Alte Glut

Von einem Moment auf den anderen setzt mein Herz aus - ich erstarre.

Er hebt die Hand - das Gesicht ärgerverzerrt, genervt - zum Schlag in einer halben Drehung seines Oberkörpers.

Ich habe noch einen Wimpernschlag Zeit, um zu reagieren und schalte auf Intuition.

Noch bevor die Hand, die Faust ihr Ziel erreicht, fällt mein Arm in seinen und stoppt ihn, bevor er seinen kleinen Sohn treffen kann.

Eine sehr lange Schrecksekunde vergeht, in der sich der komplette folgende Verlauf unseres ... tete á tete .... entscheidet.

Ich kann es sehen, spüren, bis in mein Blut - er wird schlagen - auf jeden Fall. Eine Aura von Gewalt verzerrt den Raum.

Er schreit nun mich an - sein Sohn ist vorerst aus der Schußlinie. Ich habe Angst, aber VERFLUCHT SOLL ICH SEIN, wenn ich auch nur einen gottverdammten Millimeter zurückweiche.  NEIN - NICHT IN MEINER GEGENWART SCHLÄGST DU EIN WEHRLOSES KIND!!!

Und wieder scheinbar ohne Zeitverzögerung eine Veränderung - seine Fratze verändert sich - wird zu einem Gesicht aus meiner Vergangenheit - allzu vertraut, allzu gefürchtet und gehasst - ich verliere eine Sekunde Reaktion, und seine Hand trifft ohne Abwehr meine Wange, mein Auge, seine Faust meine Schulter. Meine Brille zerklirrt auf dem Asphalt, und erst dieses Geräusch bringt mich wieder in die Gegenwart.

Ich wehre mich, stoße ihn von mir, nun unterstützt durch einen fremden Mann, der den "liebevollen" Vater am Arm packt und von mir wegzieht, während seine Begleitung die Polizei ruft.

Menschenmenge, Protokoll, Anzeige, Unterschrift.
Ich nehme alles wahr wie durch einen Vorhang, denn mein Geist ist in der Vergangenheit und ich fühle, wie die alte Welle mit aller Macht über mich hereinbricht.
Alte Glut.
Eine Wut, ein Gleißen, das ich ich längst vergessen hatte.
Nein, sie ist noch da, löst Entsetzen und Trauer in mir aus.
Damals war niemand da, mich zu verteidigen.
Ich stand allein.
Ich überlebte.

Und werde - wie ich nun seit heute weiß - dieses Glimmen immer in mir tragen.