Horst Werner Bracker

... da hielt der Wald den Atem an

 

Der Himmel hatte sich bezogen, es fing leise zu regnen an. Von den Bäumen begann es zu tropfen, von den Hängen zu rinnen. Grau waren bald alles, der Himmel, die Erde und alles, was darauf ist. Die von Feuchtigkeit geschwängerte Luft roch nach Erde, Moder und Pilzen. Die Hitze der vergangenen Tage ließ den feinen Regen verdunsten. Silbrige Dunstschleier hingen über die Waldlichtung und tauchten alles in ein schemenhaftes Licht. Reglos standen die Bäume des Waldes da. Kein Windhauch rührte ihre Zweige. Es war still. Nur der Gesang der Singdrossel war zu hören.
Jonas saß auf der Veranda der kleinen Waldhütte und lauschte in die Stille. Er hatte die Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in beide Hände gestützt. Vor ihn, auf den moosbewachsenen Tisch, lagen zwei leere Weinflaschen. Zu seiner Rechten stand ein halb gefülltes Glas, in welches eine Wespe gefallen war. Verzweifelt versuchte sie, an der glatten Wand nach oben zu kommen aber sie rutschte immer wieder zurück. Jonas beobachtete die Wespe mit zusammengekniffenen Augen, um seinen herben Mund spielte ein schadenfrohes Lächeln.
»Na, du vorwitziges Ding!«
»Wer hat dich eingeladen, mit mir zu trinken?«
Ich nicht!«, sagte er zur Wespe gewandt.
Mit dem Zeigefinger tauchte er die Wespe einige Male unter, dann fischte er sie aus dem Glas, und schnippte sie auf den Tisch. Die Wespe versuchte zu starten aber die nassen Flügel machten sie flugunfähig. Laut summend krabbelte sie auf den Tisch herum und versuchte mit den Hinterbeinen ihre Flügel trocken zu reiben. Eine Weile beobachtete Jonas die Wespe.
»Tja, es scheint, dass du zu den Verlierern gehörst!«, murmelte er.
Sein schadenfrohes Lächeln verstärkte sich zu einem hämischen Grinsen.
Dann schlug er sie mit der flachen Hand tot.
Düster und melancholisch waren seine Gedanken.
Der Regen hatte sein Stimmungstief noch verstärkt. Ein nebelartiger Schleier hatte sich über seine Augen gelegt.
Der Wein begann zu wirken.
Um ihn herum, - grenzenloses Schweigen.
Die Stille sprang ihn an wie ein unsäglicher Geist, der ihn quellen und seine Sinne verwirren wollte. Nur schemenhaft konnte er die Bäume erkennen, hinter deren Stämme monströse Gestalten hervor lugten. Sie lachten, schnitten skurrile Grimassen und tanzten in wilder Raserei durch den Wald. Sie waren überall, auf der Veranda, dem Tisch, auf der Bank, am Brunnen, ja sogar in den leeren Flaschen konnte er sie sehen. Grün schimmerten ihre Fratzen durch das Glas.
Panik erfasste ihn.
Er sprang auf und brüllte mit lallender Stimme: »Faun«, wo bist du?
»Ich weiß, dass du hier bist, warum versteckt du dich?«
Er hatte die muskulösen Arme in die Höhe gestreckt und stand erhobenen Hauptes, breitbeinig wie ein archaischer Recke da. Doch diese heroische Pose währte nicht lange. Eine bleierne Müdigkeit befiel ihn. Er ließ die Arme sinken und senkte den Kopf. Eine Weile stand er reglos da und starrte auf den Waldboden, wo eine endlose Waldameisen Kolone vorüberzog. Sein Kopf war leer. Er dachte an nichts, war unfähig zu denken, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, - und doch fing er an, wie unter einen inneren Zwang, die Ameisen zu zählen. Als er sein unsinniges Tun erkannte, nahm er sein Gesicht in beide Hände und rieb sie hin und her, so, als wusch er sich.
Noch einmal raffte er sich zu einer Kraftanstrengung auf und schlug mit der Faust auf das metallene Regenfass. Ein tiefer, grollender Ton halte durch den Wald, brach sich hundertfach an den Baumstämmen und tönte auf und ab.
Die Gestalten waren verschwunden.
Doch kaum war der letzte Ton verhallt, waren sie wieder da. Und es waren, mehr als zuvor. Sie bedrängten ihn, zupften an seine Kleider und zogen an seinen Bart. »Zur Hölle mit euch!«, schrie er und fuchtelte abwehrend mit den Armen.
Immer wieder schlug er wie rasend mit den Fäusten auf das Fass.
»Haha!«, wie das klingt, wie das singt!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme.
Die scharfen Ränder des Fasses hatten seine Fäuste verletzt. Blut quoll aus zahlreichen Platzwunden und färbte das Fass rot. Indes, - Jonas spürte keinen Schmerz, sah nicht das viele Blut an seinen Händen. Seine Gedanken waren weit fort, dorthin, wo die Verzweiflung, wo das Mysterium des Unbegreiflichen wohnt. Das Delirium tremens verkehrte die Realitäten in wundersamer Weise, mal war der Wald in Gelbes, dann in Rötliches, dann wieder in bläuliches Licht gehüllt. Um ihn herum tanzten und sprangen seltsame Gestalten, Kobolde, skurrile Wurzelmännchen, Elfen und Feen und schrecklich aussehende Gestalten. Sein Blick war nach innen gekehrt und wirkte leer und weit, weit weg. Dorthin, wo Traum und Wirklichkeit sich in das Gegenteil verkehren. Wohin sich die Seele flüchten will, wenn Angst und Panik sie zu erdrücken droht.
Er schloss für einen Augenblick die Augen und lauschte.
Wie still es ist, dachte er.
Noch nie hatte er die Stille, die er so sehr liebte, so intensiv empfunden. Sie schmerzte ihn geradezu und presste seinen Körper in Enge.
Er atmete schwer.
Schweißtropfen bedeckten seine Stirn.
In seiner Brust spürte er einen brennenden Schmerz, der vom Herzen zu kommen schien. Dieser Schmerz strahlte vom Brustbein bis in den linken Arm. Plötzlich wurde ihn bewusst, dass er allein war,-. Mutterseelen allein im Wald. Niemand der ihn helfen konnte, wenn er einen akuten Herzinfarkt erleiden sollte.
Todesängste erfassten ihn.
Er erhob sich und presste die Rechte aufs Herz, mit der Linken, hangelte er sich an der Veranda entlang, griff mit zittriger Hand nach der Gedenktafel, die er auf den blauen Bord gestellt hatte. Ich muss sie der Erde übergeben, solange es noch Zeit ist, dachte er. Hinter seiner hohen Stirn arbeitete es. Die weißen, buschigen Augenbrauen zuckten auf und ab. Manchmal, - wenn ihn die Gedanken zu arg drückten und ihm zum Weinen, ja zum Schreien zumute war, - drangen klagende Laute aus seinem Munde. Dabei sollte der heutige Tag, ein ganz besonderer Tag sein.
Denn heute wollte er sich »Verewigen«!
Verewigen, - weit über seinen Tod hinaus.
Er hatte es sich genau ausgemalt, genau überlegt, was geschehen wird, wenn er eines Tages sterben würde. Es gab niemand, der um ihn trauern würde. Keine Frau, keine Kinder, die ihn zu Grabe tragen und ihn ein würdiges Begräbnis bestellen würden. Man wird ihn finden und irgendwo verscharren. Niemand wird ihn vermissen. Er wird einfach verschwinden, so, als hätte er nie auf dieser Erde gelebt. Keine Spuren hinterlassen. Nichts, was an seine Existenz erinnern würde. »Aus! Ende und vorbei!«
Aber so wollte er nicht Enden.
Nein, - so nicht!
Jonas Rebell, ist immer für eine Überraschung gut, dachte er und nickte zustimmend mit dem Kopf.
In der Rechten hielt er die blank polierte Gedenktafel aus besten V2A Stahl mit der Aufschrift:

Anno Domino 1972
Jonas Rebell
Geb. 1934 in Schleswig Holstein
Gestorben:
In der
Waldhütte
»Maximum Refugium«
Gelebt - gesoffen - gestorben.

Zu Füßen der dreistämmigen Buche hatte er um die Mittagszeit mit dem Lochspaten, eine zwei Meter tiefe Grube ausgehoben.
Hier wollte er seine »Gedenktafel« vergraben.
Niemand würde von ihrer Existenz wissen.
Und doch war sie da!
Und sie war aus bestem rostfreiem Stahl gefertigt. Gefertigt für die Ewigkeit! Vielleicht wird man sie nach fünfhundert oder zweitausend Jahren finden. Die Finder werden genauso erstaunt sein, wie sie es waren, als sie die Königsgräber in Ägypten entdeckten, und werden sagen: »Jonas Rebell hat hier gelebt!«
Er hatte eine Spur seiner eigenen Existenz hier auf Erden hinterlassen. Dieser Gedanke hatte was Beruhigendes. Sie stimmte ihn für einen Augenblick glücklich. Doch so ganz zufrieden war er mit seinem Vorhaben nicht. Die Art und Weise seines Tuns war so ungewöhnlich und exzentrisch, dass es ihm wie Blasphemie erschien. Aber haben die Menschen nicht schon immer zu Lebzeiten an ihren eignen Grabmalen gebaut, die sie nach ihrem Tode vor dem Vergessen bewahren sollten! Die Pyramiden in Ägypten, die gewaltigen Mausoleen in aller Welt, die großen und kleinen Grabmale auf den Friedhöfen?
Die »Großen« dieser Welt haben sich in den Geschichtsbüchern, die Komponisten in ihren Partituren, die Maler in ihren Bilder und die Bildhauer in ihren Skulpturen, verewigt.
Als er an den großen Brombeerstrauch vorüberging, verhackelte sich eine Ranke des Strauches um sein Bein und stoppte seinen Schritt. Er stürzte und fiel in den Brombeerstrauch. Eine Weile blieb er stillliegen und schloss für einen Augenblick die Augen.
Ach, - wie Müde er war! Jonas versuchte auf zu stehen. Aber es gelang ihn nicht. Langsam sank die Gedenktafel, die er in Händen hielt, auf seine Brust.
Schon bald war er eingeschlafen.
Doch der Schlaf währte nicht lange. Im Traum begann er sich um die eigene Achse zu drehen, immer schneller und schneller. Er fuhr hoch und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf einen Baumstumpf. Er musste einen festen Gegenstand fixieren, um den schrecklichen »Drehwurm» wie er diesen Zustand nannte, zu stoppen. Er kannte dieses Phänomen genau. Schon oft hatte ihn der »Drehwurm« nach einer durchzechten Nacht heimgesucht. Er versuchte, aufzustehen. Nach Mehren Versuchen gelang es ihn endlich. Eine Weile stand er im Brombeerbusch und schaute sich um. Er wusste nicht so recht, wo er war und wie er hier hergekommen war. Er rieb sich die Augen und fuhr sich durchs wirre Haar. Als er auf die Tafel schaute, die er in seinen Händen hielt, viel ihm wieder ein, weshalb er hierhergekommen war. Mit staksigen Schritten setzte seinen Weg fort.
Bei der dreistämmigen Buche angekommen schaltete Jonas das Radio an, das er eigens für diesen Tag besorgt hatte, und drehte es auf volle Lautstärke. Wie ein Live - Konzert erklang das Finale aus Beethovens 9. Sinfonie »Freude schöner Götterfunken« durch den Wald. Ihn war, als sei er zu seiner eigenen Beerdigung gekommen. Die grandiose Musik überwältigte ihn derart, dass er in Tränen ausbrach. Die Tränen rannen über seine Wangen und blieben wie kleine Eiszapfen an den grauen Bartstoppeln hängen. Eine Weile stand er still da und lauschte den Klängen der Musik. Seltsam feierlich war ihm zumute. In seinem tiefsten Inneren spürte Jonas Schmerzen, Traurigkeit und grenzenlose Leere.
Schließlich ließ er sich auf den Knien fallen und ließ die Tafel an einer Schnur in die Grube gleiten.
Jonas beugte sich über den Rand und schaute nach unten, die Tafel lag mit der Inschrift nach oben.
Er war zufrieden.
Mit beiden Händen scharrte er die Grube zu und stampfte die Erde mit den Fäusten fest. Um alle verräterischen Spuren zu beseitigen, sammelte er Laub, Kiefernnadel und Buschwerk und legte es auf die Stelle und verteilte es so, als läge es schon immer da. Niemand sollte auch nur bemerken, dass hier jemand gegraben hatte. Alle Zufälle mussten von vornherein eliminiert werden. Der bloße Gedanke, jemand könnte die Grabestelle entdecken und die Tafel ausgraben, machte ihn frierend.
Nach getaner Arbeit, erhob sich Jonas, streckte beide Arme in die Höhe und schaute auf zum Himmel. Sein fahles Gesicht war ernst, als er mit lauter Stimme rief: »Gott!«, »Gott!«, »wenn es dich gibt, höre was ich dir zu sagen habe! Ich war nie …« Seine Stimme stockte. Irgendetwas schnürte seine Kehle zu. Er schluckte und räusperte sich ein übers andere Mal. Sein Hals fühlte sich trocken an, Schweiß perlte auf seiner Stirn. Was treibe ich hier eigentlich? Er sang zu Boden, verbarg sein Gesicht in beide Hände, - und hörte auf zu, - atmen! Ein schwerer Herzinfarkt hatte ihn niedergestreckt.
Doch mit seinem physischen Tod war noch nicht alles zu Ende.
Eine wunderbare Leichtigkeit durchflutete Jonas Körper. Kein Schmerz, keine physische Schwere störte sein Wohlbefinden. Ein Glücksgefühl, das nicht von dieser Erde war, durchströmte seinen Körper. Wie eine weiße Daunenfeder schwebte er über sein »Refugium Maximum« `gen Himmel.
Dort, - wo er so viele Jahre glücklich und zufrieden gelebt hatte und wo er seine »Gedenktafel« vergraben hatte, -  klaffte, ein Jahr später, - der riesige Krater, einer ausgebeuteten Kiesgrube.

»Was ich noch sagen wollte!«
Nicht das Leben, nicht der Tod - sind planbar!
Das Schicksal mischt die Karten!
Die Spieler sind wir, - mal Gewinner, mal Verlierer!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.03.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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