Jana Weiß
Brief in den Himmel
Liebe Omi,
ein Jahr ist es jetzt her, genau um diese Zeit. Wenn ich daran zurückdenke, kann ich es immer noch nicht begreifen. Nebulöse Geister durchstreifen seitdem mein Gehirn, halten meine Seele besetzt und umklammern mit eisigem Griff das kleine Herz. „Du wirst sie niemals wiedersehen“, flüstern sie mir leise ins Ohr. Ich hasse sie dafür und möchte gern erwachen. Doch dafür ist es zu spät.
„Ich schreibe mich frei“, habe ich dir einst erklärt. Da gab es bereits unzählige Gedichte und Geschichten, die mein Leben widerspiegeln. Die meisten davon habe ich dir nie vorgelesen, denn sie sind nicht schön. Auch jetzt zwinge ich mich zum Schreiben und weiß dabei instinktiv, dass es nur noch symbolischen Charakter haben kann. Und trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass dich dieser Brief erreichen wird, obwohl die Adresse ungewöhnlich ist, denn ich schreibe in den Himmel.
Februar 2009
Rückblick
Meine Entlassung aus der Klinik ist nur eine Frage von wenigen Stunden, die Koffer sind schon längst gepackt. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Eine unerklärliche Unruhe hält mich gefangen und erlaubt keine Minute der Entspannung. 12 Tage war diese Klinik mein „Zu Hause“ und ich habe gute Freunde gefunden. Jeden Abend trafen wir uns zum gemütlichen Plausch und ich habe oft von dir erzählt. Du hast mich in diesen Tagen begleitet, und in den Nächten meinen Schlaf bewacht. Nur in der letzten Nacht, da sind wir beide aufgeblieben. Ich wollte nicht schlafen, weil ich das Gefühl hatte, dass du nicht mehr da bist, wenn ich erwache.
Gegen 6 Uhr halte ich es nicht mehr aus. Was soll ich auch noch hier? Ich habe andere, bessere Pläne. Heute darf ich gehen, also schleiche ich mich leise aus dem Zimmer, lade die Koffer ins Auto und fahre in tiefer Dunkelheit zum letzten Mal den Schlossberg hinunter. Mein Ziel ist die Autobahn und wenn alles gut geht, bin ich in zwei Stunden bei dir. Es ist verdammt glatt auf den Straßen und ich kenne den Weg nicht, aber ich habe Zeit, denn ich will dich beim Frühstück überraschen. Die Vorstellung, dein Gesicht zu sehen, zaubert ein Lächeln auf meine Lippen und nimmt mir ein wenig die Angst.
Nach einigen Irrfahrten habe ich endlich die Autobahn erreicht. Diese ist wenigstens einigermaßen geräumt, denn es schneit unentwegt und nimmt mir die Sicht. Ich muss mich zügeln und fahre sehr vorsichtig. Das Ziel rückt näher, ich lese die Schilder im Vorbeifahren und weiß, dass uns nur noch wenige Kilometer trennen. Jetzt macht sich die Müdigkeit doch bemerkbar und die Anstrengung des Autofahrens schlägt auf den Magen. Mir ist übel, und umso näher ich der Ausfahrt komme, umso schlechter geht es mir. Noch ein paar Meter. Mein Kopf dröhnt, die Hände zittern. Ich müsste den Blinker setzen, rechts raus. Doch ich kann nicht. Meine Beine sind inzwischen aus Blei, verwachsen mit dem Gaspedal, welches ich noch weiter herunterdrücke, um an Fahrt zu gewinnen. Mit beiden Händen halte ich mich krampfhaft am Lenkrad fest und starre gerade aus. Es ist, als würde mich eine unbekannte Macht in das Cockpit pressen, keine Bewegung ist mir möglich. Nur mein Geist geht eigene Wege. Er hämmert immer lauter: Du bist vorbeigefahren! Du hast das Ziel verpasst. Jetzt ist es zu spät! Das Handy klingelt auf dem Beifahrersitz, just in diesem Moment. Auch das noch. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Vati mich erreichen möchte. Ich lasse es klingeln. Mir ist, als fahre ich um mein Leben oder dem Leben davon.
Am nächsten Tag
Die Nummer meiner Eltern ist schnell gewählt. Mama nimmt ab und ich erzähle ausschließlich von mir. Wie es in der Hautklinik war, dass ich doch weiter gefahren bin, statt dich zu besuchen, dass ich mir den Besuch für März vorgenommen habe und mich nun das schlechte Gewissen plagt. Erst viel später registriere ich, dass sie so wortkarg am Telefon ist. Es ist ungewöhnlich. „Papa hat dich gestern auf der Autobahn angerufen, um dir zu sagen, dass du nicht zur Oma kommen sollst.“. Ich begreife nicht und hake nach. „Wie jetzt? „“Was ist mit Omi? Geht’s ihr schlechter?“. Mir wird eisigkalt und ich möchte am liebsten auflegen. „Sie ist für immer eingeschlafen.“ Da ist er doch, dieser eine Satz, und er nimmt mir jeden Atem. Mir wird schwarz vor Augen und ich beende mühsam das Telefonat. „Zu spät“ – hämmert es unentwegt in meinem Hirn.
So sitze ich viele Stunden in der Küche, unfähig zu weinen, obwohl ich es gern möchte. Weinen wäre eine Erlösung, und die gibt es für mich nicht. Ich komme zu spät. Das ist alles so endgültig. Ich fühle nichts, nur Leere.
Ein letztes Mal
Noch vor zwei Tagen saß ich hilflos vor dem Computer, wollte das Gedicht zum Abschied schreiben, dass ich dir damals versprach. Ich starrte auf ein leeres Blatt und konnte diese Aufgabe einfach nicht erfüllen. „Lies es vor bei meiner Beerdigung“, hast du vor Jahren gesagt und wir haben beide gelacht, fanden es irgendwie witzig. Heute lache ich nicht mehr, es ist makaber. Ach Omi, ich will nichts schreiben, noch weniger vorlesen. Ich will, dass du jetzt neben mir sitzt, und ich darf mich anlehnen – so wie früher. Doch dein Platz bleibt leer.
Nun sind wir auf dem Weg zu deiner Beerdigung. Omi - Ich mag es kaum aufschreiben. Es ist ein schlechter Traum, und ich bete darum, erwachen zu dürfen. Dein Gedicht liegt auf meinem Schoß. Ein inzwischen völlig abgegriffener Zettel, den ich immer wieder lesen muss, um mir die Worte einzuprägen. Es ist und bleibt der einzige Hinweis auf die Realität. Irgendwann ist jede Reise zu Ende, diese hier auch. Das Aussteigen fällt mir schwer. Die ganze Familie ist bereits versammelt. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Ich zögere viele Momente, kann mich kaum entschließen und warte, bis einer nach dem anderen aus der Aufbahrungshalle kommt. Erst dann gehe ich hinein. Schon beim Eintritt umfängt mich eine merkwürdige Ruhe. Du liegst so still und friedlich, als würdest du schlafen und mir ist, als müsse ich nur nahe genug herantreten. Wenn ich dann sanft über dein Gesicht streichle, wachst du auf und es ist alles wieder gut. Natürlich weiß ich, dass diese Wünsche nicht in Erfüllung gehen, aber ich habe lange so da gestanden, dich betrachtet und einfach nur gehofft. Sabine kommt herein. Sie steht eine Weile mit mir zusammen, dann nimmt sie mich sanft in ihre Arme. „Komm“, sagt sie, „es ist Zeit zu gehen“. Mit einem allerletzten Blick in dein liebes Gesicht verspreche ich dir: Ja, ich werde das Gedicht vorlesen– so wie du es dir gewünscht hast.
Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht. Psalm 118, 6
Für immer (In Memorandum Omi)
Gedanken nur, zwei kurze Sätze,
und die Welt bleibt plötzlich stehen,
keine Eile, keine Hetze
Du bist gegangen, wolltest gehen.
Ich kann nicht reden, gar nichts sagen,
tief eingeschnitten in mein Herz,
ich wollte dich noch vieles fragen,
bei meinem Kommen jetzt im März.
Zu spät, zu spät – ruft’s immer wieder,
in meiner Seele ist kein Raum.
Vorbei, vorbei - die schönen Lieder
und mein allergrößter Traum.
In Frieden bist du eingeschlafen,
und deine Seele findet Ruh,
ich kann das alles kaum ertragen,
denn was mir fehlt, bist du, nur du!
Erinnerungen wie Nebelschwaden,
so fern und unerreichbar nah,
als wir uns in den Armen lagen,
denn du warst immer für mich da.
Du hast gezeigt, was Liebe ist,
und das man diese nie vergisst.
Du hast mir all die Kraft gegeben,
die nötig ist zum Weiterleben.
Was mir bleibt aus jener Zeit,
werd ich meinem Herzen tragen,
und für erlebte Zweisamkeit
möcht ich dir leise Danke sagen!
Ein paar Wochen später
Die Tage nach deiner Beerdigung sind vergangen, ohne, dass ich sie bewusst erlebt hätte. Immer wieder quält mich das eigene Versagen, dass nicht rechtzeitige Abbiegen auf der Autobahn, das nicht mehr Abschied nehmen können. Mama sagt, es ist besser so, du bist zu krank gewesen, um deine Familie zu erkennen in den letzten Stunden. Ich glaube nicht daran, denn Nähe und Liebe lassen sich nicht ausschalten. Sie sind immer da, und selbst ein sehr kranker Mensch auf der Schwelle zum Jenseits spürt dies. Deine Familie war bei dir – Omi, und du hast es sehr wohl gespürt. Nur ich, ich hab gefehlt. Es tut mir so leid.
Der Alltag ist gnadenlos. Er regelt das Leben, er maßregelt mich. Es ist ein wochenlanger Kampf gegen meine kranke Haut und diese verdammten Schmerzen. Warum kann ich nicht sein wie früher? Gesund, leistungsfähig, sehr spontan? Wie musst du dich gefühlt haben in deinen schweren Stunden? Ach Omi, du fehlst in meinem Leben.
Trauer
Schweigend saß ich voller Schmerz
an deinem Totenbette,
bald trittst du an den letzten Weg
zu deiner Ruhestätte.
Dein Angesicht so schmal und fein,
ich kann den Blick nicht lassen,
nie wieder wird’s ein Lächeln sein,
für mich ist’s kaum zu fassen.
Ich seh dich an und wünschte mir
ein kleines Stück vom Frieden,
doch ich leide jetzt und hier
der Schmerz will mich besiegen.
Und an dem Grab in aller Stille,
verlese ich das letzte Wort,
es war vor Jahren einst dein Wille,
nun stehe ich hier an diesem Ort.
So sprech ich leise ein Gebet,
für dich, für mich, für alle Welt,
weil Gott in deiner Seele lebt,
die dich und mich zusammenhält.
Adieu mein lieber Sonnenschein,
Vergangenheit will ich behüten,
auf ewig wirst du bei mir sein,
schenkst mir ein kleines Stückchen Frieden.
Februar 2010
Im Jetzt und Hier
Liebe Omi,
hast du meine Gebete vernommen, dort oben, wo du jetzt bist? Geht es dir gut? So viele Dinge möchte ich dich fragen, aber ich erhalte einfach keine Antwort, kann nicht durchdringen zu dir, denn der Nebel meiner Trauer hat sich wie ein schweres Tuch um die Schultern gelegt. Wo bist du?
Ich habe oft daran gedacht, wie es früher war. Mir fallen auch jetzt noch ganz viele Dinge ein, die mich an dich erinnern. Das ist gut so, sagen sie alle. Nur wer sich liebevoll an die Verstorbenen erinnert, trägt sie im Herzen. Das mag ja sein, aber es tut verdammt weh. Ich will nicht, dass du eine Verstorbene bist, ich will bei dir sein. Und zu wissen, dass ich dich niemals wieder sehe, kann ich kaum akzeptieren. Mich plagen extreme Schuldgefühle, weil ich nicht da war, als du deinen Weg beendet hast. Was ist ein Versprechen wert, wenn es gebrochen wird? Nichts! Ich hätte abbiegen müssen, damals auf der Autobahn. Stattdessen gab ich meiner eigenen Unfähigkeit nach, meinen persönlichen Wehwehchen. Da tröstet auch nicht der Gedanke, dass du dich sehr wohl bei mir verabschiedet hast, als ich in der Klinik war, schon Tage vorher. Wie sonst ist diese intensive Nähe zu erklären? Ich weiß auch, dass ich die Einzige war. Keinem sonst ist diese Ehre zuteil geworden. Und für mich war es eine Ehre, Omi! Aber diese Endgültigkeit kann ich nicht begreifen, mein Geist sträubt sich nach wie vor. Darüber bin ich krank geworden in der Seele. Ich weiß, dass du das nicht gewollt hättest, und wärest du jetzt da, würdest du mich in die Arme nehmen und mit einem leicht vorwurfsvollen Ton: „Ach Jani, du bist mir vielleicht eine.“, sagen. Du hättest mich von dieser dunklen Wolke ganz schnell heruntergeholt.
Ich habe lange auf ein Zeichen von dir gewartet, aber mein Empfänger ist gestört und ich kann dich einfach nicht erreichen. Vielleicht bin ich auch zu blind, um zu erkennen, was du mir sendest. Ich wünschte mir dieselbe intensive Nähe wie damals, doch geblieben ist nichts, kein Signal, kein Trost. Du fehlst mir unendlich.
Du fehlst
Ein Jahr ist vergangen,
ich denke ständig zurück,
denn mein Herz ist gefangen,
es schmerzt wie verrückt.
Mir fehlt dein Schoß, um loszulassen,
die warme Hand auf meinem Haar.
Warum hast du mich verlassen?
Es war genau vor einem Jahr.
Wo ist das Lächeln in den Augen,
das Zärtlich sein in deinem Blick?
Ich kann das immer noch nicht glauben,
es fehlt mir sehr – das Stück vom Glück.
Wo ist dein Trost, wenn nichts mehr geht,
dein Glauben, ihn mir aufzuzeigen,
und deine Liebe, die mir fehlt,
im Arm zu liegen, reden, schweigen?
Wo ist das alt vertraute Leben,
die Wärme, die du ausgestrahlt?
In Gottes Hände abgegeben,
der dir jetzt eigene Wege malt.
Du fehlst mir sehr in diesem Leben,
denn deine Kraft – sie ist nicht da.
Zu spät, um meine abzugeben –
heut genau vor einem Jahr.
Du fehlst – ich kann es kaum beschreiben,
und Abschied nehmen fällt mir schwer
beenden muss ich alles Leiden,
es bringt dich niemals wieder her.
Adieu mein lieber Sonnenschein –
ich denke gern an dich zurück,
im Herzen wirst du bei mir sein,
für mich ein kleines Stück vom Glück!
Ein wunderschöner Traum
Das Gedicht zu schreiben hatte alle Kraft verbraucht, ich verspüre unendliche Müdigkeit. Erschöpft krieche ich unter meine Bettdecke, schließe die Augen und gleite in einen tiefen Schlaf. Mit ihm kommt ein wunderschöner Traum, denn er hat mich zu dir geschickt. Du wartest auf mich und endlich, endlich kann ich dich wieder sehen. Noch umfängt dich milchig weißes Licht, aber ich verspüre absoluten Frieden und grenzenloses Vertrauen. Alle Ängste sind ausgeschaltet in dieser kleinen Zauberwelt. Erwartungsvoll betrachte ich deine geliebte Gestalt. Ein wenig unwirklich siehst du aus. Mir ist, als würde dich das helle warme Licht vollkommen durchfluten. Sind wir im Himmel, Omi? Mir fällt so vieles ein, was ich dich fragen möchte. Es gelingt mir nicht.
Gern möchte ich auf dich zulaufen und berühren. Doch umso mehr ich versuche, dich zu erreichen, umso verschwommener wird deine Gestalt. Es ist, als würdest du dich absichtlich zurückziehen. Du willst nicht, dass ich den Lichtstrahl betrete, aus dem du gekommen bist. Erst jetzt begreife ich, warum. Um dich nicht ganz zu verlieren, bleibe ich stehen. „Omi, warum hast du mich verlassen?“. Dein Schweigen kommt mir unendlich vor, dann antwortest du: „Jani, es war nicht deine Schuld, ich war krank, du auch! Ich hab dich sehr lieb, doch nun musst du gehen!“. Das will ich auf keinen Fall, alles in mir sträubt sich. Hier ist es so unglaublich warm und friedlich. „Bitte lass mich bleiben“, rufe ich verzweifelt. „Du musst jetzt gehen“ – sagst du ein zweites Mal, diesmal mit Nachdruck. Deine Worte erfüllen mich mit tiefer Trauer und ich lasse meinen Tränen freien Lauf. Es ist, als würde eine riesige Woge des Schmerzes aus mir herausbrechen und mich überrollen. Deine Gestalt ist nun kaum noch zu erkennen. Noch immer möchte ich dich gern festhalten, wenigstens mit meinen Blicken, doch du wirst immer kleiner, und irgendwann schließt sich der Lichtstrahl. Dann umfängt mich tiefe Dunkelheit, aus der ich nur langsam erwache und zurückkehre in meine eigene Welt.
Geblieben ist die Erinnerung daran und eine tiefe Dankbarkeit für all die schönen Jahre, die wir zusammen hatten, für deine Liebe, die keine Grenzen kennt und für dein Zeichen in der größten Not. Uns beide verband der gemeinsame Glaube an Gott, zu Lebzeiten. Du hast ihn ausgelebt und ich versteckt. Nur bei dir konnte ich offen sein, musste nichts verleugnen. Erst jetzt kann ich diesen Schritt wagen, und ich werde mich ganz bestimmt für gar nichts mehr schämen, auch nicht für mein anders sein. Dafür danke ich dir!
Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir uns wieder sehen. Du wirst am Himmelstor auf mich warten und wir treten gemeinsam in das helle, warme Licht. Ich liebe Dich bis in alle Ewigkeit! Deine Jani
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2014.
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