Klaus-D. Heid

Des Denkers Dummheit

Den Blick in den Kühlschrank hätte ich mir sparen können. Nur aus lauter Gewohnheit öffnete ich die Kühlschranktür, um wieder einmal resigniert feststellen zu müssen, dass er ebenso leer wie mein Magen war. Meiner Brieftasche ging es auch nicht besser. Überall nur gähnende Leere. Es lohnte auch nicht, in meiner Wohnung nach Kleingeld zu suchen, weil ich bereits in allen möglichen Verstecken und Nischen nachgesehen hatte. Abgesehen von einem Fünf-Mark-Schein, den ich vor acht Tagen im achten Kapitel von ‚Schuld und Sühne’ fand, verlief meine Jagd erfolglos. Mein aktueller Status war also der, dass ich keinen Pfennig Geld mehr auftreiben konnte. Ich war pleite. Total pleite. Außerdem war ich hungrig und übellaunig, weil keinerlei Chancen in Sicht waren, diesen Status zu ändern.

Vielleicht hätte ich mir meine letzte Scheibe Brot doch etwas besser einteilen sollen? In einem Anfall von Raffgier habe ich das trockene Brot verschlungen, ohne nachzudenken. Mit etwas mehr Beherrschung war es mir durchaus möglich, von einer einzigen Scheibe Brot drei Tage zu leben. Zu spät! Meine Phantasie, mir bei einem Glas Leitungswasser einen saftigen Schweinebraten vorzustellen, funktionierte auch nicht mehr. Irgendwann reichte die Phantasie noch nicht einmal aus, um mir etwas Zucker ins Leitungswasser zu denken. Sie half mir nur noch, meine Zukunft in düsteren und hoffnungslosen Bildern zu betrachten.

Wie schon so oft in den letzten Monaten suchten meine Augen nach Wertgegenständen, die ich in Bargeld verwandeln konnte. Meine spärlich ausgestattete Wohnung erleichterte mir diese Suche, weil es kaum noch etwas Brauchbares gab. Längst hatte ich mich von überflüssigem Tand wie meiner Stereoanlage, meinem Fernseher und meinem elektrischen Rasierapparat getrennt. Luxusartikel wie Anzug, meinem zweiten Paar Schuhe und einer Armbanduhr meines Großvaters waren ebenfalls in den Regalen eines Pfandleihers verschwunden. Das einzig verbliebene, was ich noch nicht versetzt hatte, waren meine Bücher, an denen ich mehr hing, als an einem 300 Gramm Steak mit Quarkkartoffeln und Salat!

Es kommt der Zeitpunkt, wo die Liebe zu Büchern den eindringlichen Befehlen des Bauches weichen muss!

Dieser Zeitpunkt war nun gekommen. Mein Magen erinnerte mich mit fürchterlichen Geräuschen daran, dass man Bücher nicht essen konnte. Folglich blieb mir nichts anderes übrig, als ein Antiquariat zu suchen, in dem ich zumindest ein paar Mark für die Weisheiten großer Dichter und Denker erhielt. Alle Seiten literarischer Delikatessen reichten vielleicht aus, um mich eine Woche lang mit Curry-Würsten und Pommes über Wasser zu halten. Reduzierte ich meine Ansprüche auf ein Mindestmaß, brachte ich es unter Umständen auf drei Wochen Nudelsuppe. Reduzierte ich auch das Mindestmaß noch, konnte ich zuversichtlich einem ganzen Monat Wassersuppen mit vereinzelten Nudeln entgegensehen!

Goethe, Hegel, Heidegger, Kant, Schiller, Hölderlin und Lessing...

Macht’s gut, Ihr Retter meiner einsamen Stunden und Tage. Entfernet Euch von Einem, der euch liebte, bis der Hunger ihn zum Handeln zwang. Könnt Ihr mir verzeihen, Ihr wunderschön eingebundenen Werke? Versteht Ihr, aus welcher Notlage heraus ich Euch veräußern muss? Und auch Ihr, Ihr Holzschnitte und Kunstdrucke – möget bitte nachvollziehen, welch tiefer Schmerz mein Herz zerreißt. Wohlan, es muss gehandelt werden, dass nicht der Mensch seinem Schicksal erliege!

Andererseits besteht der sinn des Lebens nicht aus Nudelsuppe.

Wenn ich meine letzten Heiligtümer verschachere, warten endlose Stunden der Langeweile auf mich. Das bisschen Suppe war schnell vertilgt und dann begann der geistige Hunger, meinen Verstand anzuknabbern. Jede Windung meines Gehirns würde enttäuscht zucken und zittern, wenn es keinerlei Nachschub in meinen Bücherregalen gab. Ergo?

Die Bücher blieben hier. Basta!

Den erbitterten Kampf zwischen Kopf und Bauch hatte fürs Erste der Kopf gewonnen. Sollte der sich doch mit meinem Bauch streiten! Sollte er ihm doch verständlich machen, weshalb ich unmöglich auf meine Bücher verzichten konnte. Mägen können schließlich schrumpfen und sich mit Wenigem begnügen. Köpfe können das nicht! Sie brauchen die ständige Aufnahme von Poesie, Gedanken und Aphorismen. Köpfe schrumpfen nicht, wenn sie am Hungern sind; sie vertrocknen irreparabel, bis nur noch ein pulverisiertes Volumen den Schädel füllt.

Nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, meldete sich wieder lautstark mein Magen, der lieber mit mir als mit meinem Kopf stritt. Er knurrte, rumpelte und polterte ohne Unterbrechung.

Also? Was tun, Zarathustra?

Mir fiel unter dem Druck der Not eine Stelle ein, die ich noch nicht nach Geld abgesucht hatte. Irgendwann vor Jahren, habe ich einmal einen Hundertmarkschein versteckt, um für Situationen wie diese gewappnet zu sein. Wie konnte ich das nur vergessen haben? Oder hatte ich ihn längst gefunden und ihn Essbares verwandelt? Nein! Er musste noch da sein! Irgendwo. Aber wo? Die Toilette schied aus, weil sich dort keinerlei Versteckmöglichkeiten befanden. Auch der Flut kam nicht in Frage, weil dort außer schmutzigweißen Raufasertapeten nichts zu finden war. Es blieben also nur Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer übrig, um fündig zu werden.

Ich begann mit dem Wohnzimmer.

Das Bücherregal schied aus, weil ich dort erst vor Kurzem in jedem Buch nach Geld gesucht hatte. Was war mit dem Kleiderschrank? Vielleicht steckte der Schein in einer meiner alten abgetragenen Hosen, die mehr aus Löchern als aus Stoff bestanden? Ich kramte also einen Plastiksack aus dem Schrank, in dem die Hosen verstaut waren. Hose für Hose durchsuchte ich, bis ich resigniert den Sack zurückbeförderte. Abgesehen von alten Fahrkarten, halben Kaugummis, zerknüllten Mahnungen und diversen benutzten Taschentüchern, fand ich nichts. Nachdem ich auch in meinem einzigen Pullover gesucht und in Bergen von ungewaschenen Socken nachgesehen hatte, schloss ich den Schrank wieder. Wo auch immer das Geld war – im Schrank war es jedenfalls nicht!

Viel mehr Möglichkeiten gab es bald nicht mehr. Nur mein Sessel aus dem Sperrmüll kam im Wohnzimmer noch in Frage. Schon einige Male hatte ich in den Ritzen des Posters nach Pfennig- oder Markstücken gesucht, die sich dort im Staub und Fusselmeer versteckt hatten. Es konnte gut sein, dass ich nur noch tiefer in die Abgründe des Sessels eindringen musste, um Glück zu haben.

Meine Finger quälten sich zwischen die Posterritzen. Sie wühlten sich so tief hinein, dass ich fürchtete, sie nie wieder heraus zu bekommen. Millimeter für Millimeter tastete ich mich durch eigenen und fremden Dreck, bis ich plötzlich das Gefühl hatte, etwas gefunden zu haben! Zumindest fühlte sich mein Fund wie Papier an. Auch die Größe konnte ungefähr zu einem Hundertmarkschein passen. Andererseits konnte es auch sein, dass es sich um einen Liebesbrief aus dem 1. Weltkrieg handelte, den eine liebeshungrige Ehefrau dort vor den Zugriffen ihres Mannes versteckt hatte.

Was auch immer es war, es produzierte Hoffnung in mir!

Ein fürchterlicher Schmerz fuhr durch meine Fingerspitzen. Beim krampfhaften Versuch, meine Neugier zu stillen, musste ich in eine Glasscherbe oder in eine Nadel gegriffen haben. Obwohl der Schmerz bis in meine Schultern zog, behielt ich tapfer die Hand im Sessel und versuchte, das Papier zu greifen. Irgendwie schaffte ich es, das Papier zwischen zwei Finger zu bekommen. Ganz vorsichtig und beinahe zärtlich zog ich es aus der Sesselspalte hervor. Fast eine viertel Stunde dauerte die Operation, bis ich das Fundstück ans Tageslicht befördert hatte.

Es war tatsächlich ein Geldschein!

Eine Million Deutsche Reichsmark grinsten mich hämisch an! Das Konterfei eines Größenwahnsinnigen tröstete mich kein bisschen in meiner Enttäuschung. Im Gegenteil! Vor sechzig Jahren bekam man für diesen Geldschein unter Umständen noch ein paar Kartoffeln – aber heutzutage nutzte er bestenfalls zur bildlichen Untermalung des Geschichtsunterrichts.

Der Misserfolg tat richtig weh. Mein Finger tat auch weh. Mein Magen schmerzte.

Aber was soll’s? Mühsam nährt sich das Eichhörnchen in schlechten Tagen. Nur wer suchet, der wird auch finden. Die Hoffnung ist die Treibfeder des Leidenden. Und so weiter und so weiter...

Wie ein Blitz durchzuckte mich eine Idee, die sofort alle trüben Gedanken verscheuchte. Natürlich! Warum – in aller Welt – fiel es mir erst jetzt ein? Welchen bösen Streich hatte mir mein Gedächtnis gespielt? Weniger hungrig hätte ich bestimmt nicht so lange gebraucht, um an dieses Versteck zu denken. Wieder einmal bestätigte sich die alte Weisheit, dass nur in einem satten Körper auch ein satter Geist wohnt!

Der Stapel alter Zeitungen hinter der Küchentür!

Logisch! Ein ideales Versteck, um Reichtümer vor sich selbst und vor Einbrechern zu schützen. Irgendwo zwischen vergilbten Zeitungen musste einfach meine Rettung verborgen sein! Inmitten von schlechten nachrichten, Werbeprospekten und Stellenanzeigen schlummerte garantiert mein Hundertmarkschein, um nun von mir gefunden zu werden. Himmel! Endlich! In meiner Freude über das bevorstehende Ereignis liefen mir die Tränen über die Wangen. Hundert Mark! Essen! Trinken! Vielleicht reichte es bei sparsamer Verwendung sogar, um mir ausnahmsweise eine Tüte Chips leisten zu können? Ich sah mich schon gemütlich in meinem Sessel sitzen, Chips essen und mit tiefer Denkerstirn in Nietzsches Werken lesen. Sogar mein Magen stellte sein Knurren für einen Moment ein, weil er sein nahendes Glück noch nicht fassen konnte.

Beschwingt und fröhlich marschierte ich in die Küche, um den Stapel Zeitungen zu durchsuchen. Was hatte ich gesagt? Hinter der Tür? Genau! Hinter der Tür. In der Küche. Hinter der Küchentür? Hinter meiner Küchentür?

Neiiiiiiiiiiiiiin...

Es fiel mir wieder ein. Wie ein schwerer Steinbrocken fiel mir mein Unglück in den Nacken und erinnerte mich schmerzhaft an die Grausamkeit der Realität.

Vor etwa einem Monat klingelten zwei kleine Jungs an meiner Wohnungstür. Mit ihren hageren verhärmten Gesichtern taten sie mir so leid, dass ich ihnen den Wunsch nicht abschlagen konnte, den sie vortrugen:

„Guten Tag! Haben Sie wohl Altpapier im Haus? Wir würden es für Sie entsorgen und dem Altpapierhändler verkaufen, damit wir uns etwas zu essen kaufen zu können...!“

Ich erinnere mich auch noch sehr gut daran, wie ich ihnen damals meinen letzten Groschen in die Hand drückte, bevor ich freundlich zusah, wie sie mein Altpapier mitnahmen!

Hallo! Diese Geschichte soll einfach nur unterhalten und ein kleines Lächeln produzieren. Es freut mich, wenn mir dies bei einigen Lesern gelingt. KDHKlaus-D. Heid, Anmerkung zur Geschichte

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Klaus-D. Heid beschreibt auf witzige Weise, wie die Nachkommen die Marotten ihrer Erzeuger überstehen, und zeichnet viele Situationen nach, in denen sich Väter gerne wiedererkennen werden. Mit Cartoons von Laurie Sartin.

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