Jana Weiß

Der Zug

 

Es ist noch früh am Morgen, dunkel obendrein. Unlustig stapfe ich neben Felix, dem süßen kleinen Cocker-Spaniel über die Elbwiesen, kreuz und quer, wie es ihm passt, stolpernd, ausrutschend auf dem glatten Gestein, welches sich holprig mir in den Weg legt, so als müsse Strafe sein. Für was? Für meinen Unwillen, jeden Tag das gleiche Spiel mitspielen zu müssen? Oder für meinen ab und zu geäußerten Egoismus, klein und fein und doch unüberhörbar, einmal nur im warmen Bett liegen zu bleiben, anderen die Aufgabe zu übertragen, mit dem Hund Gassi zu gehen, weil es mir im Moment nicht recht ist? Es bleibt keine Zeit zum Überlegen, denn Felix reißt kräftig an der Leine. Er hat ein paar Enten entdeckt, sie stürzen an mir vorbei, als ginge es um Leben und Tod. Das aufgeregte Geschnatter, Warnzeichen der Angst, dröhnt in meinen Ohren, die nicht ausweichen können. Setzt mein Herz aus oder der Atem? Beides wäre nicht gut, sollte aufgespart bleiben bis zum richtigen Ende, wenn man alt ist und grau, das Leben gelebt hat, mehr oder minder einträchtig und zufrieden. Doch das heftige Klopfen in meiner Brust verrät mir, dass es soweit noch nicht ist. Hallo, ich bin da, will das Herz mir sagen, komm zurück und bleib hier, noch bin ich nicht zufrieden…

Nach dem Schrecken kommt die Wut. Und mit einem Ruck fährt sie durch die Leine, zerrt und zieht den Hund ganz nah an mich heran. „Felix“ – schreie ich, „was tust du?“. Der Widerhall meiner Worte fängt sich in den inzwischen nackten Weiden am Elbufer. Traurig schaut der Hund mich an, vorbei mit der Jagd, die so schön begann und Ärger obendrein. Die Enten sind schon längst außer Sichtweite, in einem sicheren Versteck, das Geschnatter bis hier her zu hören. Unsicher schaue ich mich um, bin genauso traurig wie der Hund. Warum muss ich nur immerzu schreien? Wer schreit, hat Unrecht. Ich fühle mich im Recht, besser geht es mir dadurch nicht. Mühsam setzen wir den gewohnten Gang fort, vorbei am Fluss, welcher gurgelnde Geräusche von sich gibt, warnend, so als wollte er sagen, komm mir nicht zu nahe. Felix gibt sich Mühe, bleibt an meiner Seite, schnüffelnd zieht er kleine Kreise, nicht zu weit vorwagend, das Bein hier und da hebend, er ist zufrieden mit dem, was er hat, und ein wenig beneide ich ihn. Schon haben wir die Eisenbahnbrücke erreicht, dieses riesige Ungetüm, welches sich in greifbarer Nähe vor uns aufthront in einem Gewirr aus Stahl und Eisen. Gern würde ich mir diesen Weg ersparen, doch es gibt kein Entrinnen, ist es doch die einzige Möglichkeit, um zu dem wenigen Grün zu gelangen, welches für Hunde ein kleines Paradies darstellt.

„Nun los“, etwas kläglich kommt es aus meinem Mund, der nun halbgeöffnet immer wieder Mut macht. Mir wird heiß, trotz der Kälte eines grauen Novembertages, und hastig versuche ich mich aus der Verstrickung um meinen Hals, die aus schwarzer Wolle besteht, zu entledigen. Luft, nur endlich Luft bekommen … Schwer hebt sich meine Brust. Kalte Hände greifen nach ihr, umklammern sie und drücken kräftig zu. Schon höre ich das Donnern eines herannahenden Zuges, das Schwingen der Gleise, ein bedrohliches Knacken im Eisengebälk der Uraltbrücke, die aufschreien möchte unter der Last, die auf sie zukommen wird, unweigerlich und zu jeder vollen Stunde. In dieser Sekunde weiß ich, uns verbindet untrennbar das gleiche Schicksal: überfahren werden, wieder und wieder, bis eines Tages das morsche Gebälk seinen Dienst versagt, ausgetauscht wird und entsorgt. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, zurückgelegt in minutiöser Genauigkeit und Haltestellen, die ein wenig Erholung versprechen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich will keine Strafe, und so springe ich mit ungeheurer Kraft geradewegs auf den fahrenden Zug, begebe mich mitunter auf rasante Fahrt quer durch mein Leben, genieße die Augenblicke der Rast, greife dankbar nach der ausgestreckten helfenden Hand, die mir schneller entrinnt, als mir oft lieb ist, die Fahrt geht weiter – unerbittlich, und nur manchmal bleibt Zeit, um zurück zu schauen. Ich schließe meine Augen, dunkel ist es rundherum und der Tunnel verspricht kein Ende. Müde bin ich geworden und alt, nicht an Jahren sondern in der Seele. Erschöpft lege ich meinen Kopf zurück auf unbequemes Metall, dem zuckenden Körper einer Höllenmaschine, unterbrochen nur durch ein paar kurze holprige Aussetzer, weil sich ein Stein im Getriebe verirrt, zermalmt wird und zurückfällt in das Gleisbett. Monotone Geräusche, die mir zum Schlaf verhelfen.

„Komm sofort runter“ befiehlt mir eine fordernde Stimme. Müde reibe ich die Augen, welche mir nach wie vor jeglichen Dienst verweigern. Das Licht blendet mich, aber es ist da, unweigerlich, einfach so und ohne nach dem wollen zu fragen. Nur langsam gewöhnen sich meine Augen an die Umgebung. Die Sonne steht im Zenit, genau über mir. Und erst jetzt bemerke ich den Stillstand des Zuges, kein Ruckeln und kein Zuckeln. Er macht auch keine Anstalten zur Weiterfahrt, bleibt einfach stehen, verweigert seinen Dienst, ungehorsam, stur und in seltsamer Weise untrennbar verbunden mit mir. Aber auch daran kann man sich gewöhnen, die Reihenfolge ändert sich nie, nur der Zwischenstopp dauert heute etwas länger. Nun gut, auch das ist in Ordnung. Beruhigt möchte ich meine Glieder ausstrecken. Müde sind sie, müde bin ich. Mein Körper liegt auf schwarzem Metall, dessen Hitze unerträglich wird. Die Farbe scheint alles zu verschlucken, selbst die Sonne. Ungemütlich wird es mir auf meinem Lager, glühende Strahlen von oben nach unten und umgekehrt. „Nun komm schon herunter, das ist kein Platz für dich“ – erneut diese Stimme, ihr Klang ein wenig freundlicher, aber nicht minder bestimmend. Und ich füge mich, ohne lange darüber nachzudenken, wundere mich nur ein wenig über den plötzlichen Gehorsam, kann den Sinn nicht verstehen und viel weniger darüber nachdenken. Ich greife nach der Hand, die sich mir bot, bemerke die etwas schmalen Finger, gepflegt und sehr weich. Mit Schwung werde ich meinem Lager entrissen, direkt hinein in seine starken Arme. Er hält der Erschütterung stand, ein Fels in der Brandung - mein Fels. „Was tust du nur?“ fragt er leise, während er mich behutsam von den Gleisen wegschiebt. Der Zug pfeift ungeduldig, Signal auf grün, es kann weitergehen. Langsam setzt dieser sich in Bewegung, ächzend und zögerlich, so als warte er auf Ladung im letzten Moment, während mein starker Begleiter wie selbstverständlich seinen Arm um meine dünnen Schultern legt. Er führt mich in eine andere Welt, ausgefüllt von Glück, Ablenkung, Abenteuer, aber auch Stillstand. Es ist Zeit, zur Ruhe zu kommen. Er hat sie im Übermaß, schenkt mir reichlich davon, will meine Leere ausfüllen und streichelt meine Wunden, bis von diesen nur noch kleine Narben bleiben, blasse Zeichen der Erinnerung.

Nur manchmal noch überfällt mich Angst, so wie heute, wenn ich mit dem Hund Gassi gehe und wir direkt unter der Brücke stehen, während ein Zug über uns hinwegdonnert, mit pfeifenden Geräuschen und dem unerbittlichen Ruf, ihm zu folgen.
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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