Christa Astl
Sabines Überlebenskunst Teil 5
Gemeinsames Hüttenabenteuer
Es dauert mehrere Wochen, bis Sabine ihren Plan, die verbrauchten Vorräte in der Hütte, in der sie sich unerlaubt ein paar Tage eingenistet hatte, aufzufüllen verwirklichen kann.
Es hat noch tagelang geschneit und war anschließend höchst lawinengefährlich. Sie hatte viel mir den Eltern gesprochen, aber eingesehen, dass sie warten müsste. In der Zwischenzeit hat sie sich eine Liste der Sachen, die sie kaufen will, zusammen gestellt. Ein wenig Erfahrung hat sie ja gesammelt, um zu wissen, was sich als dauerhaften Vorrat eignete.
Endlich, nach drei Wochen, wird es wieder so richtig schön, sogar übers Wochenende. Sabines große Tour kann beginnen. Einige Schulfreunde haben sich bereit erklärt, mitzukommen, das Abenteuer des Hüttenlebens auch kennen zu lernen. Ein paar, darunter ihre Freundin Elvira, sind zwar mittlerweile wieder abgesprungen, aber zu viert wären sie noch.
Am Freitag fährt Sabine beim Familieneinkauf mit, um ihre Sachen zu besorgen.
Ganz schön viel ist es geworden, gut, dass Arno und David auch dabei sind, um tragen zu helfen.
Am Samstag Vormittag stehen die Beiden, dazu noch Sylvia und Gert, Arnos älterer Bruder, den Sabine aus der höheren Klasse vom Sehen kennt, vor der Tür, alle mit großen Rucksäcken. Die gekauften Sachen werden verteilt. Schlafsäcke, Pullover, Ersatzkleidung, die Rucksäcke sind prall gefüllt. Arno stöhnt jetzt schon!
Erwartungsfroh und voller Tatendrang verabschieden sie sich von der Mutter, die ihrer Tochter bange nachschaut. Sabines Vater bringt sie zum Bahnhof.
Strahlender Sonnenschein, milde Mittagswärme empfängt sie beim Aussteigen vom Zug. Mehr oder weniger ächzen alle, als sie die schweren Rucksäcke schultern und sich dabei gegenseitig helfen. Aber unter fröhlichem Reden wird der Weg kurzweilig. Sabine ist zeitweise sehr still und achtsam, um die Abzweigung in den Wald nicht zu übersehen. Heute haben alle die Schistöcke mit, so ist das Gehen im Schnee viel leichter. Der Schnee hat sich so gefestigt, dass sie nur wenig einsinken. Meist geht Sabine als erste, doch das Spuren ist anstrengender, als in ausgetretenen Stapfen nachzugehen, und so lässt sie sich gerne zeitweise ablösen. Hinter einander und großteils schweigend, denn das Bergaufgehen strengt an, stapfen sie durch den Wald. Tierspuren kreuzen ihren Weg, die Kenntnisse aus der Biologie werden hervor gekramt, meist muss Sabine die Antwort geben.
Um die verschneite Bank herum stehend gibt es die erste Pause. Heißer Tee wird herum gereicht, Sabine denkt an ihren damals überstürzten Aufstieg mit eiskaltem Cola, Müsliriegel werden verdrückt, die Rucksäcke bleiben am Rücken, denn gleich geht es weiter. Die Vier sind ja schon gespannt auf die Hütte.
Richtig heiß ist es, als sie aus dem Wald in die volle Sonne kommen. Gesichter und Arme werden nochmals eingecremt, Sonnenbrand will man nicht bekommen!
„Wie weit ist es noch?“ Sylvia wagt die Frage. Man sieht, wie sie zusammenzuckt, als Sabine antwortet: „Noch eine Stunde, die Hälfte werden wir jetzt haben.“ Sie hat ja selber kein Zeitgefühl, hat damals nicht auf die Uhr geschaut. Warum auch, ihr war nur wichtig, anzukommen. Insgeheim muss sie lächeln über diese „Schwächlinge“, denn auch die Gesichter der Buben werden lang nach dieser ihrer Auskunft.
Der Stapel Baumstämme am Wegrand ist wieder schneefrei. „Da rasten wir jetzt!“ ruft Arno und niemand widerspricht, als er seinen Rucksack abwirft. Wie schön, sich mal durchstrecken zu können. Die verschwitzte Rückseite wird der Sonne zu gewandt, man macht sich’s bequem auf den Baumstämmen. Übermut kommt auf, man versucht, einander vom Platz zu drängen, bis zum höchsten Baumstamm hochzuklettern, und da passiert es: Ein Baumstamm oben, wo Arno eben angekommen ist, kommt ins Rutschen, mit einem Schrei springen einige noch zur Seite, Arno fällt runter, reißt Sabine um, sie kommt nicht mehr rechtzeitig weg, der Baum streift sie noch am Rücken und fällt auf ihren Fuß. Sie brüllt auf vor Schmerz! Noch ganz unter dem Schock des vorgefallenen, versuchen alle Vier, den Stamm aufzuheben, doch Sabine ist nicht fähig, den Fuß herauszuziehen. Gert spreizt einen anderen Stamm ein, dass der Druck auf ihr Bein nachlässt und es gelingt ihnen, sie heraus zu ziehen. Doch das Mädchen kann nicht auftreten. Eine Weile liegt sie noch, die anderen stehen ratlos um sie herum. Dann nimmt sie sich zusammen, verbeißt den ersten Schmerz, versucht den ersten Schritt, stützt sich mit ihren Schistöcken, zieht den verletzten Fuß nach, mühsam kommt sie ein paar Schritte weiter. Ihren Rucksack hat sich Gert umgeschnallt.
Nach einiger Zeit sehen sie ein, dass sie so nicht ans Ziel kommen. Sabine kann sich kaum mehr aufrecht halten. Sie beratschlagen kurz, dann treten Arno und Gert die Spur, Sylvia und David, die etwa gleich groß sind, stützen, halten und tragen Sabine. Arno bekommt alle Schistöcke zum Tragen oder zum Aufstützen. Sicher hat er einige blaue Flecken abbekommen, er sagt nichts, leidet wohl noch unter dem überstandenen Schreck.
Langsam, aber stetig geht es aufwärts. Endlich erkennt Sabine die heiß ersehnte Hütte und nun werden noch einmal alle Kräfte mobilisiert.
Erstmal lassen sich alle auf die Bänke vor der Hütte nieder, strecken die Beine aus, Sabine bekommt einen Platz zum Liegen. Jetzt wird erst ihre Verletzung untersucht. Riesige blaue Flecken an Oberschenkel und Knie, das Schienbein ist blutverkrustet. Gebrochen scheint gottlob aber nichts zu sein.
Gert hat eine Sportsalbe mit, die Sylvia ihr behutsam aufträgt.
Inzwischen steht die Sonne schon tief, es ist Zeit, in die Hütte zu gehen. Mit Sabines Anweisung finden sie den Schlüssel, sperren auf, machen sich am Feuer zu schaffen, holen Schnee, verräumen die Lebensmittel. Wenn sie könnte, würde sie es genießen, wie die anderen arbeiten, aber die Schmerzen sind noch sehr stark.
In für sie erstaunlich kurzer Zeit gibt es Suppe. Brote, Käse, Wurst werden ausgepackt, auch das Schneewasser für den Tee siedet schon, - aber o Schreck – Sabine hat vergessen, Teebeutel zu kaufen. David kann aushelfen, so wird auch dem Durst abgeholfen, später kommen allerdings andere Getränke aus den Tiefen der Rucksäcke. Sabine hat bereits ihr Ruhelager bezogen, wird von den Freunden eifrig mit Essen und Trinken versorgt, beobachtet von ihrem Stand- oder besser Liegepunkt aus das fröhliche Geschehen aus einer gewissen Distanz. Wehmütig denkt sie an die stillen Abende allein und bedauert ein wenig, dass diese Ruhe nun zerstört ist.
Je lauter und fröhlicher die Freunde werden, umso stiller wird Sabine. Sie ist traurig, enttäuscht, fühlt sich einsam und nicht verstanden. Und das Bein schmerzt bei jeder Bewegung, das Knie ist stark angeschwollen. Am liebsten würde sie die Vier, die sie anscheinend vergessen haben, in die kalte Nacht hinaus werfen.
Sie ist wütend, will ihre Ruhe. Stöhnend dreht sie sich auf die andere Seite, zur Wand. David fragt vom Tisch aus: Willst du noch Glühwein? Der merkt wohl gar nichts mehr… denkt Sabine. Sylvia und Gert kommen zu ihrer Ecke. Wie geht’s deinem Bein, fragt Gert, und bietet ihr nochmals seine Salbe an. Wieder lässt sie sich von Sylvia eincremen, sie hat so schön kühle Hände.
Der Glühweintopf ist nun leer, auch bei den Anderen macht sich die Müdigkeit bemerkbar. Schlafplätze werden gesucht, Isomatten auf den Boden gelegt, Schlafsäcke ausgerollt. Endlich hat es sich jeder so bequem wie möglich gemacht, ein paar Worte schwirren noch durch den Raum, dann herrscht die Ruhe, die Sabine so lange herbei gesehnt hat.
Doch der Schlaf flieht sie. Sie starrt in das letzte Flackern der Glutreste, erkennt die Umrisse der Schlafenden, lauscht auf deren ruhigen Atem, versucht durchs Fenster am Himmel Sterne zu finden, dreht sich vorsichtig ein wenig, um ihr Bein nicht zu belasten, - und kann nicht und nicht einschlafen.
Sabine ist richtig enttäuscht von diesem Tag. Wahrscheinlich in erster Linie wegen ihrer Verletzung, die der Unachtsamkeit der Freunde zuzuschreiben war. Allein wäre ihr das nicht passiert! Sie hätte was sagen müssen, hat natürlich auch nicht damit gerechnet, dass das Holz so locker lag. Dann haben sie sich ja rührend um sie gekümmert, das muss sie schon zugeben, haben auch in der Hütte brav zusammen geholfen, doch der Glühwein ist ihnen dann wohl zu Kopf gestiegen – und sie war von der Lebensfreude, dem weinseligen Übermut der anderen ausgeschlossen.
Sie war überhaupt ausgeschlossen, kam ihr plötzlich zum Bewusstsein. Sie passte nicht zu diesen jungen Leuten, die passten nicht zu ihr. Lachen, Blödeln, Allerweltsgedanken, was anderes scheint in deren Gehirnen nicht Platz zu haben.
Gar nichts haben sie über die Hütte, deren schön gelegenen Platz gesagt, ob es ihnen überhaupt hier gefällt, auch die heimelige Ruhe, mit der sie die Menschen erwartete, ist denen gar nicht aufgefallen.
Nein, Sabine ist sich sicher, mit solchen Freunden will ich nichts mehr zu tun haben. Aber diese Nacht muss sie sie wohl noch ertragen.
Fünf Personen verbrauchen mehr Sauerstoff, die Luft ist stickig, Sabine kommt vor, sie kann kaum mehr atmen. Ob sie wohl aufstehen kann, um frische Luft zu schnappen? Sie schält sich aus dem Schlafsack, versucht auf die Beine zu kommen. Schmerz lass nach! Mit zusammengebissenen Zähnen steht sie eine Weile. Kann ich den Schritt wagen? Vorsichtig, an den Tisch gestützt, ertastet sie die Türe. Sie nimmt den erstbesten Anorak vom Haken, schlüpft hinein und macht den Schritt hinaus.
Ein wunderschöner klarer Sternenhimmel wölbt sich über ihr. Die dünne Sichel des aufnehmenden Mondes ist noch zu sehen. Sabine atmet ganz tief, die gute klare Luft tut ihr gut, sie möchte diese ganze Nacht in sich aufnehmen, so schön ist es hier heraußen. Für Momente vergisst sie ihr schmerzendes Bein, ihr Unglücklichsein, ihr Traurigsein, jetzt, in diesem Moment ist sie nur noch glücklich.
Als sie zurückkehrt und wieder in den Schlafsack kriecht, ist sie zufrieden, froh, und nun gelingt es ihr endlich, einzuschlafen.
ChA 03.02.14
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2014.
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