Marcel Hartlage

Stromausfall

Sie saß jetzt bald eine volle Stunde auf ihrem Sessel und lauschte dem Windheulen draußen. Der Fernseher war aus – den hatte sie schon vor einer knappen Dreiviertelstunde abgestellt –, und die einzige Lichtquelle im Wohnzimmer war die kleine Tischlampe drüben auf der Kommode. Sie fand diese Halbdunkelheit durchaus angenehm, und zusammen mit dem Schneesturm, der draußen tobte, war es sogar richtig gemütlich, eine Symphonie an Wohlwollen und Wärme – aber sie war allein. Sie war schon viel zu lang allein. Seit einer ganzen vollen Stunde wartete sie darauf, dass Scheinwerferlicht durchs Fenster fallen würde und dass ihr Ehemann wiederkam, seit sechzig verfluchten Minuten, und jede einzelne davon war zu viel. Er hatte doch schon längst Schluss, hätte längst zuhause sein müssen. Wo blieb er also?
Susan seufzte. Sie hatte die Unterarme auf den Sessellehnen gestützt und starrte, umwoben von Heizungswärme, auf den ausgeschalteten Fernseher, und vage konnte sie die milchigen, verschwommenen Reflexionen ihres Körpers und der Möbel erkennen. Die Wanduhr – ein alter, holzverzierter Kasten mit knöchelartigen Zeigern – tickte vor sich hin. Oben klapperten die Dachpfannen, und der Schnee wirbelte ums Gebäude und am Fenster empor, wie Meeresgischt an einer Klippe. Der Schneefall war in den letzten Tagen besonders schlimm geworden, und die Fahrten runter zur Stadt hatten sich immer weiter in die Länge gezogen, sodass Richard heute und gestern Morgen eine halbe Stunde hatte eher aufstehen müssen, damit er nicht zu spät zur Arbeit kam. »Bis heute Abend sind die Straßen geräumt«, hatte er heute noch gesagt, als er sich seinen Mantel um die Schultern geworfen hatte. »Und außerdem hat es bis dahin sicherlich auch schon aufgehört zu schneien.«
»Fahr vorsichtig.« Susan hatte ihn besorgt gemustert.
»Das tue ich immer.« Er hatte sich vorgebeugt und ihr einen raschen Kuss gegeben. »Bis heute Abend.«
Dann hatte er die Haustür geöffnet und war gegangen. Die Kältewelle, die dabei in den Flur geweht war, hatte sich, so glaubte Susan, noch eine schiere Ewigkeit um ihre Innereien gelegt, und nur langsam war diese Kälte wieder abgetaut, saß noch immer in ihrem Inneren, und sie hatte das Gefühl, dass, wenn Richard jetzt nicht bald wiederkam, ihr Körper bald mindestens so eingefroren war wie der Briefkasten draußen. Sicher, diese Situationen waren gemütlich – gemütlich für einen Abend mit einer Tasse Tee, einem Roman und einer Kuscheldecke, mit der man sich auf die Couch lümmeln konnte –, aber abgesehen davon besaßen sie auch einfach nur etwas steriles, etwas irgendwie markerschütterndes, das durch die Gliedmaßen fuhr wie Schüttelfrost. Und was machte sie sich eigentlich vor? Das eigentlich bedrückende an dieser Vorstellung war, dass man diesen Abend normalerweise nicht allein verbrachte, sondern sich am liebsten zu seinem Freund unter die Decke kuschelte und das Gesicht an seine Schulter schmiegte und die Beine über seine kreuzte und seine Wärme spürte und mit seinen Fingern spielte – das war für sie die gemütliche, wohlwärmende Form eines vom Schneesturm geplagten Winterabends, und alles andere war nur Ablenkung und illusionär, als würde sie den Abend schauspielern wollen oder so was.
Wenn er wiederkommt, werde ich ihn verwöhnen, dachte Susan, und das war ein kleiner, aufwärmender Gedanke, zumindest in den ersten Sekunden – dann stellte sie fest, dass diese Vorfreude ihr jetziges Gefühl nur verschlimmerte. Seufzend sah sie auf ihren Ehering, der kaum merklich im mageren Lämpchenlicht funkelte. Sie waren jetzt bald drei Monate verheiratet – zwei Monate, sechsundzwanzig Tage und soundso viel Stunden, wenn man es genau nahm (so kitschig zählte sie die Zeit nun auch wieder nicht), und ihre Eltern hatten die Hochzeit überheblich gefunden, überheblich und unausgereift. Susan jedoch schätzte, dass ihre Eltern einfach nicht hatten wahrhaben wollen, dass sie sich für Richard – einem einfach gestrickten Büroangestellten ohne herausragende Qualifikationen und mit durchschnittlichem Abschluss – entschieden hatte. Die klassische Geschichte in einem, wie sie hoffte, klassischem Familienverhältnis, und von sich aus fand sie diese klassische Situation vollkommen okay. Zugegeben, an der Highschool hatten sie und Richard noch ein Geheimnis aus ihrer Beziehung gemacht, was einen gewissen, aufregenden Charme besessen hatte, aber gehörte das nicht irgendwie dazu? Heimliche Treffen, heimliche Spaziergänge, heimliche Techtelmechtel – die klassische, abenteuerliche Palette von rebellischen, sturen, frischverliebten Teenagern, die voller Inbrunst und Risikofreude durch den Tag getänzelt waren. Oh, und wie sie das geliebt hatte …
Susan blinzelte und sah zur Uhr. Bald war es halb zehn. Ob er Überstunden machte? Hatte er sich vielleicht dazu entschieden, im Büro zu schlafen? Diese Vorstellung beunruhigte sie, sorgte für einen weiteren sehnsüchtigen Schauer in ihrem Inneren, und kurz war sie wieder dazu geneigt, es erneut mit dem Handy zu probieren – aber natürlich würde sie bei dem Unwetter nicht durchkommen, so wie die Male davor. Klassische Familie, klassischer Tennieschnulz, klassische Horrorfilmanekdoten – klassisch, klassisch, klassisch und sechzig verfluchte Minuten, aus denen schon bald siebzig geworden waren, und sie saß noch immer hier und starrte auf den Fernsehbildschirm, als würde sie mit offenen Augen schlafen wollen. Warum machte sie sich eigentlich so verrückt wegen dieser Einsamkeit? Wegen dieser Sorge? Allen aufkeimenden (und hirnverbrannten) Vermutungen zum Trotz wusste sie, dass ihm nichts passiert war, natürlich nicht. Es stand ja nicht mal fest, ob er überhaupt am fahren war, ob er zu dieser Stunde und bei dem Wetter überhaupt noch fahren konnte.
Mit zusammengepressten Lippen blickte Susan durchs von Eisblumen beschlagene Fenster und versuchte sich auszumalen, wie die Gegend da draußen jetzt im Schnee aussah. In der Dunkelheit. Im Sturm. Im Windheulen, in diesem typischen (ja, in diesem klassischen) Windheulen, bei dem sie immer – wusste der Teufel, warum – ans Geweine kleiner Kinder und Babys denken musste, die in Horrorfilmen immer ganz plötzlich kreischten, immer aus dem Nichts kamen, und die einem immer eine Gänsehaut verpassten. Kurzzeitig wurde ihr bei diesem Gedanken ein bisschen unbehaglich zumute, und als Ablenkung versuchte sie sich rasch vorzustellen, wie die Landschaft dort draußen stattdessen während des Sommers aussah – den sattgrünen Rasen und das dichte Blätterdach und die milden Brisen –, und nur einen Moment später durchzuckte sie ein sanfter Hauch Nostalgie, als ihr dieser eine Morgen kurz nach ihrer Hochzeit einfiel. An diesem Morgen war sie gegen sechs Uhr wach geworden und hatte schlaftrunken durch den orangefarbenen Schleier der Gardinen geschaut, hinaus ins dämmernd-goldene Sonnenlicht, und in diesem Moment war ein ganz spontaner Entschluss über sie hergefallen. Sie hatte sich auf die andere Seite gedreht und Richard über die Wange gestreichelt, und als er die Augen gerade mal zu zwei Schlitzen geöffnet hatte, hatte sie gelächelt und gesagt: »Komm.«
»Susan, was …« Verschlafen hatte er die Augen zusammengekniffen. »Was ist denn?«
Sie hatte nach seiner Hand unter der Decke gegriffen und ihre Finger darin verschränkt. »Ich möchte nach draußen.«
»Nach draußen?« Richard war etwas wacher geworden. »Schatz, geht’s dir gut? Es ist nicht mal …«
Sie hatte nicht weiter zugehört, die Decke beiseite gestrichen und sich rasch auf ihn gesetzt. »Komm«, hatte sie nur noch einmal gesagt, und dann war sie auf den Boden getapst und hatte ihren frischverpackten Ehemann zum Aufstehen gezwungen. Er hatte gemurrt und geknurrt, aber davon hatte sie sich nicht beirren lassen (eigentlich – aber das hatte sie ihm nicht gesagt – hatte sie das sogar süß gefunden), und so hatte sie ihn die Treppe runter manövriert – sie im Nachthemd, er in T-Shirt und Boxershorts –, und als sie ohne Umwege auf die Küchentür zugegangen war, hatte Richard kurz gezögert. »Wollen wir uns nicht erst was – «
»Nein.« Ihre Stimme hatte einen erstickten Klang gehabt, und offenbar hatte Richard das gemerkt. Nun ließ er sich unbeirrt von seiner Frau nach draußen führen.
Als Susan barfuß ins taunasse Gras tapste, bekam sie eine Gänsehaut. Die milde, aber noch etwas kühle Luft kroch ihr die Beine hinauf, und ein wenig begann sie zu frösteln; nur auf ihren Armen und ihrem Gesicht wärmten sie die Sonnenstrahlen. In der Ferne zog morgendlicher Nebel über die Felder, und der frische Wind wehte ihr unters Nachthemd.
Sie führte Richard bis ans Ende vom gemähten Stück ins dichtere, hüfthohe Gras hinter ihren Garten unter eine Anreihe von Kirschbäumen. Mit jedem knirschenden Schritt schwanden die letzten Züge von Müdigkeit und Benommenheit und tauschten mit einem kribbelnden, herzklopfenden Impuls, der Susan ein bisschen nervös machte, sie aber auch erregte. Die Sträucher strichen um ihre nackten Beine.
Als sie schließlich innehielt und sich zu Richard umdrehte, sah sie in zwei mattschwarze, geweitete Pupillen, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte, und sie konnte seinen süßen Atem in ihrem Gesicht spüren. Die seichte Morgenbrise wehte um ihr langes, braunes Haar und löste ein paar Strähnen, sodass sie ihr Gesicht bedeckten und an ihren Lippen hängen blieben. Das Gras strich um ihre Waden und Knöchel, Tauperlen glitten bis runter auf ihre Zehen, und unter ihren Füßen spürte sie den kühlen, frischen Erdboden.
Richard legte einen Arm um ihre Hüften und zog sie an sich. Wie ein eng umschlungenes Tanzpaar begannen sie ihre Körper aneinander zu reiben, ohne die Blicke voneinander zu nehmen. Er strich über ihren Rücken, bis über ihr Hinterteil und dann an ihren Oberschenkeln entlang, wo er seine Hände unter ihr Nachthemd schieben wollte, doch Susan bekam ihn an den Handgelenken zu fassen und hielt ihn zurück. Er sah ihr herausfordernd in die Augen, ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und als er es wieder versuchen wollte, stieß sie ihn von sich weg. Sofort kam er wieder auf sie zu, und bevor sie sich diesmal wehren konnte, packte er ihre Arme und zwängte sie auf ihren Rücken. Susan versuchte sich zu befreien, aber nicht viel. Jetzt war sie wieder am lächeln, und sie beugte sich vor, bis ihre Lippen an seinem Ohr waren. »Traust du’s dir?«, flüsterte sie. »Na, traust du’s dir, du Mistkerl?«
Er traute sich, und er packte sie und riss sie ohne Umwege zu Boden, mitten ins nasse, juckende Gras und auf den taufeuchten Erdboden, und sie verloren sich in einem Sturm wilder, begieriger Zügellosigkeiten. Sie wälzten sich durch den Dreck, sie kratzte ihn und er spuckte ihr ins Gesicht und es machte sie an, und als sie sich im Augenblick ihres Höhepunkts an seinen verschwitzten, schmutzigen Körper krallte, in eine heiße, schweißnasse Umarmung, wühlte sie ihre Zehen in die Erde und wollte schreien, doch Richard drückte seine Hand von unten an ihren Kiefer, steckte seine Finger in ihren Mund und stieß noch einmal zu, sodass sie einen zweiten Orgasmus bekam und auf seine Knöchel biss. Danach kam sie zitternd und keuchend in seinen Armen zum Erliegen, und er hielt sie fest. Sie schloss die Augen und stupste ihre Stirn auf seine Schulter. Sie verharrten minutenlang in dieser Position, streichelten sich und sagten nicht ein Wort.
Als Susan sich danach mit leichter Schamesröte, aber auch beschwingter Zufriedenheit im Spiegel betrachtet hatte, hatte sie ausgesehen wie nach einer hitzigen Schlammschlacht. Ihr Nachthemd war verdreckt und zerrissen und von Grasabschürfungen übersät gewesen, überall hatten Grashalme und Kirschbaumblätter geklebt, in ihrem zerzausten Haar hatte sich Unkraut verfangen, und an ihren Armen und Beinen waren verschmierte Spuren von Richards Händen – und Zähnen – gewesen; an ihrer rechten Wade hatte sie sogar ein wenig geblutet, und selbst nach dem Zähneputzen hatte sie noch auf knirschende Erde gebissen. Und obwohl sie beide nicht mehr wirklich über diesen Morgen sprachen – vielleicht aus Scham, vielleicht auch, weil er einfach keine Worte gebrauchte –, dachte Susan noch immer daran … und diese sehnsüchtige Erinnerung daran tat jetzt grässlich weh und prangte wie eine innere Blutung in ihrem Magen. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie sie ihre Beine auf den Sessel angezogen und sich ganz klein gemacht hatte. Erst, als diese leicht ekstatische Erinnerung wieder abnahm (und dieses Ziehen in ihrem Unterleib verschwand), lockerte sie sich und blickte erneut nach draußen in die Finsternis.
Im selben Augenblick flackerte das Lämpchen auf der Kommode.
Susan brauchte einen Moment, um wahrzunehmen, dass das Wohnzimmer für den Bruchteil einer Sekunde in komplette Dunkelheit gehüllt war. Erst, als das Lämpchen wieder brannte, sah sie hinüber und starrte dem beigefarbenen Schirm entgegen, als hätte der ihr gerade auf die Schulter getippt. Vielleicht sollte ich ein paar Ersatzbirnen holen, dachte sie, und im selben Moment flackerte die Lampe erneut.
Kurz darauf noch einmal.
Dunkel und hell, dunkel und hell, als zapfte da was an der Stromleitung.
Ein kurzer Wackelkontakt, dachte Susan. Na und?
Wie, um sie herauszufordern, flackerte die Lampe ein weiteres Mal. Diesmal jedoch blieb sie den Hauch einer Sekunde länger aus.
Susan runzelte die Stirn. Sie wartete darauf, dass das Licht erneut verschwand, dass es erneut summte und dieses klassische ssst-ssst-Geräusch machte – aber es geschah nicht. Kein Flackern, kein ssst-ssst. Nur das Ticken der Wanduhr, der Schneesturm draußen und ihr eigener, leicht keuchender Atem. Ansonsten war alles still und regungslos.
Und dann wurde es plötzlich stockduster.
Ein letztes ssst-ssst, und das Licht war weg.
Shit, dachte sie.
Während sie in ihrer Jeanstasche nach ihrem Smartphone zu kramen begann (zumindest für Licht waren diese Pampelmusenprodukte von Apple und co. gut, fand sie), verblassten die letzten Silhouetten der Räumlichkeiten vor ihren Augen. Ihr wurde bewusst, dass sie in kompletter Finsternis mutterseelenallein und von einem Schneesturm eingeschlossen in diesem Sessel in diesem Wohnzimmer in genau diesem Haus saß und auf ihren Ehemann wartete, während der Sturm ums Dach heulte und gegen das Fensterglas drückte und die Dachpfannen zum Poltern brachte und ihr Zuhause unter sich begrub wie eine Lawine einen Skifahrer.
Es ist nur der Strom, dachte sie, als sich ihre Finger ums Handy schlossen. Nur der Strom, Süße, alles Okay. Vielleicht ist es auch nur die Lampe, vielleicht eine Überlastung oder so was, und vielleicht geht sie gleich wieder an. Also mach dir nicht ins Hemd, verstanden? Tu nicht so, als wärst du erst dreizehn und total paranoid.
Susan umklammerte das Handy, zog es aus ihrer Tasche und drückte es mit beiden Händen an ihre Brust. Dann zog sie die Knie rann und setzte die Füße auf dem Sessel ab. Schweigsam lauschte sie der Stille, während sie versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Vielleicht war ja wirklich nur die Lampe kaputt? Vielleicht funktionierte der Rest ja noch? Zugegeben, sie verspürte leichte Unbehaglichkeit, wenn sie sich vorstellte, allein und im Dunkeln in diesem Haus zu sein, während draußen dieser Sturm tobte – eigentlich, so gestand sie sich ein, wuchs diese Unbehaglichkeit längst zu einem kleinen Keim aus Angst an, der sich in ihrer Magengrube sammelte wie eine Stickstoffblase –, aber vielleicht war es ja auch gar kein Ausfall. Vielleicht sprang das Ding ja auch gleich wieder an.
Zaghaft bewegte Susan den Kopf, als fürchtete sie einen Hieb auf die Stirn. Mit ihren Fingern fuhr sie über die Sessellehnen, um sich zu vergewissern, dass noch alles so war wie eben. Sie sah nach rechts Richtung Fenster, dann nach links, bis zur Treppe, und dabei fiel ihr auf, dass das Heizungssummen verstummt war und dass das rote Stand-by-Lämpchen des Fernsehers nicht mehr leuchtete, dass der Sturm jetzt unnachgiebiger und deutlich wahrnehmbarer gegen die Häuserwand klopfte. Die Uhr tickte noch, klar, aber die lief mit Batterien, und aus Susans Sich-dem-Umfeld-Vergewissern-Geste wurde eine verkrampfte, angespannte Haltung, als befürchtete sie, jemand Fremdes stände mit ihr im Raum (ein nicht gerade tröstender Gedanke), während sich in ihrem Inneren eine Kältequelle weitete, so wie heute Morgen, als Richard gegangen war.
Okay, dachte Susan, als sie ihren Blick wieder nach vorn gerichtete hatte, es ist der Strom. Aber vermutlich ist es nur der Schutzschalter. Ja. Der Schalter ist rausgeflogen, das ist alles. Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: Und selbst wenn das nicht der Fall ist, ist das überhaupt kein Grund zur Beunruhigung. So was passiert, und dass es gerade jetz passiert, das ist nur Zufall. Mach dich nicht verrückt, Kleines, mach dich jetzt bloß nicht verrückt.
Aber das war schwer. Die Tatsache nämlich, dass sie allein im Haus war, sickerte jetzt durch sie durch wie dickflüssiger Sirup, und der Sturm draußen – die Böen, die ums Haus peitschten, der Schnee, der umherwirbelte, das Heulen vom Wind, das wie das Geweine dieser widerwertigen Horrorfilmkleinkinder klang –, das alles verschlimmerte diese Tatsache noch um ein Vielfaches, und als sie ihre Beine lockern wollte, stellte sie fest, dass sie es nicht konnte, dass sie es nicht wollte. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich in dieser Sitzposition sicher, sicher und unangetastet, als wäre der Sessel eine Insel umgeben von einem Meer aus Blut.
Stell dich nicht so an, sagte sie sich. Geh los, hol ein paar Kerzen, und dann warte darauf, dass dein Ehemann wiederkommt.
Kerzen. Teelichter. Helligkeit. Die Vorstellung, im gemütlichen Kerzenschein auf ihren Mann zu warten ließ etwas von der fröstelnden Kälte in ihrem Magen auftauen – zwar nicht viel, aber es war schon mal ein Anfang –, und wenn sie erst wieder Licht hatte, wenn wieder alles normal war, dann würde sich das restliche Warten sicherlich auch als so angenehm wie eben erweisen (sie hatte nämlich festgestellt, dass das Warten bis eben, im Hellen, durchaus angenehm gewesen war), und bestimmt würde es auch nicht mehr lange dauern, bis Richard nach Hause kam. Vielleicht konnte sie ja, selbst wenn der Strom wiederkommen sollte, trotzdem darauf verzichten und ausschließlich mit Kerzen leuchten. Das hatte was romantisches, etwas … nun, klassisches.
Gehen wir’s an, dachte die frischverheiratete Susan und setzte ihre Füße auf den Boden. Als sie daraufhin ihr Smartphone entsperrte, musste sie kurz die Augen zusammenkneifen, weil ihr das Display-Licht entgegenstach, und als sie sie wieder öffnete, war ihr Umfeld in einen blassblauen, trüben Schimmer gehüllt. Sie konnte vielleicht zwei, drei Meter weit schauen, bevor sich alles in milchige Unkenntlichkeit verlor.
Susan brauchte einen Moment, um sich ans knappe Licht zu gewöhnen. Langsam begann sie sich im Uhrzeigersinn zu drehen, sah vom Fenster über die Regalwand mit dem Fernseher bis drüben zur Treppe, wo sie das Geländer ausmachen konnte. Von dort aus spähte sie rechts zum Türrahmen, der auf den Flur führte. An dessen Ende stand die Krimskrams-Kommode, in der sich die Kerzen und Teelichter befanden. In dieser Richtung verharrte ihr Blick, und sie starrte dem Durchgang entgegen wie dem Eingang einer Geisterbahn.
Da musste sie jetzt hin.
Susan starrte aufs Display, klammerte die Finger ums Handy und strich drüber wie über den Rücken einer schnurrenden Katze. Der warme Kunststoff, die glatte Oberfläche, das Glas, der Knopf unten in der Mitte, um das Display zu starten – all das fühlte sich irgendwie gut und vertraut an. Zaghaft setzte sie sich in Bewegung und tapste durch die Dunkelheit, als erkundigte sie einen alten Maya-Tempel oder eine mit Fallen besetzte Ruine. Unter ihrer Haut prickelte Nervosität. Sie wusste nicht, warum.
Dann erreichte Susan die Treppe, schlich daran vorbei und schaute der schwarzen Endlosigkeit des Flurs entgegen. Die Gedanken an Horrorfilme und kreischenden und weinenden Kindern hatte sie ausgeknipst. Zum Teufel damit.
Sie erreichte den Durchgang zum Flur und blieb stehen, betätigte probeweise den Lichtschalter, auch wenn es, wie sie ahnte, sinnlos war, denn es tat sich nichts. So nahm sie die Hand wieder vom Schalter und spähte in die Dunkelheit vor sich. Draußen untermalte Windgeheule ihr Innehalten, als drängte sie der Sturm selbst, vorwärtszukommen. Schließlich atmete sie tief durch und betrat den Flur.
Sie wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund verlangsamte sie auf einmal ihre Schritte.
Vielleicht lag es an dem plötzlichen Gefühl der Enge, vielleicht auch an der Dunkelheit vor ihr, doch es war egal, sie verdrängte ihre Sorgen, denn die Panik pulsierte schon dicht genug an ihrer Kehle, und sie wollte das nicht unnötig durch irgendwelche Hirngespinste verschlimmern. Nein, sie verbarrikadierte ihren Kopf vor den Illusionen und Vorstellungen, die ihr Hirn gerade zu projizieren versuchte, und setzte ihren Weg fort, wie eine Abenteurerin ihren Weg durch einen Minenschacht. Langsam folgte sie den weißen Tapeten, die im Handylicht so bläulich leuchteten wie Zähne unter Schwarzlicht. Meter um Meter, immer weiter in die Dunkelheit. Nach kurzer Zeit malte sie sich aus, sie folgte einem U-Bott-Korridor, auf dem von außen statt Wassermassen, Windböen drückten, aber sie konnte nicht beurteilen, ob dieser Gedanke beruhigend war oder nicht. Nach einer Minute zeichnete sich endlich die Kommode in der Finsternis ab. Jetzt ging Susan etwas schneller.
Richard würde mich für bescheuert halten, wenn er merkt, wie kindisch ich mich hier anstelle, dachte sie und musste sogar ein bisschen grinsen. Mit genau diesem Gesichtsausdruck kam sie wie eine verknallte Vierzehnjährige vor der Kommode an und machte die obere Schublade auf. Dabei achtete sie gar nicht auf den offenen, schwarzen Durchgang zu ihrer linken, der in die Küche führte, oder auf die Tür zu ihrer rechten, hinter der sich Richards Arbeitszimmer verbarg. Während sie nach ein paar Kerzen und Teelichtern und Streichhölzern suchte, war sie in Gedanken schon längst zurück im Wohnzimmer, das sie, sollte sie genug Kerzen auftreiben, damit schmücken würde. Und dann, dann würde das Ganze unter Umständen vielleicht sogar doch noch ganz gemütlich werden. Vielleicht war es bis dahin auch etwas kälter im Haus geworden. Dann mussten sie und Richard sich warmhalten. Aktiv warmhalten.
Susan bekam eine rechteckige Packung zu fassen. Sie schloss die Hand drum, hob sie wie einen entdeckten Rubin auf Kopfhöhe und hielt das Handydisplay drauf, um zu erkennen, ob es sich um eine Streichholzschachtel handelte.
Im selben Augenblick machte das Handy Klack!
Urplötzlich stach ihr das Blitzlicht der Handykamera entgegen. Susan fuhr zusammen und ließ die Streichholzpackung fallen. Als hätte sie gerade eine Blendgranate betäubt und benommen gemacht, zwickte sie sich das Nasenbein und kniff die Augen zu. Grelle, weiße Punkte wanderten durch die Schwärze, und ihr Herz hämmerte bis an ihre Rippen.
Zumindest hab ich was zum Erzählen, wenn er wieder da ist, dachte sie, atmete tief durch und blickte dann wieder auf, versuchte, die Orientierung wiederzufinden. Sie musste irgendwie auf den Auslöser für die Kamera gekommen sein, während sie sich mit der anderen Hand darauf konzentriert hatte, die Reibefläche für die Streichhölzer auszumachen. Gott, wie ihr Herz raste. Verdammtes Blitzlicht. Verdammtes Scheißding eines Handys. Noch einmal atmete sie tief durch und schloss die Augen. Dann machte sie sich daran, nach der Streichholzpackung zu suchen. Sie drehte das Handy, sodass sie das Display sehen konnte – und damit auch ihr Foto.
Ihr Herzschlag setzte mit einem Ruck aus.
Susan starrte auf das Bild. Ihr Mund wurde trocken. Über ihre Schultern fuhr Eiseskälte, sie spürte ihre Gliedmaßen nicht mehr. Es war, als hätte die Angst sie augenblicklich in einen Kokon aus Furcht gehüllt, in einen Mantel, der sie lähmte. Sie wagte es nicht mal mehr, zu schlucken.
Auf dem Bild sah sie sich und die verwaschenen Züge ihres nach rechts ausweichenden Kopfes; ihre vor Überraschung zusammengekniffenen Augen, ihre vom Blitzlicht erleuchteten Haarsträhnen und sogar ihren Ehering, der darin funkelte … hinter ihr jedoch, am anderen Ende vom Flur, dort, wo sie vor nicht einmal drei Minuten lang marschiert war, da sah sie die groben Umrisse eines weißen Gesichtes, das durchs Treppengeländer lugte und zu ihr starrte. Weiß, mit zwei unscharfen, schwarzen Schlitzen, dort, wo normalerweise die Augen saßen. Es starrte zu ihr wie ein Kind, das sich mit den Händen um die Treppenpfosten gekrallt hatte, um noch spätabends seine Eltern zu belauschen.
Susan fuhr herum. Sie hob das Handy und leuchtete in den Gang, und fast im selben Augenblick erwartete sie, dass irgendetwas auf sie zugerannt kam.
Aber es kam nichts auf sie zugerannt.
Alles leer.
Auf der Treppe hockte niemand.
Susan stieß den Atem aus, ließ das Handy sinken, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kommode und stieß ihn erneut aus. Unter ihrer Brust hämmerte ihr Herz, als hätte sie soeben einen Flugzeugabsturz überlebt, und mit eiskalter, tauber Hand fuhr sie sich über Stirn und Wange, um die ersten Schweißperlen abzuwischen. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und starrte nach Luft schnappend an die Decke. Sie fühlte sich, als wäre sie gerade aus einem Alptraum aufgewacht.
Jetzt siehst du schon Gespenster, dachte sie. Reiß dich gottverdammt nochmal zusammen. Reiß dich zusammen und –
Von der Treppe her hörte sie Schritte.
Nein, sagte sie sich, noch während das Knarzen der Stufe in ihren Ohren nachhallte, Nein, das waren keine Schritte. Das bildest du dir nur ein. Weil es dunkel ist. Weil du nichts siehst, weil dieser beschissene Strom ausgefallen ist, und weil du gerade unter leichten Schock stehst. Weder waren da gerade Schritte, noch war da ein Gesicht auf dem Bild. Dein für dich wichtigster Sinn ist nur unbrauchbar geworden und spielt dir jetzt Streiche, und dementsprechend überheblich reagiert dein Körper mit seinen anderen Sinnen. Das ist alles. Irritation und Einbildung, mehr nicht.
Susan lauschte und spähte – trotz aufbauschender Angst – den Korridor entlang, doch sie hörte nichts, auch nicht, als sie den Atem anhielt. Keine Schritte. Kein Stufenknarzen. Kein Gesicht, das plötzlich aus der Finsternis zu ihr starrte. Das Einzige, was sie hören konnte, war das Ticken der Wanduhr
(Das war es. Das war es, was du für die Schritte gehalten hast)
und der Wind, der unnachgiebig ums Haus plärrte. Ansonsten war da nichts, zumindest nichts, was sie hören konnte.
Oder?
Susan atmete noch mal tief durch, schloss die Augen und lauschte mit gespitzten Ohren, wie ein erschrecktes Kaninchen. Noch immer nichts – nur der ums Haus brausende Schnee, der ihr langsam das Gefühl gab, unter einer Schneeschicht begraben zu sein, als hätte man sie lebendig in einen Sarg gelegt -, doch ansonsten Stille. Und das war ein gutes Zeichen, oder nicht? Das bestätigte, dass sie sich geirrt hatte, dass sie aufgrund einer Sinnestäuschung –
Knaaarzzz
Susan schlug die Augen auf und spähte in die Finsternis. Sie hatte den Atem angehalten, stand wie vereist da, und auf einmal beschlich sie ein sehr unwohles, sehr abstruses Gefühl. Es war dasselbe Gefühl, das sie eben kurzzeitig im Wohnzimmer beschlichen hatte, nur war es jetzt prägnanter, stärker.
Dieses Gefühl, beobachtet zu werden.
Angestarrt zu werden.
»H-Hallo?«, rief Susan den Flur hinab und schluckte, während sich ihre zitternden Finger ums Handy schlossen.
Knaaarzzz
Leuchte hin, sagte ihr eine innere Stimme. Heb einfach die Hand und leuchte den Flur entlang, und dann wirst du sehen, ob du gerade Selbstgespräche führst, oder ob du tatsächlich mit irgendwem
(irgendwas)
redest.
Doch Susan rührte sich nicht. Ihre Lippen kribbelten vor Nervosität, ihre Fingerspitzen waren kalt, und ihr Herz schlug so schnell, dass sie meinte, ihr Sehfeld pulsierte.
Oder sieh einfach auf das Handy, Süße.
»Richard?«
Sieh nach, ob der Grund für das hier nicht doch existiert.
»Richard, bist du wieder Zuhause?«
Die Dunkelheit gaffte ihr so gähnend entgegen wie ein übergroßes Wolfsmaul, und obwohl Susan sich noch immer nicht traute, sich zu bewegen oder auch nur einen Arm zu heben – absurderweise dachte sie dabei an einen T-Rex aus Jurassic Park –, hegte sie plötzlich die Vermutung, dass Richard vielleicht tatsächlich wieder da war und ihr jetzt, so naiv und dumm es auch klingen mochte, einen Streich spielte.
»Richard?« Jetzt machte Susan einen zaghaften Schritt vor. »Schatz, wenn du das bist, dann bitte … bitte hör auf damit. Das ist wirklich nicht witzig.« Ihre Stimme wurde etwas fester. »Ich mache mir seit Stunden um dich Sorgen, und wenn du schon seit Längerem wieder hier bist, ohne, dass ich davon wusste, und du jetzt meinst, mich – «
Knaaarzzz
Es ist nicht Richard, sagte ihr eine Stimme, die ausgesprochen sicher klang. Es ist nicht dein Ehemann, und du weißt, dass er das nicht ist, weil er so was nie tun würde, nicht dir gegenüber. Du kennst ihn zu gut, ihr seid verheiratet, verdammt nochmal.
Aber dieses Gefühl, beobachtet zu werden, ließ nicht nach, wurde nur immer stärker. Susan spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten und ihr eine Gänsehaut über den Rücken fuhr. Irgendetwas sagte ihr, dass da keine sechs Meter von ihr entfernt etwas war. Etwas Fremdes.
Sie lauschte. Sie konnte die Uhr ticken hören. Als wäre es das Banalste auf Erden, fragte sie sich plötzlich, ob es sich nicht einfach um einen Einbrecher handeln konnte, der vielleicht den Sturm ausnutze und von Haus zu Haus zog. So plötzlich jedoch, wie ihr dieser Einfall kam, schwand er auch wieder, und mit ihm der Schrecken, den er mitgebracht hatte. Aus irgendeinem Grund ging sie nicht davon aus, dass es ein Einbrecher war.
Weil du gesehen hast, was es ist.
Nein, erwiderte Susan. Nein, das habe ich mir nur eingebildet.
Und deswegen weigerst du dich, das Bild erneut anzuschauen, ja?
Susan kniff die Augen zusammen und schüttelte die Stimmen fort. Sie musste sich konzentrieren, musste sich nur in Geduld üben. Vermutlich hatte sie sich alles von Anfang an eingebildet, vermutlich war sie nur so schreckhaft, weil sie eben versehentlich die Handykamera ausgelöst hatte, und vermutlich war alles in Ordnung. Vermutlich rührte ihre Angst nur von der ungewissen Sorge über Richard her, und dementsprechend versuchte ihr Unterbewusstsein nun, irgendwelche Schlupflöcher zu finden, die es mit Angst füllen konnte. Ja, das musste es sein, das erschien Susan so schlüssig wie die Aussage eines Therapeuten. Sie drehte sich wieder um, wollte mit frischem Elan die Streichholzpackung aufheben und endlich Licht in die Bude bringen, damit sie sich wieder darauf konzentrieren konnte, an ihren Ehemann zu denken, und damit sie das hier endlich vergessen konnte.
Doch kaum hatte sie sich umgedreht, erklang vom Flur her ein weiteres Geräusch.
Erneut verharrte Susan. Diesmal tropfte ihr eine Schweißperle direkt an der Schläfe hinab und über ihre Wange, und noch bevor das Ticken der Uhr ein weiteres Mal zu ihr herüberdrang, wurde ihr bewusst, was sie da gerade gehört hatte. Ein altvertrautes, im Alltag selbstverständliches Geräusch, eines, das ihr erst jetzt so wirklich auffiel, eines, das ihr erst jetzt so wirklich einen Schrecken einjagte.
Sie hatte einen Schritt gehört.
Irgendwo in ihrer Kehle machte sich ein Schrei zum Ausbruch bereit. Doch sie unterdrückte ihn. Ganz langsam zog sie den Arm wieder ran, ganz langsam richtete sie sich wieder auf, und ganz langsam und in aller Ruhe versuchte sie sich bewusst zu werden, was hier gerade passierte. Aber es gelang ihr nicht. Ihr Kopf war leer, und alle Skepsis, die bis eben noch existiert hatte, war verschwunden. Auf einmal war sie sich sicher, dass irgendwo hinter ihr jemand stand und sie beobachtete, mitten in der Finsternis, und sie hatte sich noch nie so angreifbar und schutzlos gefühlt. Langsam drehte sie ihre Füße, mit zitternden Fingern versuchte sie ihr Handy zu heben, und mit rasendem Pulsschlag bereitete sie sich darauf vor, erneut in die Dunkelheit zu leuchten.
Im selben Moment hörte sie, wie sich die Schritte beschleunigten.
Susan reagierte instinktiv. Sie riss die Tür zu Richards Arbeitszimmer auf, sprang in den Raum und warf die Tür hinter sich zu. Dann drehte sie den Schlüssel und drückte sich mit keuchendem Atem dagegen.
Irgendetwas rannte durch den Flur.
Susan ließ ihr Handy fallen. Wie traumatisiert hielt sie sich die Ohren zu und ließ sich an der Tür nieder, bis sie mit angezogenen Knien auf dem Teppichboden saß und die Augen zukniff. Kurz darauf meinte sie zu hören – nein, eher zu spüren – wie etwas auf der anderen Seite der Tür stand und einen Moment innehielt, ehe es, spürbar wie ein Windhauch, weiterzog. Und obwohl da die Wand war, glaubte Susan wahrzunehmen, wie es unbeirrt
(dadurch)
dahinter verschwand.
Du bist verrückt, sagte sie sich dann. Du bist verrückt, du drehst ja vollkommen durch. Das Einzige, was da sein könnte, wäre ein Einbrecher, okay? Vermutlich ist er in die Küche weitergezogen, um in aller Ruhe dein Haus zu plündern, und ehe du dich versiehst, wird er jeden Moment wieder verschwunden sein, wie ein Flaschengeist, und dann hat der Spuk ein Ende, kapiert?
Aber Susan war nicht überzeugt. Durch ihre Adern schoss Adrenalin, das nur langsam wieder abklang, ihre Gliedmaßen kribbelten und ihre Zunge war trocken – sie konnte sich an keinen Moment ihres Lebens erinnern, in dem sie schon einmal so viel Angst gehabt hatte –, und irgendwo in ihrem Kopf saß dieser eine, rationale Gedanke, der ihr sagte, dass irgendetwas an dieser Sache irrational war. Sie wunderte sich, so unbeschwert darüber nachdenken zu können, ohne ein zweites Mal in Panik auszubrechen, aber vermutlich war das normal – weil es fernab der eigenen Vorstellungen lag, wie eine Krebsdiagnose oder so was.
Draußen heulte der Wind.
Sie fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und tastete nach dem Handy. Sie musste nur einen kühlen Kopf bewahren. Einen kühlen Kopf und eine besonnene Denkweise, damit sie nicht noch den Verstand verlor, und der Rest würde sich von alleine ergeben, da war sie sich sicher.
Mit dem Handy in der Hand stand sie auf, fuhr sich über die tauben Oberschenkel und versuchte, tief durchzuatmen. Ihr drang der Geruch von frisch gekleisterten Tapeten in die Nase – Richard hatte sein Zimmer erst vor Kurzem renoviert –, und mit dem Handylicht leuchtete sie über den Schreibtisch und den Schrank dahinter. Ruhe bewahren. Cool bleiben. Selbst wenn da draußen jetzt ein Einbrecher war, selbst wenn er ihr Besteck oder ihren Schmuck oder ihren gottverdammten Fernseher mitnahm, so betete sie einfach nur darum, dass er nicht auch noch hier hereinkam, sondern sie einfach in Ruhe ließ und abhaute. Wenn sie sich vorstellte, wie gerade jemand durchs Haus schlich, von Raum zu Raum, während sie hier in der Dunkelheit stand und mit pochendem Herz lauschte …
Auf einmal klingelte Richards Telefon.
Susan starrte dem Schreibtisch entgegen wie vor zwanzig Minuten ihrem Freund Mister Lampe. Wie ein schrilles Echo piepte das Festnetztelefon vor sich hin; das kleine Display, an dem die Nummer aufleuchtete, beschien das Ziffernblatt wie trüber Kerzenschein. Es dauerte einen Moment, bis Susan aus ihrer Starre erwachte und mit euphorischem Gefühl die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte.
Sie betätigte ihn.
Das Licht blieb aus.
Sie betätigte ihn noch einmal. Als sich immer noch nichts tat, spurtete sie rüber zur Schreibtischlampe. Nichts. Der Computer. Nichts. Drucker. Nichts. Hektisch drückte sie die Knöpfe, während das Telefon klingelte und klingelte, aber alles blieb dunkel, alles blieb aus. Susan ließ sich auf die Knie fallen, krabbelte unter den Schreibtisch und suchte im Handylicht nach der Steckdose fürs Telefon. Als sie sie gefunden hatte, zog sie das Kabel raus.
Das Telefon klingelte noch immer.
Rrring Rrring
Susan kauerte sich zusammen, lehnte sich mit dem Rücken an den Rechner und hockte wie ein kleines Mädchen unterm Schreibtisch ihres Ehegatten, während der schallende Klingelton durchs Edelholz vibrierte. Der Lichtschein vom Handy tauchte sie in eine kleine Blase aus trübem Schein, und mit starren Blick und geweiteten Augen hielt sie sich die Ohren zu.
Das ist nich echt, ging es ihr durch den Kopf. Das ist nicht echt, das kann niemals wirklich sein.
(Rrring Rrring)
Vollkommen unmöglich.
»Hör auf«, flüsterte sie, die Hände jetzt auf ihren Nacken gepresst. »Hör auf, hör auf, hör auf, hör endlich auf zu klingeln. Bitte.«
Rrring Rrring
»Hör endlich auf zu klingeln!«
Sie kroch unterm Schreibtisch hervor, stieß Richards Stuhl zurück und schlug aufs Telefon. Als das Klingeln immer noch nicht abklang, schlug sie nochmal, und dann nochmal, und dabei bekam sie weder mit, dass sie zu schluchzen begann, noch dass auf dem Display keinerlei Nummer stand. Nicht mal ein »Nummer unterdrückt« war zu sehen.
»Hör – auf – zu – klingeln – du – blödes – Scheißteil!«
Susan schleuderte den Hörer fort. Da er noch an einer geriffelten Schnur hing, schien es, als steche er kurz wie eine Peitsche in die Luft, bevor er polternd gegen den Schreibtisch knallte und dann nach unten hing, wie eine baumelnde Leiche an einem Strick. Keuchend stand Susan mit geballten Fäusten da und versuchte, sich unter Kontrolle zu halten. Sie zitterte. In ihren Ohren hallte noch immer der Klingelton wider.
Aus dem Hörer drang ein Rauschen. Nein, ein Knistern.
Susan war wie gelähmt. Einem energischen Geschäftsmann gleich stand sie mit den Händen auf dem Schreibtisch gestützt vorm Bürostuhl ihres Mannes und glotzte in die trübe Dunkelheit. Dann, nach vielleicht zehn Sekunden, streckte sie langsam den rechten Arm aus und packte die Schnur. In ermüdender Geschwindigkeit zog sie das Ding wieder nach oben, bis der Hörer unter ihrer Hand baumelte. Es rauschte noch immer. Wie in Zeitlupe nahm Susan den Hörer in ihre Hand und führte ihn dann – ohne so recht zu wissen, warum eigentlich – an ihr Ohr. Sie lauschte, als lauschte sie ihrer Mutter beim Schwatzen.
Dann, nuschelnd und langgezogen:
»Suuusaaan«
Die Stimme klang, als stände sie drei Meter von der Sprechmuschel entfernt und mit einem Stück Pappe vor dem Mund. Sie war kaum verständlich und klang kalt. Susan bekam eine Gänsehaut. Ihre Finger krallten sich um den Hörer.
»Suuusaaan«
Jetzt begann ihre Hand zu zittern, so stark, dass der Hörer gegen ihr Ohr und ihren Kiefer schlug. Ihr blieb die Luft weg, und ihr Kopf war vollkommen leer.
»Suuusaaan«, drang es im Singsang aus der Sprechmuschel. »Suuusaaan … du siehst so ängstlich aus …«
Dann war die Stimme weg. Aufgelegt.
Susan ließ den Hörer fallen.
Das Handylicht unterm Schreibtisch verblasste. Völlige Dunkelheit umfing sie. Sie nahm es nicht wahr, sondern stand nur da und starrte ins Leere. Wäre in diesem Moment eine Vase zerschellt, wäre in diesem Moment das Fenster zersprungen, so hätte sie nicht reagiert. Aus diesem Grund nahm sie das leise, abgehackte Klopfen an der Tür erst war, als sie nach ein paar Sekunden blinzelte und aufschaute. Das Klopfen klang sanft, aber fest, als würde jemand in beständigem, schnellem Rhythmus mit den Fingerknöcheln auf einen Schreibtisch hauen. Ein bisschen erinnerte es Susan an das entfernte Schlagen eines Hammers auf einer Baustelle.
Klopf, Klopf, Klopf.
»Glaubst du wirklich, ich mach dir die Tür auf?«, hallte ihre Stimme durch die Finsternis. Sie legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und lachte kurz auf. »Ist das dein Ernst, du Scheißkerl? Komm doch rein.« Wieder lachte sie. »Komm doch rein, zeig mir einen deiner Zaubertricks und komm rein, na los!«
Das Klopfen verstummte – dann wurde die Türklinke nach unten gedrückt.
Susan erstarrte. Sie spähte durch die Finsternis, hielt den Atem an und lauschte, wie die Tür langsam, mit einem leichten Quietschen in den Angeln, aufschwang. Sie meinte, die Kälte vom Flur zu spüren, die in den Raum drang wie Nebel, und dass neben dieser Kälte auch noch etwas anderes war. Etwas kühles, etwas bedrückendes. Etwas schleichendes.
Susan kauerte sich hinter den Schreibtisch. Mit der einen Hand hielt sie sich an der Kante fest, mit der anderen tastete sie unterm Schreibtisch nach ihrem Handy. Ihre Finger waren glitschig vor Schweiß und ihr Herz pochte so laut, dass es dröhnend in ihren Ohren widerhallte. Wieder glaubte sie, eine Bewegung im Raum zu spüren – nicht zu sehen, nicht zu hören, sondern einfach nur zu spüren, gleich dem Grollen eines Donners –, und als sie das Handy umfasste und sich aufrichtete, erwartete sie, dass jeden Moment etwas auf sie zusprang und sie an der Kehle packte. So abstrus ihr dieser Gedanke vor zehn Minuten noch gewesen wäre, so ernst war er ihr jetzt.
Stille. Der Wind heulte.
Dann wollte sie ihr Display betätigen und in den Raum leuchten, doch kaum hob sie ihre Hand, gab ihr Handy auf einmal piepsige, rauschende Laute von sich – sie meinte zu fühlen, wie sich die Elektronik im inneren förmlich verbog , und dann splitterte das Display. Die Scherben flogen ihr entgegen, und Susan stieß einen Schrei aus und hielt sich den Ellenbogen vors Gesicht. Ein Splitter wurde in ihren Unterarm geschleudert, die anderen trafen sie unterhalb der Achsel, und noch während sie spürte, wie warmes Blut aus ihren Wunden tropfte, warf sie das Handy in den Raum und sprintete am Schreibtisch vorbei. Sie meinte einen Windzug neben sich zu spüren, irgendetwas strich ihr über die Schulter
(ein Schleier ein Gewand)
und dann knallte sie mit der Stirn gegen die Tür. Susan stöhnte auf und taumelte zurück. In der Schwärze tänzelten weiße Sterne, Übelkeit überfiel sie und ihr wurde schwindelig. Doch als es hinter ihr auf einmal kälter wurde, rappelte sie sich wieder auf und stolperte so hastig auf den Flur, dass sie mit der Schulter gegen die gegenüberliegende Wand stieß. Sie schluchzte, heißes Blut rann über ihre Stirn und benetzte ihre Augen, und sie blinzelte und rannte weiter. Den Gang entlang, durch die Schwärze, dem Wohnzimmer entgegen, und sie hörte, wie etwas hinter ihr war, wie etwas sie verfolgte.
Susan erreichte das Wohnzimmer. Mit der Hüfte knallte sie gegen einen Beistelltisch, Bilder und Zeitschriften fielen auf den Boden und die Bilderrahmen zersprangen, und keuchend versuchte sie, sich zu orientieren. Hinter ihr waren Schritte. Der Schmerz in ihrer Stirn drückte auf ihr rechtes Auge, und panisch stellte sie fest, dass sie nicht mehr wusste, in welche Richtung sie schaute. Erst, als sie das Ticken der Wanduhr hörte,
(rechts es ist rechts von dir du musst rechts)
taumelte sie voran und steuerte auf die Haustür zu. Sie trug weder Schuhe noch Jacke, doch das war ihr egal, sie wollte nur so schnell wie möglich die Klinke umfassen und hier raus. Sie war schon fast an der Tür angelangt und machte sich bereit, sie aufzustoßen und in einem Hechtsprung nach draußen zu flüchten, doch hörte sie in genau jenem Augenblick einen Schrei - einen Schrei, der von der Treppe kam.
»Susan!«
Sie blieb ruckartig stehen und drehte sich um. Starrte in die gähnende Finsternis, keuchend und völlig außer Atem.
»Susan, hilf mir!«
»Richard!«, schrie sie. Sie stolperte durch den Flur zurück und rannte auf die Treppe zu, und plötzlich – als hätte sie einen Geistesblitz erhalten – ergab für sie alles einen Sinn. Irgendetwas war hier, irgendetwas war in diesem Haus, und irgendwie war es Richard aufgelauert und hatte ihm etwas angetan, ihn nach oben gebracht und ihn dort festgehalten – und das alles, während sie auf ihn gewartet hatte, während sie dachte, er wäre noch immer auf der Arbeit oder auf dem Rückweg. Sie rannte die Treppe empor, und sie hatte vor Augen, wie es ihn aus seinem Wagen gezerrt, ihn durch den Schnee hierhergeschleppt und dann den Strom abgestellt hatte, damit sie abgelenkt war und nicht bemerkte, dass es ihn nach oben brachte, aus Gott weiß was für einen Grund.
Das Gesicht, dachte sie. Oh, das Gesicht, es hat mich angegrinst und mich ausgelacht, und vermutlich hat sich Richard zu diesem Zeitpunkt längst vor unserer Haustür befunden oder … oder war nur ein paar Stufen über dem Ding gewesen.
Wut packte sie. Wut und Hass, dass sie so ängstlich gewesen war, und sie nahm die letzten Stufen doppelt und stand eine Sekunde später oben auf dem Flur. Er war L-förmig, die Treppe befand sich direkt am Schneidepunkt, und Susan lauschte angestrengt in die Finsternis hinein, wie in eine Hölle.
»Susan!«
Aus dem Badezimmer.
Sie bog nach links rannte los. Ihre Stirn pochte und ihr war schummrig zumute, doch sie verdrängte all das nach hinten und konzentrierte sich darauf, seiner Stimme zu folgen. Mit der rechten Hand strich sie über die Wand, an der ersten Tür zum Schlafzimmer vorbei, bis sie die zweite Tür zum Bad erreichte, und mit einem weiten Schwung stieß sie sie auf.
»Richard?« Ihre Stimme zitterte und klang brüchig. »Richard, Schatz, bist du hier? Rich –«
Und dann war da ein Grollen. Es war ein so tiefes Grollen, dass Susan das Herz stehen blieb und ihr Gesicht erstarrte. Sie lugte auf den Flur und spähte in Richtung Treppe, und irgendwo von dort unten drang es zu ihr hinauf. Ein Grollen. Ein Brüllen, so dunkel und monoton, dass es wie das entfernte Brechen von Felsen klang, wie der kehlige Laut eines knurrenden Bären. Und ganz langsam – sie war sich nicht sicher; sie war sich bei überhaupt nichts mehr sicher, seit sie auf den Fotoauslöser ihres Handys gekommen war und dann nach und nach den Verstand verloren hatte –, ganz langsam meinte sie zu hören
(du spürst es es ist nur in deinem Kopf)
wie dieses Grollen in ein Lachen umschwang. Dissonant, surrend, und kaum wahrnehmbar, doch Susan hörte es.
Sie hörte, wie sie ausgelacht wurde.
In diesem Moment erschlaffte ihre Willenskraft. Im Rückwärtsgang marschierte sie ins Bad, schloss die Tür und drehte den Schlüssel, und dann setzte sie sich in die Badewanne. Sie brauchte einen Moment, um den Rand zu ertasten, doch dann schwang sie sich drüber, ließ sich aufs kalte Keramik nieder und zog die Beine ran. Sie begann zu weinen, schlang die Arme um die Knie und schluchzte erstickt, und die Scherben in ihrem Fleisch knirschten und ihre Stirn pochte, das Blut rann über ihre Wange und tröpfelte zwischen ihren Armen in die Wanne. Lautlos und ohne, dass sie es merkte.
Auf der anderen Seite der Tür, nach einem Moment der Stille: Klopf, Klopf, Klopf.
»Halt doch endlich deine Fresse!«, schrie sie. Sie hörte, wie etwas an der Tür schabte, als wäre es dabei, ganz langsam die Klinke zu ertasten, doch sie legte ihr Gesicht wieder auf ihre Knie und heulte weiter.
Vielleicht ist es nur deine Einbildung, dachte sie. Vielleicht bildest du dir das alles nur ein, vielleicht bist du ja krank im Kopf und das wird dir erst jetzt bewusst. Oder du bist auf dem Sessel eingenickt und träumst, und gleich wachst du auf wie in einem schlechten Film und Richard wird vor dir stehen und dich anlächeln und sagen, du, ich glaube, du hast schlecht geträumt, du hast die ganze Zeit geschrien. Oh, und dann wird er mich auslachen, und ich werde auch lachen und dann wird die Sache erledigt sein; ein fahler Beigeschmack, so wie das immer nach einem Alptraum ist, aber irgendwann verschwindet er, und dann ist alles wieder gut.
Klopf, Klopf, Klopf.
Es ist nur die Finsternis, dachte sie. Wir fürchten uns nicht vor der Dunkelheit, sondern vor dem, was sich darin verstecken könnte; ich bin mir sicher, das haben wir unseren Vorfahren zu verdanken, und ich schätze, wenn man sich auf seine Instinkte verlassen muss und durch die Schwärze wandert, dann wird das Unterbewusstsein genau diesen Instinkt der Vorsicht wachrufen und ihn in die Realität überspielen. Ganz einfach. Wenn es keine Probleme gibt, dann macht man sich welche – das ist ganz menschlich.
Als das Klopfen aufhörte, ein kurzes Rasseln im Schloss erklang und die Türklinke sich nach unten drückte, war Susan leicht am schmunzeln. Mit tränennassem Gesicht sah sie auf, auf die sich langsam öffnende Tür, und im fast selben Moment meinte sie, am Fenster einen Lichtschein zu sehen. Er kam so plötzlich und war so schnell verschwunden, dass sie blinzelte und zweimal hinsah.
Die Auffahrt vor dem Haus führte in einer S-Kurve den Hügel hinauf, auf dem es stand, und dabei tänzelten die Scheinwerfer immer an der rechten Häuserwand entlang, wenn sich ein Auto näherte.
So wie eben.
Die Türscharniere quietschten.
Susan sprang auf. Sie stolperte über den Wannenrand und fiel nach vorn, doch sie federte sich mit den Händen ab und rappelte sich wieder auf. Im selben Moment meinte sie, dass sich direkt vor ihr etwas aufzutürmen begann, etwas kaltes, massives, schwarzes, und ehe sie noch länger darüber nachdachte, schrie sie auf und holte Schwung. Sie dachte, sie würde irgendwo gegen stoßen, gegen einen labbrigen, gummiartigen Körper, doch sie fiel
(hindurch)
nach vorn
(Nebel es war Nebel schwarzer Nebel)
und dann landete sie schmerzhaft auf dem Flur. In ihrem Mund lag plötzlich ein fauler, bleierner Geschmack, als hätte sie aus einem Abflussrohr getrunken, und ihr Magen zog sich zusammen und sie würgte. So schmeckt es, dachte sie. Nach Fäulnis und Tod.
Sie hustete, stützte sich an der Wand und richtete sich auf. Im selben Augenblick spürte sie einen Windzug hinter sich, und dann wurde sie durch den halben Flur geschleudert. Sie flog durch die Luft und landete drei Meter vor der Abbiegung zur Treppe auf dem Boden. Rasender Schmerz durchzuckte ihre Schulter, für ein paar Sekunden blieb ihr der Atem weg, und dann kroch sie langsam voran, Meter um Meter, bis sie vor der Treppe war und sich schwankend auf die Beine stellte.
Und plötzlich kam etwas angerannt. Nicht vom Bad, nicht von hinten, sondern von der Seite, von dem anderen Flur. Sie wandte sich um und sah es nur ganz kurz
(das Gesicht)
und dann wurde sie mit einem Ruck die Treppe hinuntergestoßen. Krachend polterte sie die Stufen hinab, sie überschlug sich mehrmals und stieß mit ihrer bereits kaputten Schulter gegen das Geländer. Schmerz durchzuckte ihre Wirbelsäule, die Wunde an ihrer Stirn platzte auf und zog eine spritzige rote Spur hinter sich her, die jetzt in absoluter Schwärze nicht zu sehen war. Auf der letzten Stufe angelangt, blieb Susan mit dem Rücken nach unten und den Blick nach oben liegen. Sie röchelte, und sie spürte, dass sie sich ein paar Rippen gebrochen hatte. Sie schnappte nach Luft, und es tat höllisch weh.
Sie wollen nicht, dass ich gehe, dachte sie, kicherte hysterisch und drehte sich dann auf ihren Bauch, krabbelte voran. Sie ignorierte den Schmerz, ignorierte das Blut und ignorierte das Ächzen ihrer Knochen – sie kroch weiter und dem Licht entgegen, das durchs Milchglasfenster auf den Flur fiel und den Eingangsbereich in einen spärlichen,
(Licht sie mögen kein Licht)
schwachen Schein tauchte.
Auf halber Strecke richtete sich Susan auf die Beine, und gekrümmt und taumelnd gelangte sie bis zur Tür. Sie stieß sie auf, noch ehe sie realisiert hatte, dass sie da war, und dann umschlang sie plötzlich Kälte.
»Ach du Scheiße, Susan!« Vorm Scheinwerferlicht tauchte eine Gestalt auf, und Susan schlug die Tür hinter sich zu und taumelte ihr entgegen. Als sie die Stufen der Veranda herunterstapfte und ihre Beine bis fast zu den Knien im Schnee versanken, schaffte sie noch ein paar halbherzige Schritte, bevor ihre Augenlider flatterten und sie nach vorne fiel.
Richard bekam sie zu fassen. Sie stöhnte vor Schmerzen auf, doch als seine warmen Hände sie umschlossen und sie an sich drücken, konnte sie nicht anders, als vor Erleichterung in Tränen auszubrechen. Ihrer Verletzungen zum Trotz schlang sie ihrem Ehemann die Arme um den Körper, und dann sanken sie beide auf ihren Knien hockend in den Schnee. Es war dieselbe Haltung, die sie auch an jenem Morgen zwischen den Gräsern gehabt hatten.
»Was ist passiert?« Er strich ihr eine verschwitzte Haarsträhne hinters Ohr und scheuerte über ihren Rücken. »Großer Gott, Susan, was ist passiert?«
»D-d-der …« Ihr Atem stockte, die Kälte umhüllte ihre Stimmbänder. »D-der Storm i-ist aus-ausg-g-gefallen.«
»Der Strom?« Er musterte sie skeptisch. »Warum blutest du? Wie stark bist du verletzt?«
»T-Treppe«, murmelte sie. »R-Richard, im Haus i-ist je-je–«
»Gott, es tut mir leid.« Er drückte sie fester an sich, und sie stöhnte auf. »Es tut mir so Leid Susan, aber der Schnee, das Wetter. Ich bin einfach nicht durchgekommen. Es hat ewig gedauert, bis sie die Straßen geräumt haben, und auf unsere Auffahrt komme ich gar nicht mehr drauf.«
»I-Im Haus i-ist je-jemand.« Voller Panik sah sie ihm in die Augen. »Wir m-müssen weg. Sch-schnell, bitte –«
»Was?« Er sah sie entgeistert an. »Wovon redest du da? Du meinst, da ist noch jemand in unserem Haus?«
Sie nickte. »J-Ja, a-a-aber –«
»Etwa ein Einbrecher?« Er sah an ihr vorbei auf das große, weiße Haus, hinter dessen Fenstern nichts als Schwärze lauerte. »Hat er dir das etwa angetan? Susan?«
Sie stotterte leere Silben, begann zu zittern und brach wieder in Tränen aus. »Geh nicht rein«, schluchzte sie. »B-Bitte nicht, Richard, bitte nicht.«
Er sagte nichts und hob sie hoch. Sie merkte erst, dass er sie trug, als ihre nassen Socken nicht mehr im Schnee steckten, und kurz darauf erreichten sie seinen Wagen. Er machte eine der Hintertüren auf und bugsierte sie sanft auf die Rückbank. Sie stöhnte auf, ihr war heiß und schummrig zumute, und ihre Stirn glühte vor Schmerz. Als Richard sich wieder zurücklehnte und auf sie hinabsah, lächelte er besorgt.
»Du musst dringend ins Krankenhaus. Glaubst du, du hältst noch einen Moment durch?«
»Nein, Richard –«
»Ich hole dir nur trockene Klamotten und eine Decke. Und Verbandszeug brauchst du auch.« Er spähte einmal Richtung Haus, und dann sah er sie wieder an. »Falls da jemand ist, werde ich mich schon um ihn kümmern. Warte hier. Ich bin gleich wieder da.«
»Richard!«
Er schlug die Tür zu. Unter Schmerzen richtete sie sich auf und schaute durch die Windschutzscheibe in die Lichterkegel der Scheinwerfer. Sie erkannte Richards Gestalt, die durch den Schnee stapfte und sich der Veranda näherte. Er hatte sein Handy hervorgeholt, damit er was zum Leuchten hatte, und sein Gang wirkte selbstbewusst und entschlossen. Das Haus ragte vor ihm auf wie eine beschienene Kapelle, und als er die Stufen emporschritt und sich den Schnee abklopfte, drehte er sich nicht mehr zu ihr um. Susan sah ihm stumm hinterher.
Dann ging er ins Haus und machte die Tür hinter sich zu.
 

 

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Marcel Hartlage).
Der Beitrag wurde von Marcel Hartlage auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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