Benjamin L.

Über dem Kalymnos

Es ist Sonntag der 4. Mai kurz vor 20.15 Uhr.
Ein Mann - oder besser gesagt ein junger Mann im Alter von 22 sitz in seinem Zimmer in einem ausrangierten R2 Autositz. Er genießt gerade die letzten Sonnenstrahlen. Zu spät. Gerade in diesem Moment verschwinden sie hinter einem Haus.
Nicht nur er, sondern auch die etwa 7 Gäste des griechischen Restaurants Kalymnos, die auf dem Bürgersteig vor der Gaststätte sitzen, müssen sich nun etwa 10 Stunden gedulden bis sie erneut in den Genuss der Sonne kommen. Und das ist keineswegs gewiss. Denn sowohl der junge Mann, der einen Stock über den Gästen in seinem Autosessel döst, als auch die 7 Gäste, befinden sich nicht auf einer griechischen Insel, sondern in einer der regenreichsten Städte eines Landes, dass nicht gerade für seine zahlreichen Sonnentage bekannt ist. Der junge Mann hat die Augen geschlossen und neben ihm liegt ein in gelbe Pappe gebundener Reader, den er zur Seite gelegt hat. Der Eigentümer des griechischen Restaurants und der junge Mann kennen sich flüchtig, da sie das selbe Haus bewohnen.
Der Eigentümer wird von den Leuten im Viertel Anthonies genannt, und da im griechischen ´th´ wie ´d´ ausgesprochen wird - erinnert sein Name an einen der zahlreichen griechischen Götter. Es bleibt jedoch beim Namen - den sein Körper entspricht nicht dem, was man sich unter ´Adonis´ vorstellt. Seine Augen blitzen verkniffen aus einem runden bärtigen Gesicht, dass fest auf einem runden Körper montiert ist. Bei schönem Wetter sitz er immer auf einer azur-blauen Bank rechts neben dem Eingang und hat die Strasse fest im Blick.
Der junge Mann trinkt ohne dabei die Augen zu öffnen einen Schluck aus einer Wasserflasche. Vor ihm auf dem Fensterbrett steht ein leerer Teller - und da heute Sonntag ist - ist es kein Kunstwerk zu erraten, was er gerade gegessen hat. Vorausgesetzt man kennt den jungen Mann und es gibt eine handvoll Freunde, die das von sich behaupten können. Er hat gerade die 23 gegessen, den am Sonntag hat er keine große Lust zu kochen und direkt gegenüber des Kalymnos befindet sich ein Chinesischer Imbiss. Eigentlich mag er es nicht besonders Nummeressen zu bestellen - aber Chinesische Imbisse neigen dazu mit kleinsten Variationen in der Zusammenstellung der Zutaten die Anzahl ihrer Gerichte in den dreistelligen Bereich zu steigern. Deshalb hat er sich damit abgefunden, dass es geschmacklich keinen Unterschied macht, ob er nun Bami Goreng mit Hühnschenfleisch oder eben eine 23 bestellt.
Die Strasse verbreitet eine entspannte Atmosphäre. Die Häuser sind alt und bunt. Die Strasse verbreitet den Sound einer Strasse und es ist genau die richtige Mischung an Stimmen, Autorauschen und Vögel zwitschern, die an seinen Ohren ankommt und sich dort mit der Musik seiner Stereoanlage vermischt.
Sein Gesicht ist schön, aber seine Lippen sind etwas stärker aufeinander gepresst, als es eigentlich nötig wäre. Seine Gesichtszüge verraten eine gewisse Anspannung.
Der Grund für seine Anspannung steht im hinteren Ende des Zimmers und kann jeden Moment klingeln. Er erwartet einen Anruf von seiner Freundin, besser gesagt seiner Exfreundin. Er ist etwas verwirrt. Seine Exfreundin hat die Trennung ohne ihn gemacht. Er hat davon erfahren, ohne das ihm jemand etwas gesagt hat. Sie hat es für sich entschlossen, weil es besser für sie sei. Und für ihn hat sie es auch entschlossen, und er hat ehrlich gesagt keine Ahnung, ob es besser für ihn ist. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass er keine Ahnung hat, warum sie sich überhaupt von ihm getrennt hat. Aber damit steht er nicht alleine. Unter den Gästen im Kalymnos befinden sich genau zwei Personen, die auch keine Ahnung haben, warum sich ihre Freundin von ihnen getrennt hat. Drei wissen gerade nicht so genau, warum ihre Freundin in letzter Zeit nicht mehr so oft Lust auf Sex hat. Einer überlegt gerade, ob er noch einen griechischen Mocca bestellen soll. Die restlichen zwei Personen machen sich gerade keine Gedanken. Sie gehören zu den wenigen Menschen, die nicht immer an etwas Denken müssen. Es sind Menschen die am Abend unter drei Minuten brauchen, um einzuschlafen.
Der junge Mann hat letzte Nacht drei Stunden gebraucht um einzuschlafen.
Eigentlich möchte er sich ja gar nicht leid tun, aber er tut sich nun mal so schrecklich gerne leid. Jedenfalls tut er sich lieber Leid, als dass er eine Beziehung beendet. Sich leid tun ist nicht das Schlechteste. Da er bis dato noch nie eine Beziehung beendet hat, hat er sich bis jetzt meistens selber leid getan. Das ist ein enormer Vorteil, weil einem dann kein Anderer Leid tun muss. Man tut sich einfach selber leid. "Ein etwas egoistischer Gedanke", möchte man im zuflüstern. Aber er wird alleine zu dieser Erkenntnis kommen.
Während er so in der Sonne döst und überlegt, was er mit der neu gewonnenen Freizeit anfangen soll - klingelt das Telefon. Seine Freundin bzw. Exfreundin - die beiden hatten noch keine wirkliche Gelegenheit die Feinheiten zu klären - befindet sich am anderen Ende der Welt.
Und da die Beiden sich seit circa einem Jahr nicht mehr gesehen haben, ist zu befürchten, dass sie sich verändert hat.
Da er noch etwas unbeholfen mit der neuen Situation umgeht, hat er gerade an ein französisches Mädchen gedacht. Sie säuselt ihm gerade etwas von ihrem süßen französischen Akzent in die Ohren. Sie streichelt seinen Oberkörper, schmiegt ihre Lippen an seine Wangen --- --- Ring. Vorbei.
Er ahnt was jetzt auf ihn zukommt.
Er ahnte auch was auf ihn zukam, als er den letzten Anruf vor etwa drei Monaten erhalten hat.
Das macht es ihm nicht gerade einfach sich zu freuen - aber so ein bisschen freut er sich schon.
` Ich möchte mich von Deutschland distanzieren .`
` Ich habe gemerkt das mir körperliche Liebe nicht so wichtig ist .`
` Ich halte es nur für fair Dich darüber zu informieren .`
Sätze die ihm Angst machen, weil er nicht mit ihnen umgehen kann. Ihm ist körperliche Liebe sehr wichtig und er vermisst sie - und sie vermisst er auch. Er findet es auch fair darüber informiert zu werden, aber manchmal wäre es ihm lieber etwas schlechter informiert zu sein. Auf dem Weg zum Telefon beschleicht ihn eine unangenehme Mischung aus Nervosität, Melancholie und Wut.
Vier der Gäste finden körperliche Liebe sehr wichtig. Als sie merkten, dass ihr Partner nicht mehr so oft Lust hatte, quälten sie Selbstzweifel. Einer von ihnen kaufte sich in einer Buchhandlung ein Fachbuch. Geschrieben von einer Frau, die sich sehr lange und ernsthaft mit diesem Thema beschäftigt hat. Er hat es aufmerksam gelesen und sich furchtbar geschämt, als ihn seine Freundin beim Lesen erwischt hat. Der junge Mann hat dieses Buch nicht gelesen, weil er solche Bücher hasst. Und noch mehr hasst er Leute, die solche Bücher lesen und sagen, dass sie durch diese Bücher zu neuen Menschen geworden sind. Als er fünfzehn war, hat er mal auf einem Stein an einem Bach ein Buch gelesen. Den ganzen Tag. Und er hat Zigaretten geraucht. Er kann sich noch genau an das Gefühl erinnern. Das Buch hat ihm geholfen, obwohl er gar keine Probleme hatte. Jedenfalls kann er sich an kein Problem mehr erinnern.
Anthonis zündet sich eine Zigarette an. Er vermisst seine Frau. Und ganz besonders vermisst er seine Tochter. Wenn er auf seiner Bank sitzt, denkt er oft an sie. Und an die weißen Häuser auf Kalymnos mit ihren blauen Fenstern.
Nach dem Gespräch mit seiner Exfreundin - die Feinheiten sind jetzt geklärt - geht es dem jungen Mann gut. Er weiß, dass dieser Zustand nicht lange anhält und weil er das weiß, geht es ihm schon nicht mehr so gut. Er konnte ihr nicht erklären, was er ihr erklären wollte. Aber das kann auch daran liegen, dass er selber nicht so genau weiß, was er eigentlich erklären will.
Von einem der Tische erschallt ein Lacher. Es ist der Gast, der sich das Buch gekauft hat.
"Aber vielleicht hat sie ja trotzdem gemerkt was ich ihr sagen wollte", denkt der junge Mann. Jetzt geht er ans Fenster. An den Tischen leuchten Kerzen.
Er tastet mit den Zähnen seine Unterlippe ab, als ob er sie massieren wollte.
Einige der Gäste sind bereits gegangen.
Er ist froh nicht alleine zu sein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.05.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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