Chris Müller

Zerbrochene Hälfte

Er fühlte sich alleine. Er war immer alleine. War fern von allem Bewegenden, Redenden und Lebenden. War so fern des süßen Nektars der Existenz. War so fern von allem, was er liebte.

Früher war es auch so und als er die größte, unverschuldete Kälte verspürte, kam sie vorbei. Er glaubte seinen Augen nicht, aber sie war grün und freundlich wie der erste Sommermonat eines Jahres. Sie brachte so viel Wärme über ihn, über ihn und sein Herz. Seine Seele war besänftigt. Nach unzähligen Sturmfluten, nun endlich erreichte ihn jene Retterin, mit deren Erscheinen er in jenem Moment am wenigsten gerechnet hatte und um deren Existenz er nicht einmal wissend war. Sie, die so fern und deren Antlitz mindestens genauso hell wie die Sonne war, musst dort außen sein. Er dachte, dch glaubte nicht daran. Und doch plötzlich auf einmal war sein Leben verändert. Der Augenblick, in dem er in ihre Augen blickt. Eine Sekunde, die ihm noch heute wie eine volle Stunde vorkommt. Zunächst so unscheinbar. So surreal und entfernt sie zu sein schein mag, gab er ihr trotzdem eine Chance, weil er allen eine Chance gab, weil er alle Geschöpfe Gottes liebte. Sie traf. Traf mitten ins Herz. Bulls-Eye. Er verfiehl ihr. Er war ihr Diener. Er wollte, was sie wollte. Er verdiente, was sie verdiente. Wie ein Zwischenspiel des Schicksals erschien ihm folgender Schlag. Jener Donnerschlag, der eintraf und ihre Seelen miteinander tauschte und ihre Schicksale miteinander verband, der den einen bestrafte dem anderen vergab. Er nahm ihre Schuld. Sie seinen Stolz. Und dennoch würde er sie heute nicht vermissen, würde sie vielleicht nicht mal mehr sein. Sie lebte durch ihn. Sie war sein Leben. Jedenfalls dachte er das. Sie verschwand; er ging weiter jedoch ohne dabei noch derselbe zu sein.

Er rettete sich, angeschoßen, eine Kugel steckte noch in seiner Brust, aber es reichte zum Überleben. Als sie ihn fanden, dauerte es eine ganze Weile bis das Grauen rekunstruiert worden war. Er sollte überleben, wenn auch nur als Zerbrochenes. Er hangelte sich weiter von Tag zu Tag. Kein Tag, an dem er nicht zumindest seine andere Hälfte glaubte zu erkennen. Sie schien physisch nah, doch konnte er sie nie erreichen, sollte sie nie wieder berühren, noch sehen. Aber dieses freundlich, heitere Lächeln, das aus ihren grün, funkelnden Augen strahlte, streifte ihn immer wieder.Allerdings waren sie, wie jedes andere Gefühl auch, reine Illusion. Nichts weiter als Phantasie gepaart mit ein paar raffiniert ausgeklügelten, chemischen Reaktionen. Nichts Besonderes, aber es genügte, um ihn in tiefste Einsamkeit und Finsternis zu stürzen.

Simpelste Logik, die reichte. Geschlagen von dem Meister, der schon vor Spielbeginn den Sieger festlegt und sie trotzdem auf Leben und Tod spielen lässt, der plante, dass in Liebe Hass brannte und umgekehrt. Der jenes flackernde und wärmende Potential erkannte, der es nahm und weitergab, sodass sie es heute verbreiten und vermehren können. Er plante Liebende - nicht ihn. Er war unerwünscht. Ein unerwünschter Schandfleck auf ihrer weißen Weste. Und das wussten auch die Übrigen. Die Liebe der Übrigen zu ihm war zu groß und doch letztlich nicht groß genug, um ihm ein Ende zu setzen. Er musste und sollte weitergehen - immer weiter. Als er zusammenbrach, gönnte man ihm ein kurze Pause, danach ging es in steigendem Tempo voran.

Er sah sie überall: Die Lachenden, die sich-Freuenden, die Liebenden. Die, die er zu tiefst hasste, weil er sie liebte. Die, die er sich schämte anszuschauen, weil er Angst hatte sein Blick könnte ehrfürchtig und fasziniert an der Szenerie hängen bleiben. Er bewunderte sie überall, wo er war. Wie zwei Menschen ihr Leben füreinander aufgaben, wie sie füreinander sorgten, wie sie füreinander da waren. Er wollte, er wäre ganz.

Er würde alles dafür geben seine zerbrochenen Hälften wieder zusammen zu setzen. Auf einem Bein konnte er nicht lange stehen. Am meisten schmerzte es vor und nach dem Schlafen. Er hasste Schlafen und Träumen. Sein Arzt verschrieb ihm Tabletten für das Schlafen und gegen das Träumen. Sie halfen über die Runden zu kommen. Aber es fühlte sich dennoch verdammt leer an. Es war so viel Platz in seinem Bett, als würde es nur darauf warten einen zweiten Schlafsuchenden zu beherbergen. Wenn er morgens zur Arbeit ging, fühlte es sich sinnlos an. Niemand war da, deren Existenz er hätte finanzieren müssen. Keine Frau, keine Kinder, nicht einmal einen Hund besaß er. Jemanden besitzen. Von jemand besessen werden. Von jemdanden besessen sein. Er wäre gerne besessen (ge)worden, doch wollte ihn niemand.

Ein Mann ohne Frau, wie ein Berg ohne Gipfel, ein Strand ohne Meer, ein Leben ohne Sinn. Gerne hätte auch er jene stumpfe Arterhaltung betrieben, welche auch nach Jahrtausenden noch immer den Menschen hauptsächlich beschäftigt. Jeder wurde geliebt. Er nicht. Er wurde zwar auch nicht gehasst, aber er wurde ignoriert, in seinem Leid allein gelassen. Für was sollte man ihn auch retten? Es gab sowieso niemanden, dem viel an ihm lag. Von Zeit zu Zeit kam einer vorbei, der ihn nur noch tiefer in sein Grab des Leidens drückte, das mittlerweile so tief war, dass er alleine ohne Hilfe sich adraus nicht befreien konnte. Vielleicht, dachte er, hatte er bald die nötige Tiefe erreicht, die die Menschen - die Ganzen - veranlasst die Grube zu zu schütten oder vielleicht hätte jemand gar ein Einsehen und holte ihn da raus. Deswegen hasste er Träume. Sie können so gut und vollkommen sein. Man kann sich als Ganzes fühlen. Man kann sich leicht in diesen Illusionen verlieren.

Als er noch träumte, wurde er bei jedem Aufwachen geschockt, geschockt von der Realität. Der absolut kalten und unbarmherzigen Leere, die sich in seiner Wohnung, seinem Bett und letztlich in ihm selber breit machte. Die Kälte, die ihn zittern und als Gegenreaktion zum Hitzkopf werden ließ, ist unerträglich. Sie legt sich nieder ganz sanft und unscheinbar, doch egal wie sehr man sich wehrte, man bekam sie nicht mehr los. Sie legte sich über sein Haupt. Von Außen erkennt man sie nur für kurze Augenblicke, wenn seine Augen ins Licht blicken, aber kein Blitzeln oder Funkeln in ihnen zu sehen ist, da die dunkle Leere in ihm alles verschlingt. Meistens ließ er die Schultern leicht hängen. Sein Gang war geknickt. Sein Lächeln aufgezwungen und unehrlich. Seine Taten waren schlicht und einfach. Es fehlte ihm an Glaube und Hoffnung, um Größeres zu vollbríngen. Seine Tränen hingegen waren echt. Aus Augen, die starr und leblos schienen, tropfte salziges Wasser. Sein Körper kam ihm vor, wie eine alte Maschine, die zwar häufig ins Stottern gerät, aber aus Kostengründen noch nihct ausgetauscht wurde. Er hiefte dieses alte Konstrukt vom Bett zur Arbeit und wieder zurück. Für eine eigentlich non-mobile Maschine waren diese Ortswechsel mit einem hohen Energieaufwand verbunden. Er fragte sich, wie lange er noch die Kraft aufbringen werden könne. Jemand anders würde ihm da nicht weiterhelfen können.

Er redete mit Menschen, ob privat oder beruflich, doch es interessierte ihn nicht, was sie sagten. Er war gefangen von dem sanften Lächeln, das im Hintergrund das Leben der Glücklichen bewachte, dass dafür sorgte, dass man friedlich an die Welt herantreten kann. Sein eigen Hintergrund-Lächeln war einem unbeweglichen, trockenen und geradlinigen Mund gewichen, deswegen sah er es gerne bei anderen. Er konzentrierte sich nicht auf deren Worte, sondern nur auf seine Suche nach deren Hintergrund-Lächeln. Häufig fand er es. Auch wenn es sich gut anfühlte, bestärkte ihn das nur in seinem Verlangen nach einem eigenen Hintergrund-Lächeln. Aber dieses Spiel hatte er schon verloren.

Er war gescheitert an dem Einfachsten der Welt. Egal ob reiches Kind aus Amerika, hungernder Junge aus Afrika oder Eskimonachwuchs, jedem Sohn erzählt man, dass er sich später selbst um seine Familie kümmern muss. Doch er schaffte es nicht. Er hatte keine Familie. Er war Oberhaupt von sich selbst geworden. Ein einsamer, verbitterter Versager war er geworden. Er kam sich schuldig vor, machte sich Vorwürfe und schämte sich vor seinen toten Vorfahren, die ihre DNA durch ihn gerne hätten weitergegeben gesehen. Dieser einfache Auftrag, den wohl jedes Seiende auszuführen hat, der zur Existenzwahrung beiträgt, vernichtete ihn.

Für alle war es selbstverständlich ein Ganzes zu sein. Sie schätzten die Leute, die es nicht waren zwar gering, doch verspürten sie auch Mitleid. War doch die Erfüllung dieser Aufgabe elementar zum glücklich sein und konnten sie sich teilweise vorstellen, wie es sich als ewig Zerbrochens anfühlen musste. Als Zebrochenes weiß man, dass man nur noch eine bestimmte Zeit durchhalten kann, das gibt Zuversicht. Das Ende ist absehbar. Als Ganzes fühlt es sich so an als wäre die eigene Existenz so vollkommen, dass sie in die gut behütete Ewigkeit aufgenommen wird, in der alles Gute, dass das Universum hervorbrachte, ruht. Eine Art Himmel. Die Hölle war dementsprechend das, was sich innerhalb des Zeitgefüges abspielte. Um ihr zu entkommen, musste man Gutes aus seiner Existenz machen und das funktionierte nur als Ganzes.

Seine Seele war kalt. Zwar konnte er sich Kontakt kaufen, aber das funktíonierte nur oberflächlich, sein Innerstes blieb unberührt. Die Ganzheit war für ihn unerreichbar geworden und er musste sich damit abfinden. Als einziger Halber zwischen lauter Ganzen war das Leben schwer und einsam. Manchmal wagte er zu hoffen seine andere Hälfte wieder zu finden, aber er hoffte immer seltener. Mit nur einem Bein kann man leicht umgeschubst werden. Seine Hälfte in Balance zu halten war schwierig. Er blieb vorsichtig.

Ein Künstler ohne Inspiration, ein Sportler ohne Ehrgeiz, ein Körper ohne Leben, das war er und er musste es akzeptieren.

Er redete immer seltener mit Menschen, dafür beobachtete er sie umso häufiger. Er stellte sich vor wie es wäre als Ganzes zu leben. Er stellte sich vor, wie es wäre und über irgendwelche Belanglosigkeiten, die zu Problemen werden, weil es sonst keine gäbe, zu plaudern. Er stellte sich vor einen Film anzuschauen ohne dabei zu versuchen seine fehlende Hälfte in der Mattscheibe wieder zu erkennen. Sondern wissend, dass seine zweite Hälfte neben ihm sitzt, er entspannen konnte. Er stellte sich vor wie es sein musste zusammen mit seiner warmen, leise atmenden und friedlich schlummernden Hälfte einzuschlafen. Er stellte sich vor für seine zweite Hälfte zu arbeiten. Für der Ewigkeit Glück. Für den Himmel. Für sich. Für sein Hintergrund-Lächeln. Er stellte sich vor als Ganzes durch die Stadt zu laufen. Er stellte sich vor auf seine andere Hälfte aufzupassen und sie vor Kälte und Finsternis zu schützen. Er suchte schon oft Hilfe, doch ein Zerbrochenes wieder ganz zu machen, konnten sie nicht. Nicht in seinem Fall.

Mit jedem Atemzug wurde sein Puls schneller und mit jedem Herzschlag schmerzte es immer heftiger. Er musste irgendwie ganz werden, glaubte er, sonst könne er nicht mehr lang durchhalten. Wenn er nur einschlfen könnte bis sein Lebensgeist aus seinem zerbrochenen Körper empor steigt, dann wäre es zu Ende, wär er am Ziel angelangt. Nicht als Erster, nicht als Schnellster und auch nicht als Bester, aber zumindest als Erlöster. Seine Teile könnten loslassen, zerfallen, auseinander gehen und wo anders ihr Glück (ver)suchen. Sie wären befreit von dem zwanghaften Zúsammenhalten, bekämen eine neue Chance sich in etwas Ganzem zu verewigen. Er schuldete dies seinen Bestandteilen, die den schwer angeschlagenen Körper noch immer auf einem Bein trugen, ganz ohne Resignation, der Aussichtslosigkeit zum Trotz. Sie waren von dem grauen Schleier über seine noch übrige Hälfte unbeeindruckt. Sie ließen ihn weiter atmen und essen. Sie waren von dem wilden Verlangen nach Überleben beseelt. Dafür müsste er sich dankbar erweisen und sie anerkennend von ihrer schweren Last befreien. Doch er konnte es nicht, denn seine Taten waren schlicht und einfach. Er wollte Veränderung, doch konnte sie nicht bewirken. Außer triebbefriedigenden Momenten gab es nichts, das ihn lebensfähig machte. Aber das reichte.

Er dachte er müsste verbluten, als er in zwei gerissen wurde. Doch war es eine vollkommene Hälfte, die in ihrer Einsamkeit und Trauer zu perfekt war, als dass sie hätte untergehen können. Er wurde so präzisse zertrennt, wie nicht einmal der beste Chirurg mit dem schärfsten Messer einen menschlichen Körper zertrennen konnte. Seine Trauer war vollkommen. Sie war ehrlich und authentisch, denn sie zerfraß ihn. Wahres musste bestehen bleiben auch wenn es schlecht war. Schlechtes  musste, um dem Guten falsche Exklusivität zu verleihen, fortbestehen und umso greifbarer und echter der Schmerz des Halben umso besser für die Ganzen. seine Hälfte wurde dem Wohl der Ganzen geopfert. Er war wie Jesus, nur ohne Dank für seine Aufgabe zu ernten.

Es war ein sonniger Tag, die heißen Temperaturen ließen Urlaubsfeeling aufkommen. Er wünschte, er könnte als Ganzes in den Urlaub fahren. Mit seiner anderen Hälfte die Welt sehen, Erfahrungen sammeln, mit ihr reden, doch alleine will er nicht in den Urlaub. Er musste seinen Schmerz nicht auch noch in ein fremdes Land übertragen. Einkaufen war für ihn zur Qual geworden. Überall worben sie mit der Schmackhaftigkeit ihrer Produkte. Ihm war das egal. Er aß, um nicht zu verhungern, der Geschmack interessierte ihn nicht, schließlich kochte er sowieso nur für eine Hälfte. Irgendwo bei irgendwas der Beste zu sein, war ihm gleichgültig geworden, denn ihm fehlte eine Hälfte, die auf ihn stolz sein konnte, vor der er sich beweisen musste, für die er Held und Vorbild war. So konnte seine verbliebene Hälfte das sein, was sie wirklich war: ein trostloses Konstrukt aus Fleisch, Knochen und Blut. Nicht mehr, aber zunehmend weniger. Eine glückliche Vollendung des Seins kann nur als Gnazes erfahren werden. Als eine Hälfte wird immer etwas fehlen. Er bestaunte all die Ganzen, wie sie mit ihrer ganz persönlichen, absoluten Vollkommenheit lieblich und kindlich-naiv umgingen, wie sie anstelle eines grauen Schleiers ein farbenfrohes Lächeln sie umgab. Er wäre so gerne ganz gewesen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.04.2014. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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