Jana Weiß

Wenn Dummheit Früchte trägt


 

Stell dir vor, du gehst durch die weite Welt, vorbei an saftigen Wiesen, der blaue Himmel strahlt, die Sonne tut das auch. Strahlt dein Gesicht, nur weil sie es tut? Noch bist du allein, also musst du dir keine Sorgen machen, wie es dein Gegenüber betrachtet, falls dieser überhaupt einen Gedanken daran verschwendet. Nichts stört, keine Fragen, keine Behauptungen, keine Sorge, keine Angst, ja nicht mal Langeweile. Beinahe monoton verläuft dein Weg in dieser Stille, du fragst nicht einmal nach dem Sinn und nach dem Ziel. Ausgeschaltet das quälerische Hirn -  jener Unruhegeist, der immer auf der Suche nach Antworten oft genug keine Ruhe gibt. Jetzt hast du Ruhe, aber ist diese nicht auch ein wenig trügerisch?

Und nun stell dir einmal vor, dass links und rechts, vor dir und hinter dir, die gleiche Trägheit herrscht, ob Natur oder Mensch. Gleichsam in einem Trott, die Farben längst verblasst zu einem undefinierbaren Grau in verschiedenen Abstufungen, und nur ein paar ganz wenige Unverdrossene versuchen auch dieser Farbe etwas abzugewinnen. Man nennt sie verschämt Optimisten, selbstverständlich leise und nur hinter vorgehaltener Hand. Verzweifelt suchst du Schritt zu halten mit diesem oder jenem. Willst dich anpassen, nicht den Anschluss verlieren, dein Straucheln bleibt unbemerkt, und wenn doch, wer sollte Notiz davon nehmen? Die Schulter vor dir zuckt ein wenig, der Gang gerät ins Stocken, und mit einer geringen Kopfbewegung schaut dieser nach rechts. Du folgst der Bewegung, denn antrainiert ist antrainiert. Was du siehst, erschreckt für einen Moment. Dort steht ein Zaun, zur Hälfte im selben scheußlichen Grau, eins, an dass du gewöhnt bist, wovon du lebst, worüber du nicht nachdenkst.

Die andere Hälfte ist gestrichen in den Farben des Regenbogens. Du spürst einen leichten Schmerz in deiner Brust und Sehnsucht, die sich breit macht wie eine warme Welle, die deinen Körper umspült, ungefragt und unerwartet. Neugier erwacht, und beinahe zwanghaft bleibst du stehen, kannst den Blick nicht lösen, fühlst Glück beim Hinsehen und hältst stand, während die anderen dich mühevoll umrunden müssen. Du bist zu einem Hindernis geworden, einfach so und nur, weil du nicht weiterlaufen möchtest. Aus dem Takt  ist er geraten, der gleichmäßige, immer langweilige Strom, und Du bist schuld daran!

Inzwischen weht ein scharfer Wind und bläst dir mitten ins Gesicht. Du sollst gehorsam sein, zurückkehren in die genormte Reihe, mitmarschieren in einem Tritt. Doch noch immer leuchten die Farben, locken verführerisch in grün wie die Hoffnung, rot wie das Feuer, blau wie der Himmel – der längst vergessene, gelb wie die Ähren auf dem Feld. Erinnerst du dich an sie?
Noch zögerst du, willst nicht zur Seite ausweichen, hinüber zu dem bunten Zaun. Der Weg scheint dir mühsam und gefährlich. Dein Stehenbleiben erzeugt bereits erste fragende Blicke, Unverständnis auf der ganzen Linie. Und erst jetzt nimmt man Notiz von dir – endlich! Wie lange hast du darauf gewartet! Doch nun musst Du dich entscheiden, kannst nicht stehen bleiben auf ewig, es heißt weitergehen in die graue Ewigkeit oder ausscheren in eine neue Zukunft. Ein Nachbar neben dir streift deine Schulter, ein kurzer Blick aus seinen leblosen Augen, und ganz tief darin, fast versteckt, entdeckst du ein Fünkchen Bewunderung. Er hat keine Kraft, das ist es wohl. Schon strafft sich dein Körper und deine Haltung. Dein Blick wandert hinüber zu der Gruppe Menschen, die fröhlich und voller Tatenkraft bereits die nächste Holzlatte des Zaunes zu streichen beginnen. Du verspürst keine Angst und beginnst zu laufen. Noch ist es ein sehr unsicherer Gang und oft strauchelst du, aber es macht dir nichts mehr aus. Mit jedem Schritt wachsen deine Neugier und deine Sehnsucht. Du kämpfst dich durch Reihen der Ignoranz, des Starrsinns, des sich längst Aufgegeben haben, achtest nicht auf greifende Hände, die die Ordnung wieder herstellen wollen und notgedrungen auf dich acht geben müssen. Nun ist es zu spät! Kraftvoll und energisch sind deine Schritte und dein Wille. Dann ist es vollbracht. Drüben bist du – auf der anderen Seite.  „Komm“ sagt einer lächelnd, „nimm den Pinsel in die Hand und verbessere die Welt“.

Die Sonne steht tief am Horizont, taucht die Natur in glutrote Farbe, der Wind hat sich gelegt. „Lass es gut sein für heute“ sagt jemand zu dir.  Der Pinsel fällt  schwer aus deiner zittrigen Hand. Ungewohnt ist diese Arbeit, doch sie macht Freude. Die Menschen um dich herum bestehen aus einem bunt zusammen gewürfelten Haufen: dort der Idealist, da ein Künstler, gleich daneben zwei Politiker, dazwischen eine Arbeiterfrau. Das Modepüppchen zeigt keine Allüren, arbeitet so gut wie sie kann, während der Kumpel aus der Grube bereits mehrere Meter Holzzaun vorgearbeitet hat. Es ist egal, was und wie viel jeder schafft, es zu tun, ist der Sinn dieser Arbeit. Jeder hilft jedem und keiner bleibt zurück. Doch nun ist der Abend angebrochen. Das lustige Völkchen hat ein Lagerfeuer entzündet. Bunt ist ihre Kleidung und bunt leuchtet der halbfertige Zaun im sanften Licht der Abenddämmerung. Saftige Fleischstücke, locker auf Spieße geschoben, rösten langsam im Feuer vor sich hin. Große Kartoffeln lagern in der Glut, werden bald gar sein und ihr köstlicher Duft steigt dir bereits in die Nase. Fast alle haben sich um das Feuer versammelt, sind noch mit dem Essen beschäftigt. Jemand gibt einen Witz zum Besten. Du hast ihn nicht begriffen. Aber das ist nicht schlimm, hier kannst du es sagen oder schweigen,  du musst nicht länger so tun als ob! Neben dir eine Dame im pelzverbrämten Mantel. Ihr fällt das einfache Leben sichtlich schwer. Mit spitzen Fingern zerteilt sie ein Stück heiße Kartoffel sorgfältig auf einem Blatt. An Tellern mangelt es. Ihre rechte Hand ist ein wenig geschwollen, denn das Pinselhalten will geübt sein. An ihrer für diesen Ort völlig unpassenden, edlen und wahrscheinlich auch teuren Kleidung ist abzulesen, dass sie sich genau wie du erst vor kurzem entschlossen hat, auszusteigen, halt zu machen, um neue Erfahrungen zu suchen, aus welchen Gründen auch immer. Fragend schaust du sie an, betrachtest das scharfgeschnittene Profil, die ein wenig zu lang geratene Nase, das aschblonde  Löckchen an ihrem Ohr, welches sich nicht bändigen lassen will und widerspenstig immer wieder an ihrem Ohrläppchen kitzelt. Unwillig streicht sie es zur Seite, wieder und wieder, ohne Erfolg. Und jetzt endlich bemerkt sie dein Interesse, wendet ihren Blick und sieht dir geradewegs in die Augen. „Ich will dir etwas zeigen“, sagt sie, und ohne auf deine Antwort zu warten, nimmt sie dich bei der Hand und führt dich in einen großen Bauerngarten. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Büsche und Bäume werfen lange Schatten. Grillen zirpen um die Wette, sie haben nichts anderes gelernt, es ist ihre Natur, und doch sind dir diese Geräusche fremd nach so langer Zeit. Kann man Grillenzirpen vermissen? Ja, man kann!

Die schöne Unbekannte führt dich zu einem großen Baum. Alt ist er und knorrig, seine Äste gebogen unter der Last der vielen Früchte. „Dies ist der Baum des Lebens“, sagt sie, und ihre Stimme klingt leise und verführerisch. „Ein Apfelbaum mit goldenen Früchten“. Du trittst näher, willst den Duft einatmen, den die Äpfel verströmen, erinnerst dich an fröhliche, unbeschwerte Kindertage, an aufgeschlagene Knie und zerfetzte Hosenböden, die Schelte deiner Mutter klingen immer noch in deinem Ohr, weil du ihr Verbot, auf Bäume zu klettern,  ständig ignoriert hast. Und trotz der kleinen Ärgernisse erinnerst du dich an das milde Lächeln in ihrem Gesicht. Du wirst es niemals vergessen.

„Nun“, flüsterte leise die Stimme neben dir, „wirst du die guten von den schlechten unterscheiden können?“  Zögernd trittst du näher heran, ein wenig ängstlich, denn du bist dir nicht sicher. Du schließt die Augen und vertraust deinem Instinkt, zunächst vorsichtig schnuppernd, dann tief einatmend, noch mal und noch mal. Die Süße der Früchte betören deine Sinne. Schon möchtest du versinken in dieser Vollkommenheit, müde und schwer sind deine Glieder. Doch etwas Störendes lässt dich nicht zur Ruhe kommen. Faulig weht ein schwacher Dunst aus dem Blattgefieder. Und als du die Augen öffnest, erkennst du den Grund allen Übels. Versteckt und unscheinbar trägt der Baum auch faulige Früchte.

Und wieder flüstert leise die Stimme deiner Begleiterin: „Dieser Baum ist das Leben. Die goldenen Früchte wachsen nur durch unsere Arbeit. Wir  müssen ihn pflegen, beschützen und lieben. Doch einige Stellen sind faul, du siehst es an ihren braunen Flecken. Und wenn wir nicht aufpassen, stecken sie die anderen Früchte an. Das kommt immer wieder vor, es ist ein ständiger Kreislauf. Es liegt an uns, mutig die faulen Früchte auszureißen. In ihren Kernen stecken Dummheit, Verachtung und Hass. Deshalb, lieber Freund, habe ich die Seite gewechselt. Jeden Tag gehe ich zu diesem Baum, hege und pflege ihn, ernte die Früchte und dünne die schlechten aus. Sein Laub spendet mir Schatten, sein Stamm schenkt mir Vertrauen und seine goldenen Früchte geben mir Kraft.“

„Und der Zaun?“, rufst du. Noch immer rumort es in deinem Hirn, zu begreifen fällt dir schwer. Die Frau lächelt wissend. Und du bemerkst, dass sie strahlt, von innen heraus, so als würde sie sehen können. Du betrachtest verwundert ihre Gestalt. Ist sie ein göttliches Wesen? Woher kommt sie und was sie hat vor? Deine Zweifel sind stark, und doch: Wann hattest du jemals solche Gedanken, wann hast du zum letzten Mal wahrhaft gefühlt? Zu lange her, zu schnell vergessen und jetzt? Der Zaun gab dir erste Impulse. Die Farben sind deine Hoffnung und die Menschen dein Ziel. Die schöne Frau lächelt immer noch, dann sagt sie: „Komm, wir setzen uns nieder. Ich werde dir eine Geschichte erzählen.“ Beinahe dankbar greifst du nach ihrer Hand, willst nicht loslassen, und gemeinsam sitzt ihr unter diesem Baum, seine Blätter rauschen, die Sterne funkeln in der Nacht. Es ist dunkel und nur der Mond spendet schummriges Licht. „Du zitterst“, sagt sie leise, und ehe du antworten kannst, hat sie bereits ihren kostbaren Mantel ausgezogen und um euch beide gelegt. Soviel Fürsorge bist du nicht gewohnt, sie macht dich unsicher und ängstlich. Doch die Wärme, die dieser Mantel ausstrahlt, und letztlich die Nähe deiner Begleiterin, lösen deine Ängste und deine Zweifel. Hart ist das Leben, und hart bist auch du geworden. Hier ist alles anders, denn es gibt Farben, die du längst vergessen hast. Es ist hell selbst in der Dunkelheit und warm, auch im Winter. Hier gibt es endlich Frieden und Hoffnung. Die Frau neben dir bewegt sich etwas, nimmt eine andere Position ein. Du spürst ihre Blicke und sie sagt leise: „Siehe, ich bin dein Leben!“ 

Einst stand ein Mann am Rand einer Klippe, vor ihm der tosende Abgrund, Meeresschaum spritzte an den Fels, Wasser fraß sich immer tiefer in das Gestein und macht es mürbe. Er sah hinab und wusste nicht, ob er springen sollte oder nicht. Da tat sich der Himmel auf in der größten Not. Ein heller Lichtstrahl traf den Körper des Mannes, wärmte ihn, hielt ihn aufrecht, als es keinen Ausweg mehr gab. Er blickte hinauf in das gleißende Licht, blinde Augen in verzweifelter Suche nach Antwort. Eine heilende Stimme hielt ihn gefangen, schenkte ihm Trost und Hoffnung: Glaube, und du wirst sehen! Und er sah…

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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