Irene Beddies

Wendel: Boote



Wendel schwebte allein zum See, zu dem ihn die Eule neulich mitgenommen hatte. Um einen besseren Ausblick zu haben, setzte er sich auf den höchsten Ast eines Baumes am Ufer.
Der See war größer, als er gedacht hatte. Eine baumbestandene Insel lag in der Mitte. Rauch stieg zwischen den Bäumen auf und ein schwacher Lichtschein kam zwischen den Baumstämmen hindurch. Was mochte da vor sich gehen?
Das kleine Gespenst hielt nichts mehr an seinem Platz. Es schwebte eilig auf die Insel und versteckte sich in einem der Bäume. Unter ihm stand ein Häuschen aus Stoff, daneben brannte ein kleines Feuer. Ein Wasserkessel und zwei Becher standen auf dem Rasen. Niemand war zu sehen oder zu hören.
Doch, vom See erschollen nun leise Stimmen.
„Wir dürfen das Feuer nicht so lange unbeaufsichtigt lassen“, sagte eine Mädchenstimme.
„Klar, wir müssen wieder auf die Insel und zu unserem Zelt“, antwortete eine männliche Stimme, „aber zuerst brauchen wir doch einen Fisch.“
Wendel reckte den Hals in die Richtung, aus der die Stimmen klangen, und sah ein Ruderboot. Im Boot saßen ein Mädchen und ein junger Mann, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Sie saßen eng umschlungen auf der Ruderbank und hielten eine Angel ins Wasser. Ein wenig weiter schwamm ein rot – weißer kleiner Gegenstand auf den Wellen.
Plötzlich bewegte sich der Gegenstand und verschwand.
„Ein Fisch hat angebissen!“, verkündete der junge Mann und zog heftig an der Angel. Mit dem Ruck aber verlor er das Gleichgewicht und fiel aus dem Boot.
Platsch machte es. Eine große Spritzerei zeigte die Stelle, an der er untergetaucht war. Prustend kam er wieder an die Oberfläche. Die Angel hielt er noch immer in der Hand. Mit einem Arm schwamm er das kleine Stückchen zum Boot zurück und klammerte sich an den Rand. Dabei neigte sich das Boot gefährlich zur Seite.
„Hier, nimm die Angel, Claudia“, forderte er das Mädchen auf. Es beugte sich zu ihm hin und streckte den Arm aus. Da kippte das Boot um und auch das Mädchen fiel ins Wasser.
Beide jungen Leute fingen an zu lachen. Sie hielten sich an dem umgeschlagenen Boot fest und sahen sich um.
„Meinst du, du kannst bis zur Insel schwimmen?“, fragte der junge Mann.
„Na klar. Aber erst sollte ich meine Jeans irgendwie ausziehen, sie werden zu schwer.“
Sie strampelte im Wasser, dann fing sie an zu schwimmen. Der junge Mann folgte ihr. Er kam nur mühsam voran, denn er hielt immer noch die Angel fest in der Hand.
Als Claudia an Land kam, streckte sie ihre Hand aus und nahm nun selbst die Angel. Sie zog mit allen Kräften.
Aber was war das? Am Haken hing ein alter Plastikeimer voller Wasser.
„Und deswegen haben wir uns vom Boot zerren lassen?“, grummelte der junge Mann, „welch eine Schande!“
„Ach, das war doch aber sehr lustig, Markus“, entgegnete das Mädchen, „ein richtiges Ferienabenteuer. Wir brauchen auch keinen Fisch, wir haben ja noch eine Dose Ravioli. Und das Boot holen wir morgen Vormittag, wenn wir sowieso schwimmen. Jetzt lass uns mehr Holz suchen und unsere Sachen an einen Ast hängen, damit sie morgen wieder trocken sind. Ich kann auch etwas Wärme gebrauchen.“
Wendel schüttelte den Kopf und wunderte sich.
„He, da bist du ja wieder“, rief der junge Mann, „was machst du hier auf der Insel? Kannst du wieder für uns tanzen?“
„Nein, diese Nacht nicht. Ich gehe schnell nach Hause, die Geisterstunde ist fast um“

Einige Nächte später trafen sich die Eule und das kleine Gespenst wieder an dem See. Sie flogen gleich auf die Insel, um zu sehen, ob die jungen Leute noch da waren.
Da stand noch immer das Zelt. Diesmal aber brannte kein Feuer und auch Geschirr lag nicht im Gras. Wäsche hing nicht an den Bäumen. Das Boot war verschwunden.   
„Ob sie noch einmal wiederkommen?“, wunderte sich Wendel.
„Sie müssen doch wohl ihr Zelt holen, das können sie hier nicht einfach lassen“, gab die Eule zu bedenken. „Vielleicht sind sie zum Tanzen in das Lokal am anderen Ende des Sees gegangen.“
Und wirklich, von fern her klang flotte Tanzmusik leise über das Wasser.
Während sich die beiden Freunde noch auf der Insel umsahen, kam plötzlich ein heftiger Windstoß auf und rüttelte gewaltig am Zelt. Regen prasselte nieder. Der Sturm wurde immer heftiger. Äste brachen von den Bäumen, am Zelt lösten sich einige Leinen.
Mit Mühe konnten sich die Eule und Wendel auf einem dicken Ast festklammern. Sie wurden richtig durchgeschüttelt. Der Regen weichte das Federkleid der Eule auf, so dass es schwer und kalt wurde. Nach Hause konnten sie bei diesem Sturm nicht fliegen.
So plötzlich wie er gekommen war, war der Sturm auch wieder zu Ende. Aber wie sah die Insel aus! Überall lagen Blätter und Äste auf dem Boden, das Zelt war halb zusammengebrochen. Und die Geisterstunde war fast vorüber. Was nun?
„Wo soll ich schlafen?“, jammerte Wendel, „hier gibt es kein sicheres Versteck, das mich vor Sonnenstrahlen schützen kann!“
„O doch“, meinte die Eule, „da ist doch das Zelt. Du kannst beruhigt hineinkriechen, dort ist es dunkel.“
„Und wenn die jungen Leute kommen?“
„Die werden laut genug sein, dass du aufwachst. Sie sind ja nicht böse. Wenn du sie um Hilfe bittest und ihnen versprichst, in der Geisterstunde für sie zu tanzen, werden sie dir sicherlich erlauben, den Tag über im Zelt zu bleiben.“
„Was anderes bleibt mir wohl auch nicht übrig“, meinte Wendel und kroch durch eine Lücke im Reißverschluss der Tür in das nasse und halb zusammengefallene Zelt. Es legte sich auf ein Bündel Kleider in einer halbwegs aufrecht stehen gebliebenen Ecke und schlief ein.

In der folgenden Nacht stellte Wendel fest, dass er in dem noch immer halb umgestürzten Zelt allein war. Er krabbelte durch den Spalt im Reißverschluss nach draußen und sah sich um.
Der Mond war nur halb zu sehen, die Sterne funkelten und spiegelten sich im Wasser. Es war sehr still.
Schon wollte er sich auf den Weg in die Stadt machen, da hörte er ein Boot durchs Wasser gleiten. Neugierig setzte sich unser Freund auf einen Ast.
Zwei Mädchen saßen in einem Gummiboot und fingen an zu kichern, als sie sich der Insel näherten.
„Wir sollten wirklich den Eimer mit Nacktschnecken aus unserem Garten in Claudias Zelt ausleeren. Wenn sie morgen kommt und hineinkriechen will, wird sie sich ganz schön ekeln.“
„Au ja, das wollen wir tun. Sie ist so eine blöde Ziege geworden. Immer ist sie mit diesem Markus zusammen und hat für uns gar keine Zeit mehr.“
„Sie hat uns die Ferien ganz schön vermasselt. Mit uns wollte sie zelten. Aber nun zeltet sie mit diesem Bubi. Das muss Rache geben.“
Die beiden Mädchen machten ihr Boot an einer Baumwurzel fest und kletterten heraus. Sie hatten einen großen Eimer mitgebracht. In dem bewegte sich eine dunkle Masse.
„Oh sieh mal“, sagte das eine Mädchen, „das Zelt ist halb zusammengefallen. Offenbar waren sie gestern Nacht gar nicht hier nach dem Sturm. Wenn sie heute Nacht auch nicht kommen, sind alle Schnecken wieder weggekrochen.“
„Sie kommen bestimmt. Ihr Boot war ja nicht mehr am Steg, als wir losgepaddelt sind. Los, lass uns schnell machen, damit sie uns nicht mehr erwischen.“
Das kleine Gespenst hatte alles von seinem Ast aus beobachtet und gehört, was die Mädchen vorhatten.
Jetzt hielt es den Zeitpunkt für gekommen, den Plan zu verhindern und seinen Spaß zu haben. Mit ausgebreiteten Armen und einem lauten „Huhuuuu“ stürzte Wendel sich vom Baum genau vor die Mädchen, die schon fast am Zelt angekommen waren. „Huhuuu, huhuuu!“ heulte er so schauerlich, wie er nur konnte und fuchtelte mit den Armen.
Die beiden Mädchen blieben einen Augenblich vor Schreck wie angewurzelt stehen. Dann ließ das eine den Eimer fallen. Beide rannten zurück zum Ufer. Sie nahmen sich nicht die Zeit, in ihr Gummiboot zu steigen, sondern rannten in den See, schnappten sich die beiden Paddel und drohten damit dem Gespenst.
Das lachte nur und schrie noch einmal sein schrecklichstes „Huhuuuu“.
Mit zittrigen Händen banden die beiden Mädchen das Boot von der Baumwurzel los und schwammen mit dem Boot im Schlepptau vom Ufer weg. Erst als sie ein gutes Stück weit geschwommen waren, kletterten sie in ihr Boot und paddelten davon.
Wendel schaute ihnen nach und lachte. War das ein Spaß gewesen!
Da sah er den umgestürzten Eimer, aus dem eine lange schwarze Nacktschnecke nach der anderen herausgekrochen kam und sich im Gras versteckte. Morgen würde sich das junge Paar sicherlich über den Eimer wundern.
Sehr zufrieden mit sich kehrte er zu seinem Schlafplatz zurück. Was war das doch für ein Abenteuer!


© I. Beddies

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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