießen an und tranken das rote Zeug mit hastigen Schlucken.
 
Im selben Moment legte der DJ When the rain begins to fall von Jermaine Jackson, dem Bruder von Michael, auf. Das war ein alter Kracher aus meiner Jugend, den musste ich tanzen.  Die Bionade in der einen Hand, die Brezel in der anderen, wankte ich auf die Tanzfläche. Außer mir war da noch ein Mann, der wie ein schwuler Tanzbär aussah, sexy vor sich hingroovte und wohlig griente und eine ganz dünne, ca. 60-jährige Frau, die ausgelassen tanzte wie ein Teenager. Ich machte zwischen den Beiden wohl eine ganz gute Figur. Zwischendurch knabberte ich an meiner Brezel oder nahm einen Schluck Bionade.  Als nächstes wurde Gimme, Gimme, Gimme von Abba gespielt. Urplötzlich folgte mir der ganze Saal auf die Tanzfläche. Doch ich wollte wieder Pause machen.  Als ich wieder an unseren Tisch zurückkehrte, hatte Asiye bereits nachgeladen und drei weitere Flaschen Holunderbionade geholt.
 
Der DJ kämpfte sich durch einige mallorcinische Partyhits und wir becherten unsere Bionade. Keinem von uns war nach tanzen zu Mute. Als die Flaschen leer waren, grinste Asiye frech: „Freddy, hol Stoff!“. Freddy latschte los und holte die dritte Ladung Bionade. Allmählich stapelten sich die Flaschen auf unserem Tisch. „Weißt du“, schrie mir Asiye ins Ohr, „was der Junge an der Bar zu mir gesagt hat? Zieh deine Strümpfe aus!“ Ich lachte: „Der wollte wohl freie Sicht auf deine Markenbeine!“ Ich merkte, dass Asiye angeglüht war, ihre Wangen waren feuerrot und ihre Energie pulsierte. Mir ging es ähnlich. Sollte das auf die belebende Wirkung der Bionade zurückzuführen sein?  „Mensch!“, rief sie, „Ich hab doch gar nichts getrunken! Ich bin dun!“ Wir lachten. Es lag eine nervöse Spannung im Raum.
 
Als nächstes legten Freddy und ich eine heiße Sohle aufs Parkett zu I will survive. Ich tauchte voll in den Song ein. Meine Bewegungen waren sinnlich und total auf das Lied abgestimmt. Früher war es mir immer peinlich gewesen, lasziv zu tanzen, weil ich das für schwuchtelig hielt, aber jetzt genoss ich es,  meine weibliche Seite in meinen Tanz zu legen, ganz so, wie ich es auch von Mick Jagger kannte. Ab und zu riskierte ich einen Seitenblick zu Asiye, die bisher noch gar nicht getanzt hatte. Billie Jean stampfte über die Tanzfläche. Den wollte ich mit Asiye tanzen! „Na, komm schon!“, rief ich ihr zu und langte nach ihrer Hand. Widerwillig folgte sie mir auf den Dancefloor. Sie sah mich lethargisch an. „Aber nur, wenn wir den eng tanzen!“ seufzte sie. Ja gut, ich hatte nichts dagegen. Was sollte schon dabei sein. Asiye war eine gute Freundin und ich hatte immer wieder mit platonischen Bekanntschaften heiß getanzt, ohne dass mir einer abging, warum also nicht auch diesmal?
 
Ich umschlang ihre Hüften, sie legte ihre Hände auf meinen Rücken, und wir tanzten los. Ein paar Schritte ganz unverfänglich, doch dann zog sie mich fester an sich. Unsere Gesichter waren genau voreinander, ich konnte ihren süßen Atem spüren und sah direkt in ihre Augen. Und diese Augen schienen plötzlich zu sagen : „Willst du aufs Ganze gehen!?“  Ich spürte einen Kloß im Hals. Unvermittelt war da eine erotische Nähe zwischen uns, die ich nie zuvor gefühlt hatte bei ihr. Für den Bruchteil einer Zehntelsekunde schoss mir durch den Kopf, dass ich mich jetzt noch entscheiden konnte, vernünftig zu bleiben, doch in der selben Sekunde verwarf ich diesen Gedanken bereits. Ich drückte sie an mich, konnte ihre und meine schwitzende Hitze spüren. Die Wärme ihres Körpers war berauschend. Katzenhaft drehten und wendeten wir uns auf der Tanzfläche. Als der Song endete, rieb sie ihre Wange eng an meiner. Ich konnte nicht anders und drückte ihr einen Kuss auf.
 
Asiye setzte sich wieder. Freddy warf mir einen Seitenblick zu, in dem ich kurz so etwas wie Missbilligung wahrzunehmen meinte. Na klar, er war ja hinter Asiye her und jetzt stach ich ihn aus. Aber gut, er hatte ja die Möglichkeit, aufzuholen. Aufzuholen? Ich stockte in meinen Gedanken. Waren wir denn Konkurrenten? Ich schüttelte den Gedanken schnell ab. Kiss von Prince wurde gespielt. Jetzt gab es für mich kein Halten mehr. Ich legte eine Jagger-Jackson-und Prince-reife Performance hin, bei der ich mit dem schwulen Tanzbär interagierte. Immer bei dem Kehrreim „…of your kiiieess!“ simulierten wir in der Pause zwischen ‚Your‘ und ‚Kiss‘ eine angeschlagene Funkgitarre, danach stürzte ich mich mit einem Kiekser und in den Nacken geworfenen Kopf auf das Schlüsselwort. So wie Prince ‚kiieess!‘ sang, lagen in diesem Wort alle feuchten erotischen Versprechungen der Welt…der Welt zwischen den Laken und den Lippen und Schenkeln einer Frau. Als das Lied sich dem Ende neigte, stolzierte ich gockelhaft auf Asiyes Tisch zu. Jetzt ritt mich wirklich die übermütige Luzie. Gestatten, Jack Migger, der geile Figger… Der letzte Refrain kam. Perfekt in meinen Tanz eingebettet, zog ich mit dem Zeigefinger Asiyes Kopf hoch und gab ihr einen stilisierten, aber sehr heftigen Kuss auf den Mund. Sie grinste mich breit und zustimmend an.
 
Als nächstes spielte der DJ Like the way I do von Melissa Etheridge. Das kam mir sehr entgegen und steigerte meine Ekstase ins Maßlose. Vom Funkprince wurde ich zum Monster of Rock, ritt auf den schneidenden Akustikgitarrenriffs und röhrte mit Melissa: „Iiis it so ha-u-ard, to satisfy your senses…!?“  Ich schüttelte meine Haare und mimte eine Angus-Young-mäßige Luftgitarre. Dem schwulen Tanzbär blieb die Luft weg. Auch Asiye und Freddy Dan ließen sich nicht lumpen, folgten mir auf die Tanzfläche und rockten ordentlich mit. Ich packte Asiyes Hand, drehte sie, zog sie an mich und stieß sie weg, sodass sie an meiner Hand durch den Saal wirbelte. Ich führte dieses Mädchen mühelos und kam mir wer weiß wie männlich vor. Melissa hatte endgültig das Tier in mir geweckt. Asiyes und mein Körper trafen immer wieder lustvoll aufeinander, flogen wieder voneinander weg und vereinten sich erneut, atemlos und aufgeheizt. Zeitweilig ritt sie auf meinem Knie oder schob ihres zwischen meine Beine. Mir war jetzt alles egal, Jean, Freddy, jegliche Freundschaft und meine Contenance. Jetzt tanzte ich. Jetzt lebte ich. Jetzt war ich jung. So wie Asiye gesagt hatte: Wir sind nur einmal jung…
 
Asiye wuschelte in meinen Haaren, kam ganz nah mit ihrem Gesicht an meins, sah mir enthemmt in die Augen. Erst berührten sich unsere Nasen, dann unsere Münder und schließlich küssten wir uns. Ich versuchte einen Zungenkuss, was sie lachend abwehrte. So weit wollte sie also nicht gehen! Überhaupt hatte ich kurz den Eindruck, sie sei viel kontrollierter als ich, aber sei’s drum. Eine langsame Soulballade begann. Wir schunkelten träumerhaft und eng umschlungen. Asiye wies auf Freddy Dan, der wieder an unserem Tischchen saß. „Der Arme!“, hauchte sie mir ins Ohr. Freddy zog eine Flunsch. Er sah einfach keinen Stich bei Asiye. Spielte sie uns gegeneinander aus? Es war mir zugegeben egal. Im Moment war sie mein Mädchen und ich genoss ihre weichen Formen, ihre Wärme und ihre Zärtlichkeiten, die sie mir nach wie vor zukommen ließ. Ich ließ mich fallen in ein wohliges Gefühl von zu Hause sein und träumte davon, wie es wohl wäre, wenn Asiye ganz mir gehören würde, wenn ich diese tröstliche Nähe immer haben könnte. Und plötzlich spürte ich: Da war nicht nur erotisches Feuer, da war auch eine tiefe Zuneigung. Und mir wurde wieder klar, wie sehr ich mich nach einer Frau sehnte, nach einem Mädchen, zu dem ich nach Hause kommen konnte. Immer wieder rieben wir unsere Wangen aneinander, immer wieder küssten wir uns. Auch sie hatte inzwischen ihre Contenance fallenlassen und ging ganz auf in unserem Tanz, gab sich hin. Kurz irritierte mich ein Mädchen, das neben uns die Tanzfläche eroberte. Sie war mir vorher nicht aufgefallen. Ihr Tanz hatte etwas unverschämt Sexuelles. Asiye sah, wohin mein Blick wanderte. Sie flüsterte: „Mensch, die hat ja gar keinen BH! Hast du `n Steifen bei ihr?“ Ich musste es eingestehen, und es war mir furchtbar peinlich. Ja, am liebsten wäre ich von Asiye zu diesem Mädchen gewechselt, hätte sie klar gemacht und sie die ganze Nacht gebumst. Sie war die Steigerung zu Asiye, die bei ihrer ganzen Erotik ja noch damenhafte Klasse besaß. Dieses andere Mädchen jedoch war erfrischend billig.  Vielleicht würde ich mit ihr völlig durchknallen können und die Nacht meines Lebens haben. Ja, vielleicht hätte ich das wirklich tun sollen, aber meine gute Kinderstube hielt mich zurück. Ich war doch mit Asiye hier. Sollte ich ihr wieder nur beweisen, dass Männer schwanzgesteuerte Triebmaschinen waren? Nein, das wollte ich nicht. Ich hatte wohl keine Chance in Aussicht, mit Asiye im Bett zu landen, trotzdem wollte ich Kavalier sein und den Abend mit ihr rund machen.
 
Und so tanzte ich noch die ganze Nacht mit Asiye, um 12 stießen wir mit Bionade an und immer wieder holten wir Nachschub. Freddy Dan legte noch manch heiße Sohle aufs Parkett, aber Asiye ließ ihn nicht ran. Gegen 2 saßen wir erschöpft an unserem Tischchen. Der DJ spielte das Opasack-Lied, zum dritten Mal an diesem Abend.  „Ich bin alle!“, stöhnte Freddy und ließ seinen Kopf auf den Tisch knallen. Er riss ihn abrupt wieder hoch und sah unserer türkischen Begleitung theatralisch in die Augen. „Deine Markenbeine machen mich fertig!“ Mit geübtem Griff fuhr er über Asiyes Bein und landete bei ihrer Scham. Asiye schlug seine Hand weg. „Lass das!“, fauchte sie. Sie griff nach meiner Hand, spielte mit meinen Fingern und wies mit dem Kopf auf die Tanzfläche, wo gerade das sexy Mädchen mit einer anderen Frau tanzte. „Die ist geil.“, sagte sie mit belegter Stimme. „Da hab ja sogar ich als Frau einen Steifen! Was ist mit euch?“ Freddy blickte treuherzig und sagte salbungsvoll: „Nein, Asiye, ich habe nur Augen für dich!“ Ja, er versuchte offensichtlich, noch einen Treffer bei ihr zu landen, aber völlig vergeblich. Auf solch schmalzige Liebesgeständnisse standen Frauen nicht! Ich merkte widerstrebend, dass ich Triumph verspürte, erkannte zugleich, dass Asiye Freddy schon den ganzen Abend eifersüchtig machen wollte, dass sie hier ‚Topdog/Underdog‘ mit uns spielte. Ich war Topdog, Freddy war Underdog. Mir war unwohl bei der Sache. Freddy hatte sich den ganzen Abend abgerackert, um bei Asiye Land zu sehen und mir spielte sie sich mühelos in die Hände, mir, der ich nicht einen Finger krumm gemacht hatte, um sie zu erobern. Ich kannte derartige Spiele aus meiner Pubertät zu genüge. Nur war ich damals oft genug Underdog gewesen. Vielleicht gebot ich Asiye auch deswegen nicht Einhalt, weil ich diesen Perspektivwechsel genoss. Sie lachte übermütig: „Dieses Holunderzeug hat mich vollkommen dun gemacht! Wir haben bestimmt einen ganzen Kasten getrunken!  Ist da Alkohol drin?“ Ich überlegte: „Das wird ähnlich wie Bier hergestellt. Mit Fermenten.“ Asiye kreischte auf: „Was ist das? Drogen?  Ihr habt mich unter Drogen gesetzt!“ Ich berührte sie beschwichtigend an der Schulter: „Ja, vielleicht. Aber dann sind wir jetzt alle auf Drogen.“  Asiye haute mit der flachen Hand auf den Tisch. „Lass uns heute Nacht noch `nen Porno drehen! Patrick und ich treiben’s miteinander und Freddy filmt!“ Freddy Dan verdrehte leidend die Augen: „Ich bin müde, ich will nach Hause!“  Also tranken wir noch unsere aktuelle Bionade aus, nahmen dann unsere Jacken und gingen. An der Bar blitzte mir die Bedienung noch einen flirty Blick zu und Christina Giulia Freud kam uns überschwänglich und sichtlich beschwipst entgegen. „Toll, dass ihr da wart. Wir machen das bald wieder. Ihr seid herzlich willkommen!“ Als wir nach draußen an die angenehme, jetzt etwas frischere Mailuft traten, unkte Asiye: „Ja, natürlich sind wir willkommen. An unserem Bionadeverbrauch verdienen die richtig!“
 
Auf dem Weg zu Freddy machte Asiye diesem noch eine gepfefferte Szene, weil er ihr Bein lüstern berührt habe. Sie schrie und keifte in einer Lautstärke, dass auf manchem umliegenden Balkon schon ein missmutiges Gesicht erschien. Freddy ruderte mit den Armen und zischte: „Gott, bist du peinlich, hier wohne ich, jeder kennt mich hier!“ Nach einer Zeit beruhigte sich Asiye wieder und wir schlenderten zu dritt nebeneinander her. Mir kam plötzlich ein Gedanke. „Seid ihr jetzt eigentlich zusammen?“ „Nein!“, knurrte Freddy angepisst. „Asiye ist `n viel zu junges Ding für mich und viel zu übermütig. Und sie hat kein Taktgefühl. Du, Paddel, du hast Takt, du hast Takt!“
 
Bei Freddy ließen wir die erste Maiennacht noch ruhig ausklingen, tranken auf seiner Terrasse den kalten Tee und hörten Bob Dylan. Als Asiye vorschlug, wir könnten doch alle drei hier pennen, „Patrick und ich im Bett und Freddy auf dem Boden“, schmiss er uns allerdings raus. Sein Maß war offensichtlich voll.
 
Ich radelte mit Asiye durch die rauschhafte Nacht. An der Kreuzung unserer beider Straßen trennten wir uns. Ich sah ihr ernst in die Augen. „Sowas wie heute Abend darf sich nicht wiederholen. Wegen Jean.“ Ich hatte plötzlich ein beißend schlechtes Gewissen. Asiye zuckte die Schultern. „Wieso, er hat doch Schluss gemacht. Außerdem war die Bionade Schuld.“ Wir mussten beide lachen und küssten uns noch einmal hingebungsvoll. Dann fuhr sie in ihre Richtung und ich in meine.
 
Hinter meinen Schläfen pochte es. Was hatte ich getan? War ich nicht ganz dicht? Jean war doch mein bester Freund! Ich spürte widerstrebende Gefühle. Einerseits das Wissen, dass das nie wieder sein durfte, andererseits der brennende Wunsch, es zu wiederholen.
 
Zu Hause arbeitete ich noch an meiner Umdichtung des Opasack-Liedes. Es ging jetzt so: ‚Opa sagt, Opa sagt: Geh nich so viel feiern! Opa sagt, Opa sagt: Tu Frau’n nich angeiern!‘…
 
 
Patrick Rabe, Hamburg. Dies ist das erste Kapitel meines bisher unvollendeten Romans "Mayday - 7 Tage im Leben eines Taugenichts"

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Patrick Rabe).
Der Beitrag wurde von Patrick Rabe auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Patrick Rabe als Lieblingsautor markieren

Buch von Patrick Rabe:

cover

Gottes Zelt: Glaubens- und Liebesgedichte von Patrick Rabe



Die Glaubens-und Liebesgedichte von Patrick Rabe sind mutig, innig, streitbar, vertrauens- und humorvoll, sie klammern auch Zweifel, Anfechtungen und Prüfungen nicht aus, stellen manchmal gewohnte Glaubensmuster auf den Kopf und eröffnen dem Leser den weiten Raum Gottes. Tief und kathartisch sind seine Gedichte von Tod und seelischer Wiederauferstehung, es finden sich Poeme der Suche, des Trostes, der Klage und der Freude. Abgerundet wird das Buch von einigen ungewöhnlichen theologischen Betrachtungen. Kein Happy-Clappy-Lobpreis, sondern ein Buch mit Ecken und Kanten, das einen Blick aufs Christentum eröffnet, der fern konservativer Traditionen liegt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Tragigkömodie" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Patrick Rabe

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Man sieht sich (immer wieder) - Ein Morgen in Ozeanien... von Patrick Rabe (Satire)
WA(h)L-FANG im Herbst von Egbert Schmitt (Tragigkömodie)
Meine Bergmannsjahre (zwölfter Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen