Peter Somma

Spätsommer

Am Morgen dauerte es jetzt schon länger bis es dämmerte und die Tage waren schon merklich kürzer geworden. Am Vormittag stieg das Thermometer kaum noch über zehn Grad, oft lag bis Mittag dichter Hochnebel über dem Land und in den Wohnungen blieb es lange Zeit empfindlich kühl. Erst dann, wenn sich der Nebel auflöste, zeigte sich wieder der blaue Himmel und die Temperaturen täuschten den Menschen einen verlängerten Sommer vor. Aber das schöne Wetter konnte nicht darüber hinwegtäuschen: Der Herbst stand vor der Tür.

Als sie heute aufgestanden war, sich geduscht und warm angezogen hatte, waren ihr beim Frühstück einige Gedanken über die lange Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, durch den Kopf gegangen.

Vierzig Jahre waren sie nun verheiratet und längst war aus ihrer Beziehung Gewohnheit geworden. Die Wärme, die sie einst verband, war in den Jahren einer Erstarrung ihrer Gefühle gewichen und schon lange lebten sie zwar miteinander, aber das Band der Liebe, das sie einst verband, hatten sie zu wenig gepflegt und es konnte seine Aufgabe kaum mehr erfüllen.

Sie war noch sehr jung gewesen, als sie geheiratet hatten, und im Grunde hatte sie, wie sie heute wusste, mit dieser verfrühten Ehe vor allem ihrem Elternhaus entfliehen, die Fesseln des Elterhauses abstreifen wollen, hatte heraus wollen aus der Enge ihrer Familie, hatte frei sein wollen damals, und hatte eingewilligt, als er sie gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle.

Eigentlich war es ja, unter diesen Umständen, ein kleines Wunder gewesen, dass ihre Ehe in den ersten Jahren, im Frühling ihres gemeinsamen Lebens, dann doch recht glücklich, ja sogar leidenschaftlich gewesen war, obwohl sie ja nicht die große Liebe zueinander geführt hatte.

Als ihre Kinder zur Welt gekommen waren, hatten sie lange Zeit auf so manchen Luxus verzichten, so manches Opfer bringen müssen und auch ihre Kinder hatten nicht mit Markenbekleidung prahlen können weil sie, so wie sie es beide gewollt hatten, bei den Kindern daheim geblieben war und dafür in Kauf genommen hatten, mit weniger Geld auszukommen.

Die Arbeit und das für die große Familie zu kleine Einkommen, das er nach Hause gebracht hatte, hatte jedoch ihr Eheleben belastet, hatte immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen gegeben und aus ihrer Ehe war ein ewiger Zwist um Kleinigkeiten geworden. Dennoch war ihr Zusammensein in der Mitte ihres Lebens in eine lange andauernde Periode der Anpassung aneinander übergegangen und aus ihrer Leidenschaft war doch noch ein langsames Dahinglimmern, eine Innigkeit geworden, an der sie sich beide gewärmt hatten.

Aber sie hatte sich mehr von ihrer Ehe erwartet, ihr war etwas abgegangen. Sie hatte gehofft, die leidenschaftliche Liebe der ersten Zeit in den Alltag hinüberretten zu können.

Nun lag ein neuer Lebensabschnitt vor ihnen, eine Zeit, die ganz ihnen gehören, die ihnen neue gemeinsame Erlebnisse schenken sollte, da ihr Mann in Pension gegangen war und ihre Kinder längst geheiratet hatten. Aber das Gefühl der Freude über die neue Gemeinsamkeit wollte sich nicht recht einstellen. Er, der bisher nur abends, nach seiner Arbeit daheim gewesen war, ließ sie auch jetzt oft genug allein, wenn er mit seinen Freunden unterwegs war, anstatt sich nun mehr um sie zu kümmern. Statt Ausflüge mit ihr zu unternehmen, verbrachte er die Sonntage mit Freunden, trieb mit ihnen Sport oder verbrachte ganze Nachmittage im Gasthaus und sie saß dann wieder alleine zu Hause.

Und wenn er einmal einen ganzen Tag daheim verbrachte, bemerkte sie an ihm Angewohnheiten, die ihr bisher gar nicht aufgefallen waren, die sie möglicherweise längst vergessen hatte, die sie aber jetzt immer mehr und mehr zu stören begannen und er wurde ihr von Tag zu Tag fremder. Es fiel ihr immer schwerer seine, in vielen Jahren erworbenen Unsitten, seine Eigenheiten zu ertragen. Wenn er daheim herumsaß fühlte sie sich beobachtet, denn immer wusste er alles besser, glaubte ihr Vorschriften in der Haushaltsführung machen zu müssen und es verging kein Tag, an dem sie sich nicht stritten und die Harmonie, die sie sich von dieser Zeit, erhofft hatte, blieb aus. Statt sich über seine Anwesenheit zu freuen, ging er ihr immer mehr auf die Nerven, ja seine Gegenwart, beengte sie in ihrer Freiheit. Zuviel hatte sie sich von dieser Zeit erwartet. Nun beherrschten Ärger und Zorn ihre Gedanken. Sie hatte auf einen Spätsommer ihrer Beziehung gehofft, als ihr Mann in Pension gegangen war und sah jetzt einen kalten Herbst auf sich zukommen.

Immer öfter geisterte seit kurzem in ihrem Kopf der Gedanke herum, ob es nicht besser wäre, einen Schlusspunkt zu setzten, sich zu trennen und lieber allein zu leben, denn die Vorstellung ihn nun auf ewig um sich zu haben, war etwas, das ihr nicht gefallen wollte. Sie dachte, es wäre besser für beide, die Zeit, die noch vor ihnen lag und von der sie zwar nicht wussten, wie lange sie ihnen geschenkt sein würde, getrennt zu verbringen und sie überlegte, ob es nicht besser wäre, die Scheidung von ihm zu verlangen,

An einem Abend, war es dann so weit. Wieder einmal hatte er sie den ganzen Tag allein gelassen, da hatte sie ihm, als er erst spät abends nach Hause gekommen war, die Scheidung vorgeschlagen.

Er war aus allen Wolken gefallen und zunächst hatte er nicht verstehen können, wie sie überhaupt auf diese Idee hatte kommen können, denn für ihn war doch ohnedies alles in Ordnung. Was ihr denn abginge, hatte er gefragt. Sie verstünden sich doch ohnedies prächtig und endlich hätten sie mehr Zeit für einander. Es war ihm gar nicht aufgefallen, dass er diese Zeit, die ihre gemeinsame hätte sein sollen, gar nicht mit ihr verbrachte und er wollte nicht glauben, dass es notwendig wäre, nach so vielen Jahren in Gemeinsamkeit, in denen sie so manche Schwierigkeit gemeinsam gemeistert hatten, auseinander zugehen und das Alter getrennt von einander verbringen zu müssen.

Erst langsam hatte er, nachdem sie in Ruhe miteinander gesprochen hatten, verstanden, dass sie recht hatte, dass er sie vernachlässigte, dass er, seit er in Pension gegangen war, kaum mehr Zeit mit ihr verbrachte, als in jener Zeit in der der Beruf ihn von zu Hause fernhielt. Beinahe war er schon bereit gewesen in eine Trennung einzuwilligen, aber dann, hatte er ihr den Vorschlag gemacht, noch einen letzten Versuch zu wagen, um wieder zueinander zu finden, weil er alles tun wollte, um ihre Ehe, um das Altwerden mit ihr doch noch zu retten.

Einen letzten Versuch sollten sie unternehmen, ein paar gemeinsame Tage, eine Woche oder auch zwei, irgendwo, weit ab vom täglichen Einerlei, sollten sie sich gönnen, um herauszufinden, ob sie wirklich nichts mehr verband, ob sie wirklich nicht mehr miteinander auskommen konnten, ob es nicht doch noch einen wärmenden Spätsommer für sie geben könnte. Und sie hatte schließlich, wenn auch wenig überzeugt, eingewilligt.

Der Ort, den er ausgewählt hatte, war ein kleines, ruhiges Dorf, an einem idyllisch gelegenen See, an dem der Fremdenverkehr spurlos vorüber gegangen war. Es gab nicht viele Möglichkeiten der Zerstreuung dort und die beiden waren darauf angewiesen, die Zeit miteinander zu verbringen. In der milden Sonne, die sie immer noch wärmte, lagen sie in der Liegewiese am Ufer des Sees und keine lästigen Nachbarn störten ihre Zweisamkeit. Am Abend saßen sie bei einem Gläschen Wein im urigen Gasthof des Ortes und in langen Gesprächen fanden sie langsam wieder zur alten Vertrautheit zurück.

Erst jetzt erkannte er, dass er sie viel zu viel allein gelassen hatte, wenn er sich mit seinen Freunden traf, gesellig beisammen saß oder Sport betrieb und er versprach ihr, wieder mehr Zeit mit ihr zu verbringen und sie sah ein, dass er auch seine Freundschaften pflegen wollte und sie wussten jetzt dass sie einen Kompromiss finden mussten, finden würden, der beiden gerecht werden konnte. Sie kannten beide ihre Eigenheiten, die den einen wie den anderen störten und dass sie sich diese nur schwer würden abgewöhnen können werden, aber sie glaubten auch, dass das kein Grund sein dürfte auseinander zugehen. Sie würden ihren gegenseitigen Schwächen mit ein wenig Humor die Spitze nehmen, denn die freudigen Augenblicke, die sie mit ihren Kindern erlebt hatten, die Erinnerung an die gemeisterten Schwierigkeiten in den vielen gemeinsamen Jahre zählten mehr, als der kleine Ärger über dumme Unarten.

Der letzte Abend, den sie in dem kleinen Ort verbrachten, war ein lauer Septemberabend gewesen. Lang waren sie noch bei einem Glas Wein beisammen gesessen, hatten die laue Dämmerstunde genossen und hatten dann die letzte Nacht in ihrem Ferienquartier vor der Heimfahrt verbracht. Der Mond tauchte ihr Zimmer in ein gemütliches Halbdunkel, ein leiser Wind kräuselte die Oberfläche des kleinen Sees und sie hörten das Geräusch, das das leise Klatschen der Wellen an das Ufer hervorrief. Der Wein hatte sie zärtlich gestimmt. Alte, fast vergessene Sehnsüchte erwachten in ihnen. Die Zweifel der vergangenen Tage waren verflogen und sie liebten sich. Sie wollten einen Neuanfang wagen, denn sie hofften, es könnten noch viele harmonische, gemeinsame Tage vor ihnen liegen, es könnte für sie doch noch einen Spätsommer geben, eine Zeit, die noch Wärme ausstrahlt und die man besonders intensiv nutzen sollte, denn sie wusste auch schon von der Kälte des Alters.

Am nächsten Tag wartete eine lange Heimfahrt auf sie. Es war ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit und man spürte eine außerordentliche, nervöse Hektik auf der Autobahn. Irgendwie schwammen auch sie in dem dichten Schwarm der Fahrzeuge mit. Vor und hinter ihnen fuhren Lastzüge, die mit ihrer Größe Angst einflößten. Plötzlich quietschten irgendwo vor ihnen Bremsen. Einer der Wägen hatte vergebens versucht das Auffahren auf dem vor ihm bremsenden Lastzug zu verhindern und andere Fahrzeuge donnerten danach ineinander. Krachen, Quietschen und Schreie waren überall zu hören und zurück blieben mehrere in einander verkeilte Karosserien und um Hilfe rufende Menschen. Ihm war es aber, gottlob, gelungen, das Fahrzeug noch rechtzeitig zum Stehen zu bringen.

Aber dann knallte der nach ihm fahrende, mehrere Tonnen schwere Lastzug mit ganzer Wucht in sein Heck und schob sein Auto unter den vor ihnen schon zum Stillstand gekommenen LKW.

Sie waren sofort tot gewesen. Der LKW, der nicht mehr bremsen hatte können, hatte ihre Träume von einem gemeinsamen Lebensabend jäh zerstört. Für kurze Zeit waren sie glücklich gewesen und hatten auf einen Spätsommer der Gefühle gehofft, hatten geglaubt noch viele Jahre gemeinsam verbringen zu können, aber das Schicksal hatte ihnen nur mehr die wenigen Tage ihres Zueinanderfindens vergönnt.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Peter Somma).
Der Beitrag wurde von Peter Somma auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.02.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Peter Somma als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Zelenka von Kurt Mühle



„Zelenka“ beschreibt innerhalb unterschiedlichster Kriminalfälle den beruflichen Aufstieg einer taffen, ehrgeizigen Kommissarin, aber auch die schmerzlichen Rückschläge in ihrem Privatleben.
Sie jongliert oft am Rande der Legalität, setzt sich durch in der sie umgebenden Männerwelt und setzt Akzente in der Polizeiarbeit, - wobei ihren Vorgesetzten oft die Haare zu Berge stehen ...
Ort der Handlung: Düsseldorf / Duisburg

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Peter Somma

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Aschermittwoch von Peter Somma (Zwischenmenschliches)
MANCHMAL GIBT ES NOCH KLEINE WUNDER von Christine Wolny (Sonstige)
Aufsatz über die Gans von Karli von Margit Kvarda (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen